Pharmakotherapie bei Jugendlichen mit Adipositas
Autoren:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Daniel Weghuber
Dr. Julian Gomahr
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde
Uniklinikum Salzburg
E-Mail: d.weghuber@salk.at
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Lange Zeit spielte die Pharmakotherapie bei der Behandlung von Adipositas im Kindes und Jugendalter keine Rolle. Mit dem Einzug der GLP-1-Analoga ergibt sich eine völlig neue Perspektive – doch werfen neue Möglichkeiten auch neue Fragen auf.
Keypoints
-
Adipositas im Kindesalter hat eine hohe Prävalenz und ist mit einer hohen individuellen Morbiditätslast verbunden.
-
GLP-1-Analoga sind eine wirksame und sichere Therapieoption für Jugendliche mit Adipositas.
-
Neue Medikamente werfen neue Fragen nach Therapiedauer, Verteilung/Priorisierung und nach dem Aufbau von integrativen bzw. multimodalen Konzepten für die Zukunft auf.
Im Kindes- und Jugendalter spricht man ab einem Body-Mass-Index (BMI) über der 97. altersentsprechenden BMI-Perzentile bzw. ab +2 Standardabweichungen vom entsprechenden BMI-Mittelwert (BMI-SD) von Adipositas.1Als chronisch-progressive Erkrankung geht Adipositas mit zahlreichen Komorbiditäten wie metabolisch-assoziierter Fettlebererkrankung, Hypertension, Dyslipidämie, obstruktivem Schlafapnoesyndrom sowie der Beeinträchtigung der mentalen Gesundheit einher.2,3 Somit führt die Adipositas neben einer hohen individuellen Morbidität auch zu einer großen ökonomischen Belastung.
Der letzten repräsentativen Erhebung der Childhood Obesity Surveillance Initiative (COSI) der europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2020 zufolge leiden in Österreich 25% der Mädchen und 26% der Knaben an Übergewicht oder Adipositas. Die Daten wurden bei Volksschulkindern (7–11 Jahre) erhoben und stammen noch aus der Zeit vor der Covid-19-Pandemie.4 Nachdem sich die Prävalenz zuletzt nach Jahrzehnten des Anstiegs stabilisiert hatte, war während bzw. nach der Pandemie ein Anstieg der Adipositasprävalenz zu beobachten.5–7Damit einhergehend ist zukünftig mit einem noch größeren Versorgungsbedarf zu rechnen.
Lebensstilmodifikation mit Struktur
Die multimodale Therapie umfasst in erster Linie eine Lebensstilmodifikation (LSM) vor allem in den Bereichen Ernährung und körperliche Aktivität, meist im Rahmen eines integrativen ambulanten oder stationären Programmes. Gemäß einem Statement der US Preventive Service Task Force kann eine Reduktion der BMI-SD um 0,2 als klinisch signifikant angesehen werden. Dies entspricht in etwa einer Gewichtsreduktion um 5%. Wird eine zusätzliche Gewichtszunahme verhindert, ist es ebenso als relevanter Erfolg zu werten.8
Eine Cochrane-Metaanalyse von 37 Studien bei Kindern von 6 bis 11 Jahren konnte durch ambulante LSM eine Reduktion der BMI-SD um 0,06 zeigen.9 Eine Analyse zur Effektivität der LSM an 129 Behandlungseinrichtungen in der DACH-Region hob hervor, dass die klinische Wirksamkeit nur dann bei einem substanziellen Anteil der Teilnehmenden erreicht werden kann, wenn das Betreuungs-/Schulungskonzept klaren Strukturvorgaben folgt.10 Erfreulicherweise wird seitens der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) an einem entsprechenden Angebot („Projekt EasyKids“) in Ergänzung zu bestehenden Strukturen in ganz Österreich gearbeitet.
