Kriege und Seuchen: tödliches Duo in Vergangenheit und Gegenwart
Bericht:
Reno Barth
Krieg bedeutet immer auch Krankheit. Infektionen forderten in den Kriegen der letzten 200 Jahre sowohl infolge von Verletzungen als auch durch Ausbruch von Seuchen meist mehr Tote als die Kriegshandlungen selbst. Gleichzeitig hat die Herausforderung durch den Krieg auch die Entwicklung der Medizin immer wieder in beispielloser Weise vorangetrieben.
Über die vergangenen 2000 Jahre hielt sich die Weltbevölkerung relativ stabil in der Größenordnung von einer Milliarde und die globale Lebenserwartung lag im Durchschnitt bei ca. 30 Jahren.Über diese gesamte Zeit war die Medizin im Westen geprägt von Hippokrates und Galen und die wichtigsten Heilmethoden waren Abführen, Das Induzieren von Erbrechen, Schröpfen, Kauterisieren und der Aderlass. Letzterer kam übrigens noch während der Spanischen Grippe häufig zum Einsatz, so Prof. Dr. Andreas Neumayr vom Schweizer Zentrum für Tropen- und Reisemedizin in seinem umfassenden Vortrag zum Thema Krieg & Infektionen beim Österreichischen Infektionskongress 2024 in Saalfelden. Neumayr: „Das ist der Grund, warum unser prestigeträchtiges Journal The Lancet heißt. Mit der Lanzette wurde zur Ader gelassen.“
Mit diesen Methoden wurde vermutlich mehr geschadet als geholfen, so Neumayr, was allerdings dazu führte, dass sie bevorzugt bei Patienten eingesetzt wurden, bei denen man eine gute Prognose vermutete und annahm, dass sie auch die Therapie überleben würden. Das alles änderte sich im späten 19. Jahrhundert. Ab diesem Zeitpunkt stiegdie Lebenserwartung und die Weltbevölkerung wuchs. Und die Medizin wurde besser. Ab ca. 1850 kamen evidenzbasierte Hygienekonzepte, antiseptische Chirurgie, Keimtheorie, Bakteriologie, Immunologie und mit dem kanadischen Mediziner Dr.William Osler schließlich die evidenzbasierte Medizin und die klinische Differenzialdiagnose auf. Neumayr: „Osler ist der Vater dessen, was wir heute Medizin nennen.“
Der Krieg als Vater von Pflege und Statistik
Eine nicht zu unterschätzende treibende Kraft war der Krieg. Im Krimkrieg (1853–1856) mit mehr als 600000 Toten revolutionierte Florence Nightingale nicht nur die Pflege, sondern lieferte mit ihrem „Coxcomb Chart“ auch die erste statistische Erfassung der Todesursachen im Krieg – inklusive einer modernen grafischen Aufbereitung. Diese zeigte eine hohe Sterblichkeit nicht nur durch Verletzungen, sondern auch und in weit höherem Maße durch Infektionserkrankungen. Der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) war mit mehr als 600000 Toten der bislang für die USA verlustreichste Krieg. Atemwegsinfekte, Malaria, Ruhr, Typhus, Gelbfieber, Pocken und andere Infektionskrankheiten forderten dabei mindestens dreimal so viele Todesopfer wie die Kampfhandlungen.1 Es war „der letzte große Krieg vor dem Zeitalter der Asepsis, der Keimtheorie und der Bakteriologie“, so Neumayr. Noch deutlicher war die Rolle der Infektionskrankheiten in den Kolonialkriegen. Während der französischen Kolonialeroberung von Madagaskar kamen auf einen gefallenen französischen Soldaten 241 Tote durch Infektionskrankheiten.2
Der Erste Weltkrieg als erster moderner Krieg bedeutete schließlich auch für die Medizin eine Zäsur. Die neuen Verletzungsmuster durch Artillerie und Giftgas katalysierten die medizinische Entwicklung. Dies betraf das Traumamanagement, also Blutstillung, Triagierung und Bluttransfusion. Erstmals kam Röntgendiagnostik zur Fremdkörperlokalisation und im Rahmen der Frakturversorgung zum Einsatz. Nicht zuletzt nahm die plastische bzw. rekonstruktionelle Chirurgie eine rasante Entwicklung.
