
Mehr als nur der „Baby Blues“
Bericht: Dr. Felicitas Witte
Noch Jahre nach der Geburt leiden viele Frauen unter depressiven Symptomen. Experten fordern eine umfassendere Vorsorge mit fächerübergreifendem Screening. Ein einfacher Fragebogen, der in wenigen Minuten ausgefüllt und ausgewertet wird, könnte gefährdete Schwangere und Mütter rasch identifizieren. Gescreent werden sollte von Beginn der Schwangerschaft an und noch längere Zeit nach der Geburt.
Die Coronakrise hinterlässt Spuren in der Psyche. Auch junge Mütter, die sich ja eigentlich über ihr Baby freuen sollten, sind davor nicht gefeit. Inzwischen gibt es immer mehr Hinweise, dass die Krise das Risiko für depressive Beschwerden oder gar eine postpartale Depression erhöht. So litten etwa in einer kürzlich publizierten Studie vom Queen Mary Hospital in Pokfulam (Hongkong) mit 4531 Schwangeren diejenigen, die von Januar bis April 2020 ein Kind bekommen hatten, im Schnitt unter mehr depressiven Beschwerden nach der Geburt als diejenigen, die ihr Kind von Januar 2019 bis Januar 2020 gebaren.1 Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Forscher vom Policlinico Abano Terme in Venetien mit Befragung von 192 Schwangeren.2 In einer Studie der Southern Medical University im chinesischen Guangzhou litt jede dritte von 864 Schwangeren unter einer postpartalen Depression3 – in Zeiten ohne Corona ist es „nur“ jede sechste bis zehnte. „Das Problem wird nicht ausreichend wahrgenommen, weil die Betroffenen zur Bagatellisierung neigen“, sagt Anke Rohde, emeritierte Professorin für gynäkologische Psychosomatik in der Universitätsklinik Bonn, die seit Jahren über das Thema forscht und Ratgeber dazu geschrieben hat. In einer Online-Umfrage unter 211 amerikanischen Müttern im Zeitraum von 3 Jahren nach der Geburt sagte mehr als jede zweite, sie würde unter depressiven Beschwerden leiden.4 Eine von fünf berichtete davon jedoch nicht ihrem Arzt. Am häufigsten gaben die Betroffenen an, sie fürchteten, stigmatisiert zu werden, oder sie hatten keine Zeit.
Unterscheiden von der postpartalen Depression muss man den „Baby Blues“. Das sind Stimmungsschwankungen in den ersten Tagen nach der Geburt, die bis zu 8 von 10 Frauen durchleben – eine Folge der abrupt absinkenden Hormonspiegel nach der Geburt. Die Beschwerden verschwinden in der Regel von selbst. Eine postpartale Depression tritt in den ersten Monaten bis zu einem Jahr nach der Geburt auf. Die Symptome sind ähnlich wie bei anderen Menschen, die an Depressionen erkranken, und reichen von leichten depressiven Verstimmungen bis zu extremer Niedergeschlagenheit mit Suizid und Kindstötung.
Die Depression entsteht wie andere Depressionen auch durch genetische und biopsychosoziale Faktoren. Es gibt kein einzelnes „Depressionsgen“, das die Krankheit auslöst. Veränderungen in verschiedenen Genen lassen einen empfindlicher werden für Stressoren von außen, etwa zu hohe Anforderungen im Job, Verlusterlebnisse als Kind, Geldsorgen, Trennung vom Partner oder soziale Isolation wie in der jetzigen Krise. Für junge Mütter kommen Einflüsse hinzu, die andere Menschen nicht erleben, z.B. der Stress durch die Geburt, die Sorge, mit dem Kind alles richtig zu machen, oder der Druck, gleichzeitig eine perfekte Mutter, Ehefrau und Berufstätige zu sein. Ob die Depression ausbricht, hängt von der eigenen psychischen Widerstandsfähigkeit (Resilienz) ab. Hierbei scheint eine zentrale Rolle zu spielen, ob man das Gefühl hat, die Stressquelle kontrollieren zu können. Ist das nicht der Fall, überfordert dies die hirneigenen Stress-Adaptationsmöglichkeiten schneller. Dies könnte erklären, warum in der jetzigen Krise mehr Menschen depressive Symptome entwickeln.
Auch die Kinder sind betroffen
Abgesehen von der eingeschränkten Lebensqualität und dem erhöhten Suizidrisiko der Mutter leiden auch die Kinder: In einer aktuellen Metaanalyse aus 191 Studien mit 195751 Mutter-Kind-Paaren beeinflussten mütterliche Depressionen um die Geburt herum die sozial-emotionale, sprachliche, motorische und kognitive Entwicklung der Babys deutlich, mit Auswirkungen bis in Kindheit und Jugend.5 Gemäß einer Untersuchung der University of Oxford mit 9848 Müttern verdoppelt eine postpartale Depression das Risiko für Verhaltensstörungen der Kinder, und zwar vor allem dann, wenn die mütterliche Depression schwer ist und länger anhält.6 Mit 16 hatten die betroffenen Kinder im Schnitt schlechtere Schulnoten in Mathematik als Kinder von Müttern ohne Depressionen, und mit 18 ein höheres Risiko, selbst an einer Depression zu erkranken.