GLP-1-Analoga bei Jugendlichen
Da die bariatrische Chirurgie als therapeutische Option bei Kindern und Jugendlichen nur für ausgewählte Subgruppen und ältere Jugendliche einen Stellenwert hat, waren lange Zeit medikamentöse Therapiemöglichkeiten dringend gefragt, um die therapeutische Lücke zu schließen. Mit der Zulassung von Liraglutid bei Jugendlichen über 12 Jahre mit Adipositas im Jahr 2021 hat die Gruppe der „Glucagon-like peptide-1“-Analoga (GLP-1-Analoga) Einzug in die Therapie von Adipositas bei Jugendlichen gefunden. GLP-1 wird von enteroendokrinen Zellen gebildet und hat seine Rezeptoren in verschiedenen Organsystemen, wie u.a. in Gehirn, Pankreas und dem GI-Trakt. Hier nimmt es Einfluss auf Appetit und Sättigung, Insulinsekretion und Magenentleerung.11
Liraglutid, ein 1x täglich subkutan verabreichter Wirkstoff, hat nach einem Jahr zusammen mit LSM in der Zulassungsstudie zu einer mittleren Gewichtsreduktion von 5% bzw. einer Reduktion des BMI-SD um 0,22 geführt.12
Ein weiteres Medikament derselben Wirkstoffklasse hat in der STEP-TEENS-Studie bei Jugendlichen über 12 Jahre noch bessere Ergebnisse geliefert. Zusammen mit LSM hat eine 1x wöchentlichverabreichte Gabe von 2,4 mg Semaglutid nach 68 Wochen zu einer BMI-Reduktion von 17,4% (BMI-SD: –1,0) geführt (Abb. 1).13 In der „Run-in“-Phase bestand dabei eine alleinige LSM-Intervention von 12 Wochen vor Randomisierung. Verglichen mit Placebo war der Anteil der Jugendlichen, die mehr als 5%, 10%, 15% oder 20% Gewichtsreduktion verzeichnen konnten, in der Interventionsgruppe größer.14
Abb. 1: STEP-TEENS-Studie: Veränderung des BMI vom Ausgangswert (nach Weghuber D et al. 2022)14
Knapp 45% der Teilnehmenden erfüllten am Ende der Intervention die Adipositaskriterien nicht mehr und waren übergewichtig bzw. normalgewichtig. 11% aus der Kategorie Adipositas Grad III (entspricht BMI >140% von der 95.Perzentile) gelang es ebenfalls, Übergewicht oder Normalgewicht zu erlangen.13 In den Subgruppenanalysen profitierten vor allem Mädchen und jüngere Teilnehmende (12–15 Jahre) von Semaglutid. Neben der Gewichtsreduktion verbesserten sich auch zahlreiche sekundäre Endpunkte. In der Interventionsgruppe kam es zusätzlich zu einer Reduktion von Taillenumfang, HbA1c, Gesamtcholesterin, LDL-Cholesterin, VLDL-Cholesterin, von Triglyzeriden und der Alanin-Aminotransferase (ALT).14
Die häufigsten Nebenwirkungen sind milde bis moderate gastrointestinale Beschwerden (Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö), die meist einige Tage dauern und vor allem während der Aufdosierungsphase in den ersten Wochen bis Monaten auftreten. Die Anzahl der Abbrüche aufgrund von Nebenwirkungen und der schweren Nebenwirkungen warin Verum- und Placebogruppe in etwa gleich hoch (5% vs. 4% bzw., 11% vs. 9%). Insgesamt wurden von 79% bei Semaglutid und von 82% bei Placebo Nebenwirkungen angegeben.14
EMA-Zulassung von Semaglutid für Jugendliche
Semaglutid wurde schließlich 2023 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) für Jugendliche ab 12 Jahren mit Adipositas und über 60kg zugelassen und steht Jugendlichen als zweites Medikament in der Indikation Adipositas zur Verfügung. Mit diesen neuen Therapiemöglichkeiten wurde ein Meilenstein in der Adipositastherapie im Jugendalter gesetzt und die große Lücke zwischen der alleinigen Lebensstilintervention und der bariatrisch-metabolischen Chirurgie geschlossen.
Ausblick
Praxistipp
Die medikamentöse Therapie von Jugendlichen mit Adipositas setzt zwingend eine strukturierte und qualitätsgesicherte Lebensstilbegleitung voraus.Aufgrund der großen Effektivität und des nach heutigem Wissensstand günstigen Sicherheitsprofils wird die Pharmakotherapie eine immer größere Rolle in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas spielen. Dennoch sind die Erfahrungen, insbesondere Wirksamkeit und Therapieadhärenz im klinischen Alltag sowie die langfristige Sicherheit betreffend noch eingeschränkt. Die Indikationssstellung und Fallführung sollte zunächst durch pädiatrische Adipositasteams erfolgen. Bemerkenswert ist auch, dass das Ansprechen auf Semaglutid in Bezug auf die Gewichtsreduktion, im gleichen Ausmaß wie bei Liraglutid, sehr heterogen war. Wenngleich die durchschnittliche BMI- und Gewichtsreduktion ca. 17% betrug, wurde bei etwa einem Viertel der Studienteilnehmenden eine Gewichtsreduktion von <5% und bei 40% der Jugendlichen in der Interventionsgruppe eine Gewichtsreduktion von über 20% gemessen. Bei beiden Medikamenten kam es nach dem Absetzen zu einer erneuten Gewichtszunahme.12,13 Auch der Einsatz bei jüngeren Kindern (6–12 Jahre) wird aktuell in Studien untersucht.
