Der Okklusionsverband zur Behandlung von Fingerkuppenverletzungen der Hand
Autoren:
Dr. Stefan Quadlbauer1–3
Dr. Thomas Beer1
Dr. Rudolf Rosenauer1–3
Priv.-Doz. Dr. Thomas Hausner1–3
Dr. Josef Jurkowitsch1
1AUVA Traumazentrum Wien– Standort Lorenz Böhler European Hand Trauma and Replantation Center
2 Ludwig Boltzmann Institute for Experimental and Clinical Traumatology, AUVA Research Center, Wien
3 Austrian Cluster for Tissue Regeneration
Korrespondierender Autor:
Dr. Stefan Quadlbauer
E-Mail: stefan.quadlbauer@auva.at
Der Okklusionsverband stellt eine sehr gute Behandlungsalternative bei Fingerkuppenverletzungen, unabhängig von Defekthöhe und Knochenbeteiligung, dar.
Amputationsverletzungen der Fingerkuppen sind eine häufige Verletzungsform in der Notaufnahme. Oberflächliche Defekte, die bis in die Subkutis reichen, heilen zumeist problemlos sekundär aus und bedürfen keiner chirurgischen Behandlung. Liegt jedoch ein ausgedehnter Weichteildefekt und/oder ein frei liegendes Endglied vor, stellen sie zumeist eine Herausforderung an den behandelnden Chirurgen dar.1,2 In diesen Fällen ist die VY-Plastik nach Tranquilli-Leali oder Kuttler eine allgemein akzeptierte, jedoch in Bezug auf Komplikationen nicht unproblematische Behandlung zur Deckung dieser Defekte.2,3
Die Fingerkuppe ist von vielen Bindegewebssepten durchzogen und verbindet den Knochen des Endglieds mit der Haut. Die dadurch entstehenden Kammern federn äußere Belastungen ab und können diesen so standhalten. Zudem ist das Endglied mit zahlreichen sensiblen Endorganen wie Mechano-, Schmerz- und Thermorezeptoren ausgestattet, um eine ausgezeichnete Sensibilität zu gewährleisten.2 Somit ist die Fingerkuppe das zentrale Ausführungsorgan unseres Tastsinnes und muss insbesondere belastbar sein, um z.B. den wichtigen Pinzetten- und Schlüsselgriff, aber auch Kraftgriffe durchführen zu können.1
Dadurch bedingt, ist das wesentliche Ziel der Behandlung von Fingerkuppenverletzungen die Rekonstruktion einer stabilen, belastbaren Weichteildeckung, aber auch die Wiederherstellung einer normalen Sensibilität und der Leistenhaut. Speziell beim Daumen ist es zusätzlich zwingend notwendig, so viel an Länge wie möglich zu erhalten.2,4
Die VY-Plastik wurde zum ersten Mal 1947 durch Kuttler beschrieben und dann von Atasoy und Elliot et al.5 bis zum sogenannten neurovaskulären Tranquilli-Leali-Lappen weiterentwickelt. Unbestritten lässt sich mit der VY-Plastik nach Kuttler und dem neurovaskulären Tranquilli-Leali-Lappen eine gute Weichteildeckung der Fingerkuppe erzielen. Jedoch sind sie nicht unproblematisch und zumeist mit sekundären Problemen, wie partiellen Hautnekrosen, Sekundärheilung, Hypersensibilität, Neurombildungen oder Osteitis, vergesellschaftet. Außerdem führt die VY-Plastik zu einem reduzierten Weichteilpolster mit verschmälerter und abgeflachter Fingerkuppe.3
Martin und Del Pino wiesen in einer Übersichtsarbeit auf eine Arbeitsunfähigkeit von 1–2 Monaten nach VY-Plastiken hin.3 Dies ist u.a. durch partiale Nekrosen und sekundäre Wundheilungsstörungen bedingt. Postoperative Kälteintoleranz und Hypersensibilität stellen die häufigsten Komplikationen mit einer Häufigkeit von 13% dar. Durchschnittlich kann mit einer mittleren Sensibilität von 3mm in der 2-Punkte-Diskriminierung gerechnet werden.
