Endometriose gemeinsam erkennen
Von Diagnose bis Therapie ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Fachärzt:innen und anderen Gesundheitsprofessionen unerlässlich, um Patientinnen mit Endometriose adäquat zu versorgen. Das Erkennen klinisch spezifischer Zeichen im Rahmen einer physiotherapeutischen Behandlung und die professionsübergreifende Zusammenarbeit können zur Reduktion der Diagnosezeit beitragen.
Endometriose
Endometriose ist eine häufig auftretende chronisch-entzündliche Erkrankung, welche durch das ektopische Wachstum Endometrium-ähnlicher Zellen charakterisiert ist. Diese können für starke Schmerzzustände sowie körperliche und soziale Einschränkungen verantwortlich sein.1 Als Leitsymptome werden Dysmenorrhö, chronische Unterbauchschmerzen, zyklisch auftretende Störungen von Blase und Darm sowie Fertilitätsstörungen beschrieben.2,3 Laut aktueller Datenlage sind zwischen 10 und 15% der Frauen im gebärfähigen Alter von Endometriose betroffen, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist.4,5
Diagnoseverzögerung
Der Zeitraum von Einsatz der Symptome bis zur Diagnose variiert stark, weshalb das Krankheitsbild, vor allem bei Schmerzpatientinnen, oft jahrelang unerkannt bleibt. Bei Kinderwunschpatientinnen sind es durchschnittlich drei Jahre, bei Schmerzpatientinnen sieben bis zehn Jahre, bis die Diagnose gestellt wird.2,4
Dieser deutliche Delay in der Diagnosestellung lässt sich auf medizinische sowie psychosoziale Ursachen zurückführen. Das Normalisieren des Schmerzes durch das soziale Umfeld und Fachpersonal sowie vorangegangene Fehldiagnosen sind hauptursächlich für die Verzögerung.6–8
Das hohe Risiko für Fehldiagnosen liegt unter anderem an der vielfältigen Symptomatik. Je nach Lokalisation der Läsionen entstehen somatische und/oder viszerale Schmerzzustände.2 So zeigt beispielsweise eine breit aufgestellte Analyse, dass 75% aller Patientinnen zumindest eine vorhergehende Fehldiagnose erhalten haben. Als häufige Fehldiagnosen werden das Reizdarmsyndrom, die Adnexitis („pelvic inflammatory disease“, PID) und der „chronic pelvic pain“ (CPP) gelistet.8
Durch Infiltrationen in umliegendes Gewebe, muskuläre Dysbalancen oder aufgrund eines schmerzbedingt abgeänderten Bewegungsverhaltens zeigen sich auch Überschneidungen in den muskuloskelettalen Bereich. Vor allem unspezifische Symptome führen zur Konsultation verschiedener Fachärzt:innen, was die Diagnosestellung weiter verzögert.2
Es entsteht ein Kreislauf aus Fehldiagnosen, wiederholten Arztbesuchen und anhaltender Unklarheit, welcher psychische Belastungen zur Folge haben kann. Jede Fehldiagnose geht mit weiterer Verzögerung einer adäquaten Behandlung einher. Das Gefühl von Hilflosigkeit oder Misstrauen in das medizinische System führen zu Stress, Ängsten und Depressionen. Diese und weitere psychosoziale Faktoren sind Multiplikatoren, welche Schmerzen negativ beeinflussen können.9
Muskuloskelettale Beschwerden bei Endometriose
Patientinnen mit Endometriose zeigen häufig Überschneidungen in den muskuloskelettalen Bereich und werden beispielsweise mit vorläufig unspezifischen Rücken- oder Beckenschmerzen in der Physiotherapie vorstellig.10 Obwohl diese Symptome ebenfalls bei Frauen ohne Endometriose im Zeitraum der Menstruation verzeichenbar sind, ist die Prävalenz bei Endometriosepatientinnen höher und hält meist, über den Zeitraum der Regelblutung hinaus, den ganzen Zyklus an.11
Muskuloskelettale Schmerzen bei Endometriose können durch strukturelle Auslöser, zentrale Mechanismen oder neuronale Verbindungen bedingt sein.