Aufgrund zahlloser tiefer und mit Erde kontaminierter Weichteilverletzungendurch Granatsplitter kam es zu extrem hohen Fallzahlen von Gasbrand, dessen Letalität unbehandelt bei 100% liegt. Man hatte keine Antibiotika zur Verfügung, weshalb Militärchirurgen das zeitnahe chirurgische Débridement als zentral identifizierten bzw. Gliedmaßen amputierten. Hinzu kam Gasbrand-Serum, von dem man heute nicht mehr weiß, ob und wie weit es wirksam war. Auch Tetanus-Antitoxin war bereits bekannt.
Rickettsien und Borrelien in den Schützengräben
Aufgrund der elenden Lebensbedingungen in den Schützengräben kam es immer wieder zu Ausbrüchen gefährlicher Infektionskrankheiten wie des durch Rickettsia prowazekii ausgelösten Fleckfiebers, das auch als epidemischer Typhus oder Kriegstyphus bzw. Typhus exanthemicus bezeichnet wurde. Die Übertragung erfolgt durch die Kleiderlaus. Zwischen zwei und drei Millionen Soldaten und Zivilisten erkrankten, vor allem an der Ostfront. Mangels wirksamer Therapie lag die Letalität zwischen 5 und 30%. Neumayr: „Heute würde man das mit Doxycyclin behandeln, aber damals gab es nichts.“
Während das Fleckfieber schon lange bekannt war, wurde das durch Bartonella quintana verursachte Schützengrabenfieber („trench fever“, Wolhynisches Fieber) während des Ersten Weltkriegs als neues Krankheitsbild erstbeschrieben. Die Übertragung erfolgt ebenfalls durch die Kleiderlaus, rund eine Million Frontsoldaten erkrankten. Die Letalität war zwar niedrig, aber aufgrund einer Erkrankungsdauer von bis zu 60 Tagen waren Betroffene lange Zeit nicht einsatzfähig. Ganze Bataillone wurden durch die Krankheit kampfunfähig.
Im Gegensatz dazu spielte das von Borrelia recurrentis verursachte Läuse-Rückfallfieber eine eher untergeordnete Rolle. Aufgrund der zahlreichen Ratten in den Schützengräben muss es auch Leptospirose gegeben haben, so Neumayr, es fehlen dazu jedoch die Zahlen.
Die häufigsten Infektionen in den Armeen: Geschlechtskrankheiten
Etliche Erkrankungen, die in früheren Kriegen hohe Opferzahlen gefordert hatten, waren im Ersten Weltkrieg bereits mit Impfungen und Therapien einigermaßen beherrschbar. Impfstoffe gegen Pocken, Cholera und Typhus standen zur Verfügung. Insbesondere bei Cholera und Typhus waren es keine sehr guten Impfungen, so Neumayr, mit schlechter Verträglichkeit, aber sie reduzierten offenbar die Erkrankungszahlen. Gegen die Malaria stand seit den 1820er-Jahren Chinin aus industrieller Produktion zur Verfügung.
Die Statistik der dokumentierten Infektionskrankheiten der österreichisch-ungarischen Armee weist unter anderem eine hohe Zahl von Tuberkulosefällen (433517) mit einer Letalität von 9% aus. Noch häufiger waren jedoch Geschlechtskrankheiten mit einer Zahl von 1275885 registrierten Fällen. Die Therapien waren mäßig wirksam und für die Betroffenen unerfreulich. Gonorrhö wurde mit Harnröhrenspülung mit Kaliumpermanganat zweimal täglichüber sechs Wochen behandelt, bei chronischen Fällen gefolgt von Dilatation und Prostatamassagen. Die Syphilis wurde nach wie vor mit Injektionen von Quecksilber (i.m.) und/oder Arsen (Salvarsan i.v.) über 50 Tage therapiert.
Spanische Grippe: Katastrophe am Ende des Krieges
Der Krieg endete mit einer medizinischen Katastrophe. Die Spanische Grippe führte 1918 zu einer enormen Zahl an Todesfällen, sie dürfteirgendwo zwischen 25 und 50 Millionen liegen – bei einer Weltbevölkerung von damals rund 1,8 Milliarden. Dem stehen rund 17 Millionen im Krieg gefallene Soldaten gegenüber. So starben 50500 US-Soldaten direkt bei oder infolge von Kampfhandlungen, während 55322 US-Soldaten durch Infektionserkrankungen, in der überwiegenden Zahl durch Influenza, zu Tode kamen. Infektionen in den Ausbildungslagern in Utah trugen erheblich zur weltweiten Verbreitung bei. Die Letalität der Spanischen Grippe lag zwischen 5 und 10%.
