„Es besteht großes Interesse und gleichzeitig ein geringer Wissensstand“
Unser Gesprächspartner:
Dr. Hans Haltmayer
2. Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Suchtkrankheit (ÖGABS)
Ärztlicher Leiter der Suchthilfe Wien gGmbH
E-Mail: hans.haltmayer@chello.at
Das Interview führte
Dr. Gabriele Senti
Im Juni trafen sich Fachleute und Interessierte aus dem deutschsprachigen Raum zum Austausch über Harm-Reduction- Ansätze in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dr. Hans Haltmayer, Mitinitiator der ersten Harm Reduction DACH Konferenz, erläutert die Hintergründe zu dieser Veranstaltung.
Harm Reduction, auch Schadensminimierung, bezeichnet Methoden, Programme und Praktiken, die darauf ausgerichtet sind, die individuellen und gesellschaftlichen Schäden des Gebrauchs von Drogen zu reduzieren. Im Gegensatz zu rigorosem Verbot bzw. der Verhinderung des Drogenkonsums stellt Harm Reduction jene Menschen in den Mittelpunkt, die nicht in der Lage oder gewillt sind, den Drogenkonsum einzustellen. Der Begriff und das Prinzip der Harm Reduction etablierte sich in den 80er-Jahren und ist seither Gegenstand internationaler Fachtagungen. Die erste International Harm Reduction Conference fand 1990 in Liverpool, UK, statt und wird seither jedes Jahr in einem anderen Land abgehalten. 2023 hatte die erste Harm Reduction Konferenz der deutschsprachigen Länder Premiere.
Dr. Haltmayer, warum braucht es eine eigene DACH-Konferenz für dieses Thema?
H. Haltmayer: Das Thema Harm Reduction ist stark vom angloamerikanischen Raum geprägt und auf die Problemlagen und strukturellen Voraussetzungen in diesen Ländern und Regionen ausgerichtet. Es ist interessant, was in Australien, den USA oder Kanada in Sachen Harm Reduction passiert, ein enger fachlicher Austausch ist aber schwierig und nicht immer zielführend.So entstand die Idee, die im deutschsprachigen Raum vorhandene Expertise zu bündeln und eine Plattform für den Austausch auf Fachebene zwischen Deutschland, der Schweiz und Österreich zu schaffen. Die Idee dafür ging von der ÖGABS aus und stieß seitens der deutschen und schweizerischen Organisationen sofort auf großes Interesse. Somit haben wir gemeinsam die erste Harm Reduction DACH Konferenz in Wien ins Leben gerufen.
Verlangt die Etablierung bzw. Umsetzung des Konzepts der Harm Reduction vorrangig den Austausch und das „Von-einander-Lernen“ zwischen den Ländern oder auch die aktive Zusammenarbeit, beispielsweise zur Erstellung von Guidelines, Positionspapieren etc.?
H. Haltmayer: Beides. Harm Reduction setzt auf einer individuellen und auf einer gesellschaftlichen Ebene an und umfasst neben gesundheitsbezogenen auch politische und rechtliche Maßnahmen. Um etwas bewirken zu können, ist sowohl ein fachlich-wissenschaftlicher Austausch wie auch eine engere Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung der Länder notwendig.
V.l.n.r: Tobias Rüther, Maurice Cabanis, Tilo Beck, Heino Stöver, Alfred Springer, Hans Haltmayer
Auf welchen Ebenen besteht in Österreich aktuell der größte Handlungsbedarf in Bezug auf das Konzept „Harm Reduction“?
H. Haltmayer: Im Bereich der illegalen Drogen sind die Konzepte und Maßnahmen gut entwickelt und etabliert. Denken wir nur an die Opioid-Agonistenbehandlung, Spritzentaschenprogramme, Drug-Checking-Angebote oder die Testung und Behandlung von Infektionserkrankungen wie HIV und Hepatitis B/C. Einzig zu Konsumräumen konnte man sich in Österreich bislang leider nicht durchringen.
Der größte Handlungsbedarf besteht jedoch beim Tabakkonsum: 1,5 Millionen Menschen in Österreich rauchen täglich und ein Drittel davon hat im letzten Jahr vergeblich versucht, damit aufzuhören. Wir haben es hier also mit einem beträchtlichen gesundheitspolitischen Problem zu tun, dem man mit überwiegend abstinenzorientierten Angeboten und ausgrenzenden Maßnahmen begegnet. Unterstützende HR-Angebote für jene, die eine Nikotinabstinenz nicht wünschen oder denen dieser Schritt nicht gelingt, fehlen weitgehend oder werden strikt abgelehnt. Alternativen zur bekannterweise tödlichen Verbrennungszigarette werden nicht als sinnvolle HR-Maßnahme anerkannt. Das war mit ein Grund, weshalb wir das Thema ins Zentrum der DACH-Konferenz gerückt haben. Abstinenzparadigma, Ausgrenzung, Denormalisierung und Stigmatisierung von Raucherinnen und Rauchern erinnern stark an die Anfänge der HR im Bereich illegaler Drogen vor mehr als 30 Jahren.
Welche Aktivitäten setzt die ÖGABS hinsichtlich der Harm Reduction?
H. Haltmayer: Die ÖGABS veranstaltet jährlich das Substitutions-Forum in Mondsee, wo sich circa 200 Vertreter:innen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich auf fachlicher und gesellschaftspolitischer Ebene zu den verschiedensten Aspekten der Opioid-Agonistentherapie austauschen. Die Fachgesellschaft steht im Austausch mit Entscheidungsträgern der Stadt Wien, der Österreichischen Ärztekammer sowie Vertretern des Gesundheitsministeriums auf Bundesebene und pflegt einen regelmäßigen Austausch mit wichtigen Organisationen und Fachgesellschaften aus der DACH-Region, die letztendlich auch als Kooperationspartner bei der DACH-Konferenz in Wien fungiert haben.
Welche Erkenntnisse haben Sie persönlich aus der Konferenz mitgenommen?
H. Haltmayer: Dass einerseits ein großes Interesse am Thema Harm Reduction und Tabakkonsum besteht und gleichzeitig ein geringer Wissenstand über Alternativen zur Raucherentwöhnung bzw. über Möglichkeiten, die Raucherentwöhnung mit neuen Produkten zu unterstützen. Insgesamt wurde im Rahmen der DACH-Konferenz deutlich, dass in allen deutschsprachigen Ländern eine Tabakpolitik erforderlich ist, die sowohl abstinenzorientierte als auch evidenzbasierte Schadensminderungsstrategien umfasst. Es sollten individuelle Strategien möglich sein, um Raucherinnen und Raucher bei der Raucherentwöhnung zu unterstützen und so die Zahl der rauchbedingten Todesfälle zu verringern.
Wird dieses Tagungskonzept weitergeführt werden?
H. Haltmayer: Ja, selbstverständlich. Die zweite Harm Reduction DACH Konferenz wird nächstes Jahr in der Schweiz stattfinden, um den Austausch und die Diskussion über Schadensminderung in Deutschland, Österreich und der Schweiz fortzusetzen und die Basis für eine gute Praxis und evidenzbasierte Sucht- und Drogenpolitik zu verbreitern.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Quelle:
Harm Reduction DACH Konferenz, 23. Juni 2023, Wien
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