Ethische Aspekte der Harm Reduction
Bericht:
Mag. Harald Leitner
„Harm Reduction“ beschreibt ein Konzept, das die mit Suchterkrankungen assoziierten Risiken und Gesundheitsgefährdungen eingrenzen soll. Im Rahmen der ersten Harm Reduction DACH Konferenz am 23. Juni in Wien referierte Dr. Bernhard Rupp, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik, Kammer für Arbeiter und Angestellte für Niederösterreich, über Chancen, Risiken und Grenzen dieses Ansatzes aus ethischer Sicht.
Der Umgang mit Sucht und Suchtkranken ist stark von gesellschaftlichen Positionen, die nicht zuletzt religiös geprägt sind, bestimmt. So steht etwa bei der Alkoholpolitik einem restriktiven Ansatz in protestantisch geprägten Ländern ein liberalerer Ansatz in christlich-orthodox geprägten Regionen Europas gegenüber. Während beim restriktiven Ansatz jeglicher Alkoholkonsum als negativ eingestuft wird und das Motto „Weniger ist besser“ gilt, bewertet der liberale Ansatz einen moderaten Konsum neutral und positiv, erlaubt verantwortungsbewussten Konsum und wendet sich ausschließlich gegen exzessiven Alkoholkonsum.
Der restriktive Ansatz, der den Alkoholkonsum aller Bevölkerungsgruppen gleichermaßen einschränken möchte, wird als „Public-Health-Ansatz“ bezeichnet. Der liberale Ansatz orientiert sich an den Gesundheitsförderungsgrundsätzen der Ottawa Charta (1986), die darauf abzielt, Menschen dazu zu befähigen, gesunde Entscheidungen zu treffen, ihnen aber nicht vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben.
Rauchen und Politik
Historisch betrachtet wurde das Rauchen bzw. Nichtrauchen politisch aufgeladen. So wurde die Frauenrechtsbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts zu Werbezwecken für die Tabakindustrie missbraucht, indem die von Frauen in der Öffentlichkeit gerauchte Zigarette als „Fackel der Freiheit“ bezeichnet wurde. Im Nationalsozialismus galt Nichtrauchen als „nationalsozialistische Pflicht“ zum Erhalt der Volksgesundheit, der Arbeitskraft des Volksvermögens und zur Erreichung bevölkerungspolitischer Ziele.
Im Jahr 2000wurde eine Studie im Auftrag des größten Tabakproduzenten der Welt veröffentlicht, die besagte, dass es für den tschechischen Staat billiger ist, die Menschen rauchen zu lassen, da sie dann früher sterben und die Staatskassen entlasten. Gegenstudien konnten diese Aussagen allerdings entkräften. Das eröffnet die Debatte um die Freiheit von Wissenschaft in dem Sinn, dass die Auftraggeber einer Studie häufig die Ergebnisse vorwegnehmen. Ein Lösungsansatz ist, dass alle Studien, die mit öffentlichen Geldern finanziert werden, auch veröffentlicht werden müssen. Laut Rupp ist diese Forderung jedoch noch nicht in ausreichendem Maße umgesetzt.
Pflichtenethik versus Utilitarismus
Wendet man den Kant’schen kategorischen Imperativ auf das Rauchen an, so stellt die Abstinenz ein moralisch richtiges Verhalten dar, infolgedessen Prohibition und abstinenzorientierte Programme gefördert werden müssen. Die Konsequenzen sind aus Sicht der Pflichtenethik wenig relevant.
Der konsequentialistische Ansatz (Utilitarismus) ist dagegen mehr an den Konsequenzen des Handelns orientiert. Hier geht es um die Anwendung des Prinzips des größten Glücks und der größten Leidvermeidung. Dabei werden auch Schäden für wenige in Kauf genommen, wenn daraus der Mehrheit ein Nutzen entsteht. Harm-Reduction-Programme vermindern die Kosten für medizinische Behandlungen, verringern das Leid der Konsument:innen, ihres Umfelds und der Gesellschaft im Allgemeinen. „Utilitaristische Ethiker:innen könnten deshalb wohl auch für Schadensminderung argumentieren“, sagt Rupp.
Zieloffene Suchtarbeit
Während in der Behandlung von Alkohol- und Drogenkrankheit das Konzept der Harm Reduction mittlerweile auf breite Akzeptanz stößt, ist es bei der Rauchentwöhnung scheinbar noch nicht angekommen. So wird in der Tabakstrategie des Gesundheitsministeriums die Harm Reduction laut Rupp mit keinem Wort erwähnt.