Hätte es die Grippe und die Lungenentzündung nicht gegeben, wären die Gesamtraten der Infektionskrankheiten für die Jahre 1917 bis 1918 sehr gering gewesen, sowohl bei den Einweisungen als auch bei den Todesfällen. Neumayr: „Ohne die Spanische Grippe wäre der Erste Weltkrieg der erste Krieg gewesen, bei dem mehr Menschen durch Kampfhandlungen zu Tode kamen als durch Infektionskrankheiten.“
Penicillin als medizinischer Game-Changer im Zweiten Weltkrieg
In der Zwischenkriegszeit wurden zahlreiche wichtige Impfstoffe und Medikamente entwickelt. Neumayr nannte Tetanus/Diphtherie-Toxoid-Impfstoffe und Sulfonamide. Angesichts der katastrophalen Folgen der Spanischen Grippe forderte vor allem das US-Militär die Entwicklung von Influenzaimpfstoffen, die in den 1930er-Jahren auch in Form inaktivierter Influenzaviren an Soldaten getestet wurden. Eine weitere für Hygienemaßnahmen im Krieg bedeutsame Entwicklung war 1939 das Insektenvernichtungsmittel DDT (Dichlorodiphenyltrichloroethan). Ein Meilenstein in der Medizingeschichte war schließlich die Entdeckung des Penicillins in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Reichte 1943 die Monatsproduktion gerade aus, um 170 Patienten zu behandeln, so waren es 1944 bereits 40000 Patienten. Allein für die Landung der Alliierten in der Normandie stellten 21 US-Firmen 2,3 Mio. Dosen Penicillin her. 1945 ermöglichte die Monatsproduktion die Behandlung von rund 250000 Patienten. Letztlich brachte der Krieg also einen massiven Booster-Effekt für die Medizin, so Neumayr.
Dies galt auch für die Malariatherapie. Das in den 1940ern eingeführte Atabrin wurde zum wichtigsten Malariamedikament der US-Truppen im Südpazifik und ersetze das Chinin, das aufgrund der japanischen Besetzung Indonesiens für die USA nicht mehr verfügbar war.
Insgesamt stellte Malaria besonders für die alliierten Truppen im Zweiten Weltkrieg ein enormes Problem dar. Im Südpazifik kamen auf einen im Kampf Gefallenen acht Malariatote. Auch in Sizilien kam es nach der Landung im Jahr 1943 zu 21482 Malariafällen. Die Produktion von Atabrin konnte zwar in den Jahren 1943 und 1944 massiv gesteigert werden, doch die Prävention war unbeliebt, wie Neumayr berichtete. Atabrin führte unter anderem zu einer Gelbfärbung der Skleren und die vorgeschriebene Einnahme wurde vermieden, wie und wo es nur ging.3
Eine weitere Infektionskrankheit, die den Truppen in der Pazifikregion mit rund 16000 Fällen Probleme bereitete, war das Tsutsugamushi-Fieber (Scrub-Typhus), eine durch das Bakterium Orientia tsutsugamushi verursachte Rickettsiose. Im Koreakrieg (1951–1953) wurde erstmals das hämorrhagische Hanta-Fieber mit renalem Syndrom beschrieben. In der US-Armee traten rund 3000 Fälle auf.
Ein spezielles infektiologisches Problem war die wegen ihrer Inkubationszeit von 20 Jahren auch als „vietnamese time bomb“ bezeichnete Melioidose (Burkholderia pseudomallei), die im französischen Indochinakrieg (1946–1954) mit rund 100 Fällen erstmals beschrieben wurde. Im amerikanischen Vietnamkrieg (1955–1975) kam es zu 343 Fällen, allerdings waren 225000 Soldaten nach dem Krieg seropositiv. Melioidose kann, je nach Infektionsweg, zu Pneumonien, Abszessen, Granulomen in inneren Organen und zur meist letalen Sepsis führen.
