
„Klinische Aufmerksamkeit auf Verhaltensmuster und Symptome legen“
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. Martin Langer
Klinische Abteilung für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Wien
Das Interview führte
Dr. Felicitas Witte
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Noch drei Jahre nach der Geburt können Frauen unter Depressionen leiden, wie eine aktuelle Studie zeigt.1 Die Autoren haben bestimmte Verläufe identifiziert und fordern, dass Pädiater screenen sollen. Prof. Dr. Martin Langer erklärt, warum die Studie zu kritisieren ist und warum er gegen ein generelles Screening ist.
Ein Screening auf postpartale Depressionen scheint für mehrere Jahre sinnvoll zu sein. Das lässt zumindest eine Studie von den National Institutes of Health in den Vereinigten Staaten vermuten.1 Von 4866 Müttern litt 1 von 4 noch bis zu 3 Jahre nach der Geburt unter schweren depressiven Symptomen. Die Forscher hatten 4, 12, 24 und 36 Monate post partum auf depressive Symptome gescreent. Sie identifizierten 4 Verlaufsformen: Die meisten der Frauen (74,7%) zeigten einen „Low-stable“-Verlauf mit wenigen Symptomen zu allen 4 Befragungsterminen. 8,2% der Frauen hatten einen „Low-increasing“-Verlauf mit wenigen Symptomen zu Beginn, die langsam schlimmer wurden. Der „Medium-decreasing“-Verlauf (12,6%) war charakterisiert durch initial moderate Symptome, die sich aber mit der Zeit besserten. 4,5% der Mütter wiesen einen „High-persistent“-Verlauf mit schlimmen Beschwerden zu allen Terminen auf. Die Ergebnisse seien wichtig, um Mütter mit persistierenden Symptomen zu identifizieren, so das Fazit der Autoren. So könnte beispielsweise eine kleine Gruppe von Müttern mit Beschwerden zum Zeitpunkt 4 Monate post partum ein erhöhtes Risiko haben, lang anhaltende, deutliche depressive Beschwerden zu haben, die auch noch nach 3 Jahren andauern können. Andere Mütter wiederum könnten zwar ziemliche Beschwerden nach 4 Monaten haben, die sich aber rasch bessern. Zwei Untersuchungen im Abstand von mindestens einigen Monaten seien wichtig, um den individuellen Verlauf vorherzusagen, so die Autoren.
Zwei Aspekte an der Studie lassen sich vor allem kritisieren: Zum einen haben die Autoren die Symptome zum ersten Mal erst 4 Monate nach der Geburt erfasst. So lässt sich überhaupt nicht sagen, ob zum Beispiel eine Frau mit milden Symptomen direkt nach der Geburt nicht doch schon deutliche Symptome zeigte oder ob es anders herum einer Frau, die 4 Monate post partum starke Symptome hat, zum Zeitpunkt direkt nach der Geburt noch sehr gut ging. Zum anderen verwendeten die Autoren nur eine abgespeckte Version der EPDS, mit 5 statt 10 Fragen. „Das habe ich überhaupt nicht verstanden“, sagt Anke Rohde, emeritierte Professorin für gynäkologische Psychosomatik an der Universitätsklinik Bonn. „Selbst der klassische EPDS dauert nicht lange und in der abgespeckten Version fehlen wichtige Fragen, zum Beispiel, ob die Frau Suizidgedanken hat.“
Herr Professor Langer, haben Sie die Ergebnisse der Studie überrascht?
M. Langer: Nein. Die Untersuchung bestätigt das, was wir aus früheren Studien wissen. Es gibt einen „Cluster“ von Risikofaktoren für die postpartale Depression und dies wurde von den Autoren nur neuerlich nachgewiesen.
Neu sind doch aber die vier unterschiedlichen Verläufe, die die Kollegen beschrieben haben.
M. Langer: Die Wahl und Bezeichnung der vier Verläufe scheint mir eher willkürlich zu sein. Ich könnte mir auch andere Gruppeneinteilungen vorstellen. In der Gruppe der Frauen mit „High-persistent“-Symptomen sind sicherlich viele, die schon vor der Schwangerschaft unter Depressionen gelitten haben.
In der Studie heißt es: „The high-persistent group was also markedly different from the low-stable group in other ways, tending to have been younger, less than college educated, unmarried, multiracial or a person of color, multiparous, diagnosed with gestational diabetes mellitus, and delivered earlier.“ Wie erklären Sie sich diese Zusammenhänge?
M. Langer: Das ist der seit Langem bekannte Cluster von Risikofaktoren für die postpartale Depression.
Dass alleinstehende jüngere Mütter öfter an Depressionen erkranken, kann man sich vorstellen. Aber warum steigt das Risiko, wenn die Frau eine geringere Schulausbildung oder eine andere Ethnizität oder Hautfarbe hat, wenn sie schon Kinder hat, wenn das neue Baby zu früh auf die Welt gekommen ist oder wenn sie an einem Gestationsdiabetes erkrankt ist?