Eine eigene Krankheit oder nicht?
Die Diagnose einer postpartalen Depression stellt man genauso wie im Falle „anderer“ Depressionen nach den ICD-10-Kriterien,nämlich dann, wenn die Betroffene 2 Wochen lang oder länger unter mindestens 2 von 3 Hauptsymptomen (gedrückte Stimmung, Interessenverlust/Freudlosigkeit, Antriebsmangel/erhöhte Ermüdbarkeit) und gleichzeitig unter mindestens 2 Nebensymptomen(z.B. Konzentrationsstörungen, Schuldgefühle, vermindertes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen) leidet.7 Die Behandlung ist ebenfalls ähnlich wie bei „normalen“ Depressionen.7 Eine Psychotherapie kann die Symptome deutlich bessern, ist aber in manchen Gegenden nicht akut verfügbar. In der Regel beginne man mit Antidepressiva, sagt Prof. Rohde, optimal sei eine Kombination aus beiden Behandlungen. Die Medikamente sollte man Müttern, die stillen, aber nur unter sorgfältigem Abwägen von Nutzen und Risiken verschreiben. Als nebenwirkungsarme Ergänzung bietet sich körperliche Bewegung an. Dies besserte in Studien ebenfalls die depressiven Beschwerden.
Seit Jahren diskutieren Forscher, ob die postpartale Depression ein eigenes Krankheitsbild ist oder nur eine Form von Depression, die eben nach der Geburt auftritt. Forscher von der Universidade Federal de Minas Gerais im brasilianischen Belo Horizonte haben vor einigen Jahren eine Analyse von 20 internationalen Genstudien veröffentlicht.8 Beide Formen, so das Fazit der Autoren, scheinen einen gemeinsamen genetischen Hintergrund zu haben. Denn bei postpartalen Depressionen wurden Veränderungen in Genen beobachtet, die auch bei „normalen“ Depressionen verändert sein können. Das betrifft zum Beispiel Gene, die in den Serotoninstoffwechsel involviert sind.
Dafür, dass sich eine postpartale Depression von einer „normalen“ Depression unterscheidet, sprechen Studien mit funktioneller Kernspintomografie. So unterscheidet sich die Hirnaktivität auf emotionale Stimuli von Frauen mit postpartaler Depression in bestimmten Bereichen deutlich von der von Personen mit „normaler“ Depression.9 Ein weiterer Hinweis sind Veränderungen im Stoffwechsel des Botenstoffs GABA während und nach der Schwangerschaft. Dies ist auch die Grundlage für das im März 2019 in den Vereinigten Staaten in einem beschleunigten Verfahren zugelassene Medikament Brexanolon. Es ist das erste Medikament speziell gegen postpartale Depressionen. Brexanolon ist chemisch identisch mit dem körpereigenen Botenstoff Allopregnanolon. Dieser bindet an GABA-Rezeptoren und Brexanolon könnte quasi als Substitution für abfallende Allopregnanolon-Spiegel fungieren. In den placebokontrollierten Zulassungsstudien mit 138 bzw. 108 Teilnehmerinnen besserten sich die Symptome deutlich mehr als mit Placebo.10 Die Wirkung trat innerhalb der ersten 24 Stunden ein – ein klarer Vorteil gegenüber Psychotherapie oder Antidepressiva.
Abgesehen davon, dass das neue Medikament nicht sauber gegen eine Psychotherapie oder gegen Antidepressiva getestet wurde, ist die Behandlung nicht ohne: Die Frau muss sie über 60 Stunden intravenös verabreicht bekommen. Während dieser Zeit müssen die Frauen in speziellen zertifizierten Einrichtungen streng überwacht werden. In den Studien kam es nämlich zu plötzlichem Bewusstseinsverlust und übermäßiger Schläfrigkeit. Auch wegen des Preises ist nicht zu erwarten, dass das Medikament hierzulande Routine wird: Der Hersteller soll angeblich 34000 Dollar für die Einmalbehandlung in Rechnung stellen.
Immer wieder screenen?
Viel wichtiger ist es aber, zu erkennen, ob eine Mutter nach der Geburt unter einer Depression leidet. Rechtzeitig behandelt sind Depressionen nämlich schnell wieder vorbei. Die amerikanische Pädiater-Gesellschaft fordert seit vergangenem Jahr, dass Kinderärzte Frauen im Rahmen der Neugeborenenuntersuchungen auf postpartale Depressionen screenen sollen – und zwar nach 1, 2, 4 und 6 Monaten.