Behandelt wird die Melioidose seit den 1980er-Jahren mit Ceftazidim oder einem Carbapenem. Die befürchtete zeitverzögerte Reaktivierung der Infektion, die nach Jahren und Jahrzehnten auftreten kann, blieb unter den Veteranen glücklicherweise aus.4,5 In den Kriegen der 2000er-Jahre, in Afghanistan (2001–2021) und im Irak (2003–2011), kam es vermehrt zu Wundinfektionen mit dem auch als „Irakibacter“ bezeichneten und oft sehr schwer behandelbaren Acinetobacter baumannii.6 Ebenso traten zahlreiche Fälle von Q-Fieber (Infektion mit Coxiella burnetii) auf, dem gelegentlich ein chronisches Fatigue-Syndrom folgte. Zahlreiche britische Soldaten verklagten aufgrund bleibender Folgeschäden die Armee.6
Infektiologische Versorgungsprobleme der Zivilbevölkerung
Neumayr betonte, dass im Zuge von Kriegen oft relativ exakte Erkrankungszahlen unter Soldaten erhoben werden, jedochüber die Leiden der Zivilbevölkerung meist weniger bekannt ist. Im Falle der Ukraine ist dies nun anders und infektiologische Probleme auf ziviler Seite sind gut dokumentiert. Die Zahlen zeigen allerdings, dass selbst in Kriegszeiten Verbesserungen möglich sind. So lag im Fall der Masern 2016 die Durchimpfungsrate bei 30%. In den Jahren 2017 bis 2019 traten 115283 Erkrankungsfälle mit 41Totenauf, davon 25 Kinder. Laut Neumayr gehören Masern zu den großen Killern in Kriegen und in Flüchtlingslagern: „Sie sind die erste Krankheit, gegen die man impfen sollte, lange bevor man z.B. an Cholera denkt. Sie verursachen eine so starke Immunsuppression, dass sie Folge- und Superinfektionen nach sich ziehen.“ Mittlerweile konnte die Durchimpfungsrate in der Ukraine (Stand 2022) auf 69% gesteigert werden. Um Herdenimmunität zu erreichen, müssten es allerdings mindestens 95% sein. Weitere Masernausbrüche sind also zu erwarten. Auch für Polio war die Durchimpfungsrate mit rund 50% vor dem Krieg viel zu niedrig, was zwischen 2015 und 2021 in mehreren Krankheitsfällen resultierte. Durch Impfkampagnen wurde 2024 eine Durchimpfungsrate von 80% erreicht, was knapp für Herdenimmunität ausreichen sollte.
Die Wildtierimpfrate gegen Tollwut hat als Folge der Kriegshandlungen massiv abgenommen, was zu mehr als einer Verdoppelung der Zahl der Tiertollwutfälle von 2022 auf 2023 geführt hat. „Man hat nun Sorge, dass aufgrund der großen Zahl streunender Hunde in den zerbombten Städten Tollwut auch für Menschen wieder zum Problem werden könnte“, so der Experte. Ebenso gestiegen ist die Tuberkuloseinzidenz.
Auch an eine weitgehend vergessene Erkrankung sollte man im Kontext des Ukraine-Konflikts denken: die Brill-Zinsser-Krankheit, ein Spätrezidiv des epidemischen Fleckfiebers, das durch den Erreger Rickettsia prowazekii verursacht wird. Neumayr: „Da schlechte Lebensbedingungen eine Reaktivierung einer R.-prowazekii-Infektion triggern, besteht in Kriegszeiten die Gefahr von Ausbrüchen, falls ein menschliches Reservoir und der Vektor vorhanden sind. Reaktivierungen latenter R.-prowazekii-Infektionen sind auch nach Jahrzehnten noch möglich und könnten unter entsprechenden Bedingungen zu lokalen Ausbrüchen führen.“ Da man davon ausgeht, dass in der Ukraine noch Menschen leben, die aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs noch R. prowazekii in sich tragen, besteht die Sorge, dass es zu einer Rückkehr des Fleckfiebers kommen könnte.
„Die infektionsbedingte Morbidität und Mortalität in Kriegen haben sich parallel zur medizinischen Entwicklung über die letzten 100 Jahre stark gewandelt. Das Muster der auf Mangelernährung, fehlenden Zugang zu sauberem Wasser, fehlende Hygiene und den Kollaps des Gesundheitssystems zurückzuführenden Infektionsrisiken und -folgen bleibt dennoch ähnlich – insbesondere für die Zivilbevölkerung“, zog Neumayr Bilanz.
Quelle:
Quelle: „Krieg & Infektionen“, Vortrag von Prof. Dr. Andreas Neumayr, Allschwil, im Rahmen des Symposiums „Seuchen“ beim 16. ÖIK am 12. April 2024 in Saalfelden
Literatur:
1 Sartin JS: Clin Infect Dis 1993; 16(4): 580-4 2 The Chadwick Lectures on War and Disease. Lancet 1915; 185(4770): 247-8 3 Neumayr A: Chimia 2023; 77: 574-6 4 Clayton AJ: Mil Med 1973; 138: 24-6 5 Sanford JP: Trans Am Clin Climatol Assoc 1978; 89: 201-5 6 Calhoun JH et al.: Clin Orthop Relat Res 2008; 466: 1356-62 7 Leung-Shea C et al.: Clin Infect Dis 2006; 43: 77-82
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