
Essstörungen bei Adipositas
Bericht:
Martha-Luise Storre
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Liegt bei Personen mit Adipositas (BMI >30) zwangsläufig eine Essstörung vor, die nach den diagnostischen Kriterien des ICD-Katalogs festgestellt werden könnte? Nein, meint Prof. Dr. Dr. Astrid Müller, Leitende Psychologin an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Bei den Betroffenen könne jedoch ein breites Spektrum an nichtnormativem Essverhalten beobachtet werden: Am häufigsten treten dabei die Binge-Eating-Störung (BES) und die Food Addiction auf.
Keypoints
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Binge-Eating-Störungen und Food Addiction zählen zu den häufigsten Essstörungen bei Menschen mit Adipositas.
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Ob es sich bei Food Addiction um eine eigenständige Diagnose handelt, ist umstritten.
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Für eine Cross-Addiction nach Adipositas-Chirurgie gibt es bislang keine Evidenz.
Tritt über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten mindestens einmal wöchentlich eine Binge-Eating-Episode auf, sind die diagnostischen Kriterien einer BES nach ICD-11 erfüllt.1 In diesen Episoden kommt es zu einem subjektiven Kontrollverlust über die Nahrungsaufnahme, wobei andere oder wesentlich mehr Lebensmittel zu sich genommen werden als normal. Es werden keine regelmäßigen kompensatorischen Maßnahmen zur Gewichtsregulierung ergriffen und die Betroffenen sind darüber hinaus nicht fähig, eine Begrenzung oder Kontrolle der Nahrungszufuhr umzusetzen. Nicht nur die Essanfälle, sondern auch die damit verbundenen Einschränkungen sind mit einem deutlichen Leidensdruck verbunden. Die Prävalenz der BES beträgt 1–3% in der Gesamtbevölkerung2 und schwankt bei Menschen mit Adipositas zwischen 1% und 50%. Diese Schwankung sei auf das Fehlen eines geeigneten Fragebogens zur Diagnose der BES zurückzuführen, erläuterte Müller.
Food Addiction – eigenständige Diagnose?
Die Yale Food Addiction Scale (YFAS) 2.03 orientiert sich an den diagnostischen DSM-5-Kriterien für Substanzkonsumstörungen und wird in den meisten Studien zum suchtartigen Essverhalten verwendet. Eine Untersuchung in Deutschland ergab, dass 8% der Befragten (n=1034) den Schwellenwert der YFAS überschritten, wobei Betroffene mit Adipositas Grad II und Grad III relativ hohe Prävalenzraten einer Food Addiction von 21,6% bzw. 30,3% aufwiesen (Abb. 1).4 Es wurde zudem auch eine erhöhte Prävalenz bei Untergewicht festgestellt (15%). In letzterem Fall könne dies jedoch durch die subjektive Einschätzung der Anorexiepatient:innen beeinflusst sein, was laut der Expertin die Limitationen des verwendeten Instruments widerspiegele.
Abb. 1: Eine Studie erfasste mit der Yale Food Addiction Scale (YFAS) 2.0 die Prävalenz von Food Addiction in Deutschland (mod. nach Hauck C et al. 2017)4
Die Anerkennung der Food Addiction als eigenständige Diagnose sei umstritten, da sie im Klassifikationssystem nicht verankert sei. „Schaut man in die aktuelle Literatur, erscheint es eher so, als handele es sich bei Food Addiction um ein transdiagnostisches Konzept“, so Müller. Eine Untergruppe von Menschen mit Adipositas und Essstörungen zeige suchtartige Verhaltensweisen, bei denen ähnliche Mechanismen wie bei Suchterkrankungen eine Rolle spielen könnten.5 Es stelle sich jedoch die Frage, ob nicht viele dieser Aspekte auch auf eine BES hindeuten könnten. Die Abgrenzung zwischen den beiden Diagnose sei unklar, da in der Forschung in dieser Hinsicht noch keine klare Abgrenzung stattfinden würde, meinte die Expertin. Vor einigen Jahren eröffnete ein Review6 zur Food Addiction von Prof. Johannes Hebebrand aus Essen und Kollegen die Debatte, ob es die Nahrungsmittel seien, die süchtig machen, oder ob es sich eher um ein suchtartiges Verhalten handele, das als Eating Addiction bezeichnet werden könnte: Verhaltens- versus Substanzsucht. „Für beide Seiten gibt es ein Für und Wider“, sagte Müller.
Ein therapeutischer Ansatz bei krankhaftem Übergewicht ist die Adipositas-Chirurgie entweder mit Magenschlauch oder Magen-Bypass. Besteht nach einem solchen Eingriff bei vorliegender Food Addiction das Risiko, eine andere Sucht zu entwickeln? Diese Hypothese wurde in der Forschung aufgestellt.7 Denn bei einer Food Addiction scheinen Suchtmechanismen zu greifen, die das Belohnungssystem involvieren. „Longitudinalstudien konnten einen Anstieg des Alkoholkonsums vor allem bei Männern nach Magen-Bypass-OP zeigen. Hier scheint jedoch keine Cross-Addiction, sondern eine geänderte Verstoffwechselung zugrunde zu liegen“, berichtete Müller. Nicht der Alkoholkonsum sei das Problem der Betroffenen, sondern nach wie vor Essstörungen, Depressionen und Angststörungen, schloss die Expertin.
Quelle:
Vortrag „Essstörungen und Adipositas“ von Prof. Dr. Dr. Astrid Müller im Rahmen des Symposiums „Essstörungen“ beim Interdisziplinären Kongress für Suchtmedizin am 30. Juni 2023 in München
Literatur:
1 ICD-11: International classification of diseases (11th revision). World Health Organization 2022; 2 McCuen-Wurst C et al.: Disordered eating and obesity: associations between binge-eating disorder, night-eating syndrome, and weight-related comorbidities. Ann N Y Acad Sci 2018; 1411(1): 96-105 3 Meule A et al.: German version of the Yale Food Addiction Scale 2.0: Prevalence and correlates of ‚food addiction‘ in students and obese individuals. Appetite 2017; 115: 54-61 4 Hauck C et al.: Prevalence of ‚food addiction‘ as measured with the Yale Food Addiction Scale 2.0 in a representative German sample and its association with sex, age and weight categories. Obes Facts 2017; 10: 12-24 5 Müller A et al.: Food Addiction. SUCHT 2022; 68(4): 213-24 6 Hebebrand J et al.: „Eating addiction“, rather than „food addiction“, better captures addictive-like eating behavior. Neurosci Biobehav Rev 2014; 47: 295-306 7 Blum K et al.: Neuro-genetics of reward deficiency syndrome (RDS) as the root cause of „addiction transfer“: a new phenomenon common after bariatric surgery. J Genet Syndr Gene Ther 2011; 2012(1): S2-001 8 King WC et al.: Alcohol and other substance use after bariatric surgery: prospective evidence from a U.S. multicenter cohort study. Surg Obes Relat Dis 2017; 13(8): 1392-1402
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