
„Eine Kombination könnte eine personalisierte und prädiktive Medizin ermöglichen“
Autor:
o. Univ.-Prof. Dr. Peter Husslein
em. Vorstand der Universitätsklinik für Frauenheilkunde
Wien
E-Mail: ph@husslein.at
aufgezeichnet von: Dr. Felicitas Witte
Wir müssen uns eingestehen, dass auch in der heutigen Medizin manche Vorgehensweisen als unmodern und geradezu primitiv anzusehen sind. Dies gilt auch für Vorsorge und Früherkennung von Krankheiten. Ein Strategiewechsel ist angezeigt.
Als ich vor vier Jahren in einem Artikel die vergangenen 40 Jahre reflektierte, war ich verwundert, wie rasant sich unser Fach entwickelt hat. Zu Beginn meiner Ausbildung gab es keinen Routineultraschall, die Schätzung der oft unbekannten Schwangerschaftsdauer erfolgte durch röntgenologische Messung von fetalen Knochenkernen und eine Fruchtwasserpunktion nur bei über 35-jährigen Schwangeren war die nahezu einzige Möglichkeit der Pränataldiagnostik. Eine Episiotomie war bei Erstgebärenden verpflichtend, die Frequenz von Zangengeburten war relativ hoch, in den Perinatalstatistiken wurden Kinder unter 1000g nicht eingeschlossen, weil sie ohnehin keine Überlebenschance hatten. Vieles mehr, was aus heutiger Sicht skurril anmutet, war damals gang und gäbe, und trotzdem ist uns die Medizin recht fortschrittlich vorgekommen.
Auch heute sind wir davon überzeugt, großartige Medizin zu betreiben, die uns kaum verbesserbar erscheint. Trotzdem müssen wir uns eingestehen, dass zahlreiche unserer heutigen Vorgehensweisen als unmodern und geradezu primitiv anzusehen sind. Nur ein paar Beispiele: In der Pränataldiagnostik müssen wir oft ein Kind mit Fehlbildung zulassen, bevor wir durch spezifische Diagnostik wenigstens eine Wiederholung bei den Geschwistern verhindern können. Wir sind nicht in der Lage, vor einer Geburt vorherzusagen, welche Schwangere bei einer vaginalen Geburt einen dauerhaften Beckenbodenschaden mit nachfolgendem Prolaps erleiden wird. Wollen wir das verhindern, müssten wir jeder Frau einen Kaiserschnitt empfehlen, was natürlich medizinisch nicht sinnvoll ist. Wir verstehen den Qualitätsverlust der Eizelle im Laufe der Jahre nicht und können ihn daher nicht verhindern. Das Ovarialkarzinom müssen wir als ein mehr oder weniger schicksalhaftes Ereignis akzeptieren. Noch immer besteht das Grundkonzept onkologischer Behandlung im Herausschneiden und mehr oder weniger unselektiven Zerstören von Tumorzellen. Solche unbefriedigenden Situationen gibt es nicht nur in der Frauenheilkunde: Viele Raucher:innen hören erst nach ihrer Lungentransplantation mit dem Rauchen auf. Physiotherapie-Praxen sind voll von Patient:innen, die emsig versuchen, nach ihrer Oberschenkelhalsfraktur den Muskelapparat aufzubauen. Dabei hätten sie sich die Fraktur wahrscheinlich erspart, wenn sie ihre Muskeln schon früher trainiert hätten.
Zu diesem Zeitpunkt der Diskussion ertönt meist der Ruf nach mehr Vorsorge. Ein klassisches Screening von Bevölkerungsgruppen zur Früherkennung von Erkrankungen muss aber im Wesentlichen als gescheitert bezeichnet werden. In der Frauenheilkunde ist lediglich das Zervixkarzinom-Screening effizient. Das generelle Mammakarzinom-Screening ist schon eher fragwürdig und alle anderen Screeningverfahren müssen klar negativ bewertet werden: Der Schaden durch Überdiagnosen und Übertherapien ist größer als ein möglicher Nutzen durch das Screening.
Unbestritten stellen Bildung, regelmäßiger Sport, eine ausgewogene Ernährung und gesundheitsschonende Arbeitsbedingungen eine wirksame Vorbeugung vieler Krankheiten dar. Offenbar gelingt es uns aber nicht, diese Maßnahmen ausreichend umzusetzen. Wir brauchen deshalb offensichtlich eine grundlegende Strategieänderung. Eine Kombination eines besseren Verständnisses der Genetik mit den nahezu grenzenlosen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz zur Datensammlung könnte ein Durchbruch sein und personalisierte Vorbeugung und prädiktive Medizin ermöglichen. Voraussetzung dazu ist, dass genetische Informationen tausender Menschen gesammelt werden und deren Lebensverläufe sorgfältig verfolgt werden. Kombiniert man die individuelle genetische Ausstattung mit der Entwicklung von Krankheiten, wird man besser verstehen, warum zum Beispiel ein Mensch mit Dyslipidämie einen Herzinfarkt bekommt, der andere aber nicht, und warum ein Raucher ein Lungenkarzinom bekommt und ein anderer nicht. Dadurch wären wir in der Lage, eine effektive individualisierte Vorsorge durch Verhinderung oder wenigstens echte Früherkennung von Krankheiten zu betreiben, um auf diese Weise dem Ziel näherzukommen, bis ins hohe Alter einigermaßen gesund und fit zu bleiben.
So eine Gesundheitsvorsorge böte aber noch viel radikalere Möglichkeiten einer gezielten Prävention: Man könnte beispielsweise Stoffwechselstörungen durch Gentherapie korrigieren, und womöglich könnte man sogar krankheitsauslösende Gendefekte verhindern, indem man Keimzellen mit CRISPR/Cas9 manipuliert. Die Medizin würde durch diesen Ansatz deutlich besser, aber wahrscheinlich auch viel teurer werden. Daher wird sich irgendwann unausweichlich die Frage stellen, ob es tatsächlich möglich sein wird, allen alles auf öffentliche Kosten zukommen zu lassen. Fortschritt war immer schon das Ersetzen alter Probleme durch neue, aber auf einem höheren Niveau.
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