M. Langer: Schwangerschaft und Geburt sind umfassende biopsychosoziale Phänomene, die daher wesentlich von sozioökonomischen Parametern beeinflusst werden, die wiederum den „Health-Lifestyle“ und die medizinische Versorgung und deren Inanspruchnahme steuern. Tatsächliche oder vermeintliche Komplikationen bei der Geburt, eine Frühgeburt, aber vor allem Entwicklungsverzögerung oder Behinderung eines Kindes sind höchst belastende Lebensereignisse, die eine reaktive Depression verursachen. Dass sich das Risiko durch Multiparität erhöht, lässt sich leicht erklären: Kinder bedeuten Stress. Und Stress kann bei vulnerablen Personen Depressionen auslösen, vor allem, wenn noch weitere Stressoren hinzukommen. Wenn das jeweilige Gesundheits- und Sozialsystem nicht ausreichend Hilfen und Unterstützungen zur Verfügung stellt, führt das zu Überforderung. In Europa gibt es auch Studien, die zeigen, dass wegen solcher Gründe die Frauen weniger Kinder bekommen, als sie eigentlich wollen.
Welche Stärken, welche Schwächen sehen Sie an der Studie?
M. Langer: Die Autoren nennen selbst und richtigerweise als Stärken die hohe Anzahl der Probanden, die lange Untersuchungszeit und die gut ausbalancierte Stichprobe. Als Schwächen erwähnen die Kollegen, dass die Studie erst 4 Monate post partum begonnen hat, dass nur eine „abgespeckte“ Version des EPDS-Fragebogens verwendet wurde und dass keine Informationen eingeholt wurden, ob die Probandinnen eine antidepressive Therapie erhalten haben. Ich sehe noch andere Schwächen: Die Autoren geben keine geburtshilflichen/pädiatrischen Parameter an. Die Kinder wurden zwischen der 22. und 42. Schwangerschaftswoche geboren. Bei extrem früh geborenen Kindern ist anzunehmen, dass sich bei manchen die psychomotorische Entwicklung verzögert, was wiederum zu mütterlicher Depression führen kann. Auch haben die Autoren nicht erfasst, welche Kinder per Sectio entbunden wurden und welche per Spontangeburt. Hat die Patientin die Sectio als ihr Versagen erlebt oder war sie sehr traumatisierend, dann erhöht auch das das Risiko für Depressionen.
Wie beurteilen Sie die Methode?
M. Langer: Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Kollegen depressive Symptome bereits in der Schwangerschaft erhoben hätten. 4 Monate post partum ist die Erinnerung an die Zeit vor Schwangerschaft und Geburt überlagert durch das (Er)Leben des Neugeborenen. Zu dem Zeitpunkt sind die schweren Verläufe einer „post partum mood disorder“ (früher fälschlich Stillpsychose genannt) nicht mehr auswählbar bzw. bereit für eine Studie, weil sie bereits klinisch evident und/oder die Frauen bereits in Therapie sind, nachdem der Häufigkeitsgipfel dafür zwischen 6 Wochen und 3 Monaten post partum liegt.
Werden Depressionen, unter denen ja auch viele jüngere Frauen leiden, ohne Mutter zu sein, zu oft auf die Geburt zurückgeführt?
M. Langer: Ich denke schon. Diese Frage können wir aber nur durch ein prospektives Studiendesign mit Erhebung depressiver Symptome vor und während der Schwangerschaft beantworten.
Die American Academy of Pediatrics (AAP) empfiehlt, dass Kinderärzte Mütter auf Depressionen screenen, und zwar nach 1, 2, 4 und 6 Monaten. Was halten Sie davon?
M. Langer: Das scheint mir die Pädiater fachlich und zeitlich zu überfordern. In einem großstädtischen Setting einer kinderärztlichen Krankenkassenordination, mit Patientinnen, die schlecht bis gar nicht Deutsch können, Fragebögen auszugeben, zu erklären und dann auszuwerten – wie soll das gehen? Und das noch in einer Situation, in der das Neugeborene im Mittelpunkt stehen sollte. Ich weiß aus eigener Studienerfahrung, dass eine Fragebogenstudie selbst in einer Uniklinik mit viel Personal und unter sehr günstigen Bedingungen äußerst aufwendig durchzuführen ist. Das hindert den Pädiater natürlich nicht, aufmerksam und sensibel – vor allem bei Müttern aus der oben beschriebenen Risikogruppe – auf auffällige Verhaltensmuster oder Symptome zu achten und zu reagieren und die Frau darauf anzusprechen.
Welche Konsequenzen ziehen Sie aus der Studie?
M. Langer: Wir müssen unterscheiden zwischen systematischem Screening und klinischer Beobachtung. Screening bei der Normalbevölkerung muss wohldefinierte Kriterien erfüllen und deren positiver und negativer Vorhersagewert hängt sehr stark von der Inzidenz einer Erkrankung ab. Klinische Aufmerksamkeit ist etwas völlig anderes, aber unter Umständen treffsicherer. Am besten ist es, wenn Gynäkologen, Geburtshelfer, Hebammen, Kinderkrankenpfleger und Stillberater die Schwangere aufmerksam beobachten und allenfalls Maßnahmen in die Wege leiten, zum Beispiel ein Gespräch bei einem Psychotherapeuten.
Bei welchen Symptomen raten Sie einer jungen Mutter, einen Psychotherapeuten aufzusuchen?
M. Langer: Hellhörig sollte man werden, wenn eine Schwangere erzählt, sie habe „überhaupt keine Angst“ vor der Geburt. Denn es ist nicht normal, vor etwas völlig Neuem, Schmerzhaftem und potenziell Gefährlichem keine Angst zu haben. Und natürlich auch dann, wenn die Frau bereits in medikamentöser psychiatrischer Behandlung steht.
Weitere Informationen finden Sie hier:
Postpartale Depression - Mehr als nur der „Baby Blues“
Literatur:
1 Putnick DL et al.: Pediatrics 2020; 146: e 20200857
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