Die Behandlung von Fingerkuppenverletzungen mittels Okklusionsverband wurde erstmalig von De Boer und Collinson 1981 beschrieben.4 Sie verglichen hierbei einen Silbersulfadiazin-Salbe-Okklusionsverband mit Fucidine-Gaze-Verbänden. Dieser wurde über die Jahre weiterentwickelt. Mennen und Wiese verwendeten 1993 erstmalig Opsite®-Folie zur Behandlung von Fingerkuppenverletzungen.6
Durch den Okklusionsverband wird eine Kunsthaut geschaffen, unter der sich Wachstumsfaktoren und immunologische Faktoren ansammeln, wodurch ein optimales Milieu für die Regeneration der Fingerkuppe geschaffen wird.2,7 Unter dieser wasser- und bakteriendichten, aber wasserdampfdurchlässigen Folie bildet sich ein für die lokale Regeneration günstiges, physiologisches Milieu hinsichtlich pH-Wert, Temperatur und Feuchtigkeit. Dies beschleunigt die Heilung und vermindert die Narbenbildung zugunsten einer echten Regeneration ortsständigen Gewebes.2,6,8
Vogt et al. konnten im Wundsekret deutlich erhöhte Werte von Wachstumsfaktoren und immunologischen Faktoren feststellen.9 Vor allem für Interleukin-1α, Transforming-growth-Faktor-β2, Basic-fibroblast-growth-Faktor und Epidermal-growth-Faktor wurden erhöhte Werte über der Serumkonzentration gezeigt.
Als ideale Indikation für die Therapie mit dem Okklusionsverband werden vor allem Defekthöhen entsprechend der Klassifikation nach Allen vom Typ I und II gesehen. Defekte ab Höhe Allen III werden teils kontrovers diskutiert, da hier zumindest die Hälfte des Weichteilmantels der Fingerkuppe fehlt und das Risiko für eine Krallennagelbildung zunimmt. Insbesondere bei palmaren Amputationen, mit einem sehr steilen Winkel, wird ein neurovaskulärer Insellappen als Therapie der Wahl gesehen.2,6–8
Zahlreiche klinische Studien haben seither die Effektivität der Behandlungsmethode mittels Okklusionsverband mit Wiederherstellung einer annähernd normalen Fingerkuppe, guter Weichteildeckung, ungestörter Sensibilität, aber auch Regeneration der Leistenhaut bestätigt. Zugleich wird auf die kürzere Arbeitsunfähigkeit im Vergleich zu lappenplastischen Deckungen hingewiesen.1,6–8,10–12
Quadlbauer et al. behandelten erfolgreich selbst Allen-Typ-III- und -IV-Verletzungen mittels Okklusionsverband.1 Hier konnte selbst bei Verletzungen mit einem großen beugeseitigen Defekt ein sehr gutes Ausheilungsergebnis mit einem guten kosmetischen und funktionellen Ergebnis gezeigt werden. In 77% der Fälle wurde eine normale Sensibilität im Semmes-Weinstein-Test festgestellt. Die mittlere Krankenstandsdauer lag bei 30 Tagen und es wurden keine Komplikationen verzeichnet.
Van den Berg et al. verglichen in einer retrospektiven Analyse 53Patient:innen mit Fingerkuppenverletzungen (Allen II–IV), die operativ (VY-Plastik, Vollhauttransplantate oder lokale Lappenplastiken) oder konservativ (Silbersulfadiazin-, Feucht- und Vaselineverbände) behandelt worden sind.13 Es konnten keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf Sensibilität, Kälteintoleranz, Nagelwachstumsstörung und Dauer der Arbeitsunfähigkeit zwischen den Gruppen gefunden werden. In der konservativ behandelten Gruppe wurde bei 82% eine normale Sensibilität verzeichnet, wohingegen in der operativen Gruppe eine normale Sensibilität in nur 56% der Fälle zu finden war.
Weichmann et al. fanden sogar eine signifikant kürzere Krankenstandsdauer in der konservativen Gruppe im Vergleich zur operativen Gruppe.14 In der konservativen Gruppe konnte eine intakte Sensibilität in 65% der Fälle verzeichnet werden.
Bensa et al. verglichen in einer prospektiv randomisierten Studie die Behandlung von Fingerkuppenverletzungen mittels Okklusionsverband und lokaler Lappenplastik.11 Keine signifikanten Unterschiede konnten in der sensiblen Regeneration und Komplikationsrate zwischen den Gruppen gefunden werden. Allerdings zeigten die Patient:innen in der Okklusionsverbandsgruppe einen signifikant besseren QuickDASH-Score bei einem Nachuntersuchungszeitraum von einem Jahr.