Strukturelle Auslöser
Endometrioseherde können intrauterin und extrauterin auftreten und verursachen so, je nach Lokalisation, unterschiedliche Beschwerden.2 Infiltrationen in Wirbelkörper, Befall der sakrouterinen Ligamente oder Verwachsungen im Douglas-Raum können für Schmerzen im lumbopelvinen Bereich verantwortlich sein.12,13
Zentrale Schmerzmechanismen
Wiederholter, nicht adäquat behandelterSchmerz kann zur zentralen Sensibilisierung und spinalen Hyperalgesie führen, wobei die Schmerzschwelle herabgesetzt und die Schmerzwahrnehmung so verstärkt wird, dass auch nicht schmerzhafte Reize als schmerzhaft wahrgenommen werden.2
Chronische Unterbauchschmerzen werden durch diese zentralen Mechanismen verstärkt wahrgenommen und führen zu einer reaktiven Anspannung des Beckenbodens. Muskuläre Dysbalancen können die lokale Stabilität sowie Beweglichkeit beeinflussen und tragen wesentlich zur Entwicklung von Rücken- und Beckenschmerzen bei.12
Die herabgesetzte Schmerzschwelle erhöht die Wahrscheinlichkeit einer weiteren chronischen Schmerzerkrankung, so zeigen sich Überschneidungen des CPP oder „low back pain“ (LBP) mit Endometriosepatientinnen auf Basis ihres gemeinsamen Schmerzmechanismus. Chronische Schmerzen im lumbopelvinen Bereich bei Endometriosepatientinnen sind als häufiger Indikator zentraler Sensibilisierung zu betrachten und müssen dementsprechend in Diagnose und Behandlung miteinbezogen werden.12,14,15
Referred Pain
Schmerzen können aufgrund der neuronalen Konvergenz in einem Bereich des Körpers empfunden werden, obwohl der Ursprung in einem anderen Bereich liegt. Durch das Zusammenlaufen viszerosensibler und somatosensorischer Afferenzen auf Rückenmarksebene können Unterleibsschmerzen im Sinne eines übertragenen Schmerzes Auslöser für die Schmerzen in Becken und Rücken sein.16
Differenzialdiagnose Endometriose in der Physiotherapie
Diese oftmals unspezifischen Symptome der Endometriose verleiten zu Verwechslungen des Krankheitsbildes mit muskuloskelettalen oder viszeralen Störungen.
Fallbeispiele zeigen eindeutig die Häufigkeit der Differenzialdiagnose Endometriose in der physiotherapeutischen Praxis.
Tabelle 1 gibt eine Übersicht und zeigt, dass eine erweiterte Anamnese sowie permanentes Reevaluieren des Prozesses in der Physiotherapie zur Diagnosestellung bei Patientinnen mit Endometriose beitragen können.
Tab. 1: Fallberichte von Patientinnen mit Endometriose in der physiotherapeutischen Praxis
Die Patientinnen in den Fallbeispielen hatten alle Endometriose und zeigten Besserungen der Symptomatik nach adäquater Behandlung.
Physiotherapeut:innen spielen eine zentrale Rolle im Screening und der Identifizierung potenziell gefährlicher Krankheitsbilder. Therapeut:innen mit Abschluss an einer Fachhochschule in Österreich erlernen im Zuge der Ausbildung ein tiefes medizinisches Wissen und Strategien, wie sie dieses in ihre klinischen Denkprozesse integrieren können. Mithilfe systematischer Untersuchungen und dem gezielten Erfassen von Symptomen können sie Red Flags, die auf Krankheiten wie Tumoren, Frakturen und Infektionen hinweisen, erkennen.17,18
In der Anamnese und physischen Untersuchung ist ein erweitertes Screening hinsichtlich spezifischer Krankheitsbilder, wie Endometriose, essenziell, um Patientinnen physiotherapeutisch und interprofessionell adäquat zu behandeln. Endometriose muss bei Patientinnen mit unspezifischem Rücken-/Beckenschmerz stets in Betracht gezogen werden. Physiotherapeut:innen können durch eine gezielte Anamnese und das Wissen um die Zusammenhänge zwischen muskuloskelettalen Beschwerdebildern auf Endometriose-spezifische Hinweise achten und zur schnelleren Diagnosestellung beitragen.10,13,19
Fazit
Die Reduktion der Diagnosezeit bei Endometriosepatientinnen, unabhängig von einem aktuellen Kinderwunsch, sollte in unserem Gesundheitssystem priorisiert werden. Eine interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit bei der Betreuung von Endometriosepatientinnen ist notwendig, um die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten.
Die Zusammenarbeit zwischen Physiotherapeut:innen und Fachärzt:innen der Gynäkologie sollte über eine gemeinsame Diagnosestellung hinausgehen. Die Physiotherapie kann mit aktiven und passiven Methoden unterschiedliche Symptome der Endometriose therapieren und stellt, neben der medikamentösen und operativen Therapie, eine wichtige Säule in der Endometriosebehandlung dar.
Ein gut gepflegtes Netzwerk ist vor allem im niedergelassenen Bereich entscheidend, um eine optimale Betreuung der Patientinnen zu gewährleisten.
Literatur:
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