Um postpartale Depressionen festzustellen, gibt es einen einfachen Screening-Fragebogen aus 10 Fragen: die Edinburgh-Postnatale-Depressions-Skala EPDS.11,12 Die Frau muss hier unter anderem beantworten, ob sie in den 7 Tagen zuvor „lachen und das Leben von der sonnigen Seite sehen“ konnte, ob sie sich unnötig schuldig fühlte oder so unglücklich war, dass sie nicht schlafen konnte. Maximal können 30 Punkte erreicht werden, ein Wert über 12 weist auf eine Depression. Psychosomatikerin Anke Rohde aus Bonn hat schon 2003 dafür plädiert, dass Frauenärzte regelmäßig mit der EPDS screenen sollten, und zwar bei der ersten Vorstellung nach der Entbindung: „Die Beantwortung der 10 Fragen dauert nur 2–3 Minuten.“
Dass ein Screening über mehrere Jahre sinnvoll wäre, lässt eine aktuelle Studie von den National Institutes of Health in den Vereinigten Staaten vermuten:Von 4866 Müttern litt eine von vier noch bis zu 3 Jahre nach der Geburt unter schweren depressiven Symptomen.13
Bisher gibt es in Deutschland, der Schweiz und in Österreich kein systematisches Screening auf postpartale Depressionen. Abgesehen davon, dass erst einmal einige Aspekte geklärt werden müssten – etwa ob das Screening Depressionen mit möglichst großer Sicherheit entdeckt oder ausschließt und ob sich der Verlauf von postpartalen Depressionen dadurch deutlich bessert –, bliebe zu klären, wer dafür zuständig sein sollte. Vorstellbar wäre, dass jeweils der Arzt screent, der die betroffene Frau sieht. Also Frauenarzt während der Schwangerschaft und um die Geburt herum und Kinderarzt und Hausarzt in den Monaten und Jahren danach. Dr. Wolf Lütje, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatik und Geburtshilfe und Chefarzt des Geburtszentrums im Amalie-Sieveking-Krankenhaus in Hamburg,hat vor einigen Jahren versucht, gemeinsam mit einer Krankenkasse ein standardisiertes Screening zu etablieren. „Wichtig erschien uns, dass von Beginn der Schwangerschaft an gescreent wird“, sagt er. Jede zweite postpartale Depression beginnt nämlich schon in der Schwangerschaft. Außerdem wollte er das persönliche Risikoprofil der Frau berücksichtigt wissen. „Eine 22-jährige Erstgebärende, die gerade von ihrem Partner verlassen wurde und ihr Studium abgebrochen hat, braucht ein viel engmaschigeres Screening als eine 38-Jährige, die glücklich verheiratet ist, einen engen Freundeskreis hat und ihr drittes Kind erwartet. Das spart dann auch Geld für unnötige Untersuchungen.“ Leider sei das Projekt im Sande verlaufen. „Zu aufwendig und zu teuer“, vermutet Lütje.
Aus Studien sind Faktoren bekannt, die das Risiko für eine postpartale Depression erhöhen: häusliche Gewalt, früherer Missbrauch, stressvolle Lebensereignisse, geringe Unterstützung durch den Partner, Beziehungsprobleme, frühere depressive Episoden, Frühgeburt und wenn die Frau hohe Ansprüche an sich selbst hat. An den Stressfaktoren lässt sich oftmals nicht viel verändern. Vielleicht hilft es, jungen Müttern zu raten, ihre Ansprüche an sich herunterzuschrauben und sich Hilfe vom Partner oder von Freunden zu suchen. Und im Zweifel lieber zu früh als zu spät einen Arzt aufsuchen.
Weitere Informationen finden Sie hier:
Postpartale Depression - Klinische Aufmerksamkeit auf Verhaltensmuster und Symptome legen
und hier:
«Schon während der Schwangerschaft screenen»
Literatur:
1 Hui PW et al.: Hong Kong Med J 2020; doi: 10.12809/hkmj208774, online ahead of print 2 Zanardo V et al.: Int J Gynecol Obstet 2020; 150: 184-8 3 Liang P et al.: BMC Psychiatry 2020; 20: 557 4 Prevatt BS, Desmarais SL: Matern Child Health J 2018; 22: 120-9 5 Rogers A et al.: JAMA Pediatr 2020; 174: 1082-92 6 Netsi E et al.: JAMA Psychiatry 2018; 75: 247-53 7 S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, Langfassung, 2. Auflage, 2015, Version 5, AWMF-Register-Nr.: nvl-005 8 Castro e Couto T et al.: World J Psychiatry 2015; 5: 103-11 9 Pawluski JL et al.: Trends Neurosci 2017; 40: 106-20 10 Cox J et al.: Br J Psychiatr 1987; 150: 782 11 Bergant A et al.: Dtsch Med Wochenschr 1998; 123: 35-40 12 Meltzer-Brody S et al.: Lancet 2018; 392: 1058-70 13 Putnick DL et al.: Pediatrics 2020; 146: e 20200857
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