Wesentlich im Umgang mit Suchterkrankungen ist, die Wünsche der Betroffenen zu berücksichtigen. So sind mehr Menschen mit einer Alkohol-, Drogen- oder Tabakkonsumstörung eher zu einer Konsumreduktion und Schadensminderung bereit als zu Abstinenz. Zieloffene Suchtarbeit bedeutet, mit Menschen an einer Veränderung ihres Suchtmittelkonsums zu arbeiten, und zwar auf das Ziel hin, das sie sich selbst setzen. Ziele können Abstinenz, Reduktion oder Schadensminderung sein.1
Es müssen allerdings auch Argumente, die gegen die Harm Reduction sprechen, bedacht werden. So wird u.a. argumentiert, dass Konsum von risikoarmem Nikotin ein Weg hin zum Zigarettenrauchen sein könnte und dass jeglicher Konsum von Tabak und Nikotin ein Gesundheitsrisiko darstellt. Auch wird debattiert, dass weniger gefährliche Nikotinprodukte das Rauchen von Zigaretten verlängern können, da sie in Situationen, in denen Raucher:innen keine Zigaretten rauchen können, als vorübergehender Ersatz dienen. Darüber hinaus verringert Schadensminimierung die Wirksamkeit der zentralen Botschaft der Tabakkontrolle, dass jeglicher Nikotin- oder Tabakproduktkonsum gefährlich und unerwünscht ist oder sein kann.
Bei Schadensminderung geht es allerdings nicht um die Minderung irgendwelcher Schäden auf der Bevölkerungsebene. Es geht um die Minderung von Schäden durch illegales, unerwünschtes, anrüchiges oder stigmatisiertes Verhalten von stigmatisierten, marginalisierten, schlecht gestellten Gruppen.2
Raucherentwöhnung in der Praxis
2023 wurde von AM PLUS Initiative für Allgemeinmedizin und Gesundheit ein Konsensus-Statement zum Thema „Raucherentwöhnung in der allgemeinmedizinischen Praxis“ herausgegeben.3 Demnach sind Allgemeinmediziner:innen die erste Anlaufstelle in der Raucherberatung. Vorrangige Ziele in der Raucherbetreuung sind:
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Erfragen und Dokumentation des Rauchverhaltens bei geeignetem Anlass
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Evaluation der Bereitschaft, mit dem Rauchen aufzuhören (Kurzintervention), um die Motivation zum Rauchstopp zu erhöhen
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Bei Bereitschaft zum Rauchstopp Kurzberatung mit Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit und Kohlenmonoxidmessung
Für Raucher, die ihr Rauchverhalten verändern, aber noch nicht gänzlich einstellen können oder möchten, stehen unterschiedliche Strategien der Harm Reduction zur Verfügung. Zur Durchführung einer Raucherentwöhnung oder Harm Reduction gehören das Erstellen eines Therapieplanes mit Auswahl der entsprechenden Methode, die Vereinbarung von Folgekontakten und eine eventuelle Rückfallbetreuung. Nikotinersatzpräparate stellen eine ideale Unterstützung bei Raucherentwöhnung und Harm Reduction dar. Auch E-Zigaretten, Tabakerhitzer oder Nikotinbeutel können hilfreich sein.
Führen Allgemeinmediziner:innen die Behandlung nicht selbst durch, sollen diese den Betroffenen Kontaktadressen vermitteln und sie dorthin überweisen.
Erste Harm Reduction DACH Konferenz
Das Konzept der Harm Reduction hat in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern bisher eine untergeordnete Rolle gespielt. Mit dem Ziel, Wissen und Aktivitäten der Fachgesellschaften zu bündeln, lud die Österreichische Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Suchtkrankheit (ÖGABS) im Juni zum Erfahrungs- und Meinungsaustausch im Rahmen der ersten Harm Reduction DACH Konferenz nach Wien.
Quelle:
Harm Reduction DACH Konferenz, Wien, 23. Juni 2023
Literatur:
1 Nach Körkel J: Colloquium der Gesundheit Österreich GmbH, 24.3.2021 2 King NB: Health Care Anal 2020; 28(4): 324-34 3 AM Plus 2023, https://amplusgesundheit.at/2023/05/24/2023-raucherentwoehnung-in-der-allgemeinmedizinischen-praxis/ (letzter Aufruf: 27.7.2023)
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