Eine andere rezente vergleichende Studie von Pastor et al. fand mit der Okklusionsverbandsbehandlung ein signifikant besseres klinisches Outcome, eine niedrigere Komplikationsrate und höhere Patient:innenzufriedenheit im Vergleich zur lokalen Lappenplastik.12
Abb. 1: a–e) 24-jährige Patientin mit Fingerkuppenverletzung des Zeigefingers und zusätzlicher Knochenbeteiligung. Die Patientin wurde für 4 Wochen mittels Okklusionsverband behandelt; f–h) Ausheilungsergebnis 2 Monate nach Unfall mit vollständiger Regeneration der Fingerkuppe und Wiederausbildung der Leistenhaut
Zusammenfassung
Der Okklusionsverband stellt eine sehr gute Therapie bei allen Fingerkuppenverletzungen, unabhängig von der Defekthöhe (Allen Typ I–IV) oder Knochenbeteiligung, dar. Zusätzlich ist es eine einfache und komplikationsfreie Therapieform, die zu einem guten Ergebnis in Bezug auf Funktion, Sensibilität und Belastbarkeit der Fingerkuppe führt.
Der Okklusionsverband ist somit in der Behandlung von Fingerkuppenverletzungen eine hervorragende Alternative zu lokalen Lappenplastiken und sollte gegenüberlokalen Lappenplastiken den Vorzug erhalten.
Die eigenen positiven Erfahrungen bei der Behandlung von Fingerkuppenverletzungen1 haben dazu geführt, dass Lappenplastiken nur mehr in Ausnahmefällen eingesetzt werden, wenn zum Beispiel Patient:innen die Therapie mit Okklusionsverband verweigern oder eine korrekte Nachbehandlung nicht gewährleistet ist.
Literatur:
1 Quadlbauer S et al.: [The semi-occlusive dressing in treating Allen III and IV fingertip injuries as an alternative to local skin flaps]. Unfallchirurg 2017; 120(11): 961-8 2 Richter M: Fingertip injuries: Will semiocclusive dressings replace VY-advancement flaps? Obere Extrem 2010; 5(1): 6-13 3 Martin C, Del Pino JG: Controversies in the treatment of fingertip amputations: conservative versus surgical reconstruction. Clin Orthop Relat Res 1998: (353): 63-73 4 De Boer P, Collinson PO: The use of silver sulphadiazine occlusive dressings for finger-tip injuries. J Bone Joint Surg Br 1981; 63B(4): 545-7 5 Atasoy E et al.: Reconstruction of the amputated finger tip with a triangular volar flap. A new surgical procedure. J Bone Joint Surg Am 1970; 52(5): 921-6 6 Mennen U, Wiese A: Fingertip injuries management with semi-occlusive dressing. J Hand Surg Am 1993; 18(4): 416-22 7 Quell M etr al.: [Treatment of fingertip defect injuries with a semi-occlusive dressing]. Handchir Mikrochir Plast Chir 1998; 30(1): 24-9 8 Mühldorfer-Fodor M et al.: Treatment of fingertip defect injuries with a semiocclusive dressing according to Mennen and Wiese. Oper Orthop Traumatol 2013; 25: 104-14 9 Vogt PM et al.: Determination of endogenous growth factors in human wound fluid: Temporal presence and profiles of secretion. Plast Reconstr Surg 1998; 102(1): 117-23 10 Söderberg T et al.:Treatment of fingertip amputations with bone exposure: acomparative study between surgical and conservative treatment methods. Scand J Plast Reconstr Surg Hand Surg 1983; 17(2): 147-52 11 Bensa M et al.: Semi-occlusive dressing versus surgery in fingertip injuries: a randomized controlled trial. Hand Surg Rehabil 2023; Online ahead of print 12 Pastor T et al.: Semi-occlusive dressing therapy versus surgical treatment in fingertip amputation injuries: a clinical study. Eur J Trauma Emerg Surg 2023; 49(3): 1441-7 13 Van den Berg WB et al.: Comparison of three types of treatment modalities on the outcome of fingertip injuries. J Trauma Acute Care Surg 2012; 72(6): 1681-7 14 Weichman KE et al.: Treatment and outcomes of fingertip injuries at a large metropolitan public hospital. Plast Reconstr Surg 2013; 131(1): 107-12
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