Offene Fragen
Aufgrund dieser Unterschiede und besonders auch in Hinblick auf die Verfügbarkeit dieser neuen Medikamente in Zusammenhang mit Angebot und Nachfrage wirft dies weitere Fragen auf:
-
Welche Vorgaben an die begleitende LSM sind in Hinblick auf Intensität, Frequenz und Inhalte zukünftig sinnvoll?
-
Wie lange, wenn überhaupt, muss eine LSM nachgewiesen werden, bis eine pharmakologische Therapie initiiert werden darf?
-
Sollte es bei mangelnder Verfügbarkeit der Medikation eine Priorisierung von Patienten mit bereits bestehenden ausgeprägten Komorbiditäten (metabolisch, orthopädisch, psychisch) geben?
-
Wie geht man mit einem möglicherweise lebenslangen Bedarf an diesen Medikamenten um? Welche Strategien sind im Hinblick auf einen intermittierenden Einsatz sinnvoll?
Die Klärung dieser Fragen wird gemeinsam mit neuen Pharmakotherapien und integrativen LSM-Konzepten den Weg für eine effiziente und zeitgerechte Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter ebnen. Die komplexe Thematik der Kostenerstattung durch die Sozialversicherungsträger muss jedoch noch geklärt werden.
Literatur:
1 de Onis M et al.: Development of a WHO growth reference for school-aged children and adolescents. Bull World Health Organ 2007; 85(9): 660-7 2 Bray GA et al.: Obesity: a chronic relapsing progressive disease process. A position statement of the World Obesity Federation. Obes Rev 2017; 18(7): 715-23 3 Small L, Aplasca A: Child obesity and mental health: a complex interaction. Child Adolesc Psychiatr Clin N Am 2016; 25(2): 269-82 4 WHO: Report on the fifth round of data collection, 2018-2020: WHO European COSI. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe 2022 5 NCD Risk Factor Collaboration: Worldwide trends in body-mass index, underweight, overweight, and obesity from 1975 to 2016: a pooled analysis of 2416 population-based measurement studies in 128,9 million children, adolescents, and adults. Lancet 2017; 390(10113): 2627-42 6 Vogel M et al.: Age- and weight group-specific weight gain patterns in children and adolescents during the 15 years before and during the Covid-19 pandemic. Int J Obes 2022; 46(1): 144-52 7 Anderson LN et al.: Obesity and weight change during the Covid-19 pandemic in children and adults: A systematic review and meta-analysis. Obes Rev 2023; 24(5): e13550 8 US Preventive Services Task Force: Screening for obesity in children and adolescents: US Preventive Services Task Force recommendation statement. JAMA 2017; 317(23): 2417-26 9 Mead E et al.: Diet, physical activity and behavioural interventions for the treatment of overweight or obese children from the age of 6 to 11 years. Cochrane Database Syst Rev 2017; 6(6): CD012651 10 Reinehr T et al.: Two-year follow-up in 21784 overweight children and adolescents with lifestyle intervention. Obesity (Silver Spring) 2009; 17(6): 1196-9 11 Drucker DJ: Mechanisms of action and therapeutic application of glucagon-like peptide-1. Cell Metab 2018; 27(4): 740-56 12 Kelly AS et al.: A randomized, controlled trial of Liraglutide for adolescents with obesity. N Engl J Med 2020; 382(22): 2117-2813 Weghuber D et al.: Once-weekly Semaglutide in adolescents with obesity. N Engl J Med 2022; 387(24): 2245-5714 Kelly AS et al.: Reducing BMI below the obesity threshold in adolescents treated with once-weekly subcutaneous Semaglutide 2,4 mg. Obesity (Silver Spring). 2023; 31(8): 2139-49
Das könnte Sie auch interessieren:
Diabetes erhöht das Sturzrisiko deutlich
Eine dänische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl Patienten mit Typ-1- als auch Patienten mit Typ-2-Diabetes öfter stürzen und häufiger Frakturen erleiden als Menschen aus einer ...
Notfall Diabetische Ketoazidose: Leitliniengerechtes Handeln kann Leben retten
Akute Stoffwechselentgleisungen können lebensbedrohlich sein und erfordern eine rasche und leitliniengerechte Diagnostik und Therapie. Pathogenese, Klinik, typische Befunde und die ...
Wie oft wird Diabetes nicht oder spät erkannt?
Im Allgemeinen wird von einer hohen Dunkelziffer an Personen mit undiagnostiziertem Typ-2-Diabetes ausgegangen. Ein Teil davon sind von Ärzten „übersehene“ Fälle. Eine von der University ...