„Fracture-Liaison-Dienste sind überfällig“
Unser Gesprächspartner:
Dr. Bernhard Rintelen
2. Medizinische Abteilung
NÖ Kompetenzzentrum für Rheumatologie
Karl Landsteiner Institut für klinische Rheumatologie, Landesklinikum Stockerau
Das Interview führte Dr. Felicitas Witte
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Der Dachverband Osteologie (DVO) hat im September 2023 ein Update der Osteoporose-Leitlinie herausgegeben.1 Es beschreibt ausführlich die aktuelle Evidenz zu Prophylaxe, Diagnostik und Therapie bei postmenopausalen Frauen und Männern ab 50Jahren. Dr. Bernhard Rintelen ist einer der Autoren der Leitlinie. Er erklärt, welche Neuerungen für den Alltag am wichtigsten sind und wie man den Risikorechner anwendet.
Warum war es notwendig, die Leitlinie zu aktualisieren?
B. Rintelen: Die letzte Version stammte aus dem Jahr 2017. Es war also höchste Zeit, den neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen, hier auch im Besonderen der Frage, wann osteoanabol und wann antiresorptiv behandelt werden soll. Die Pandemie hat ein früheres Erscheinungsdatum verhindert.
Welche Aspekte der neuen Leitlinie sollten besonders berücksichtigt werden?
B. Rintelen: Dass das Frakturrisiko nach der neuen Leitlinie für 3 Jahre angegeben wird und dass ab einem Risiko von 3–5% eine Therapie in Betracht gezogen werden sollte, wenn starke oder irreversible Risikofaktoren bestehen oder wenn ein imminentes Risiko besteht, zum Beispiel ein unerklärbarer Sturz im letzten Jahr oder eine hoch dosierte Glukokortikoidtherapie über mehr als 3 Monate. Mitnehmen sollte man auch, dass bei einem Risiko von 5–10% eine antiresorptive Therapie empfohlen werden sollte und alternativ auch eine osteoanabole Therapie in begründeten Fällen erwogen werden kann. Ab einem Risiko von 10% soll eine osteoanabole Therapie empfohlen werden. Wichtig ist zudem, dass in der neuen Leitlinie für die Risikokalkulation nur mehr der T-Score der Messung am „Femur gesamt“ herangezogen wird. Der TBS („trabecular bone score“) kann ebenfalls in das Risikoassessment einfließen.
Wurden auch Veränderungen am Layout und an der sprachlichen Formulierung vorgenommen?
B. Rintelen: Die Leitlinie wurde „entrümpelt“, Empfehlungen sind hervorgehoben und im Inhaltsverzeichnis kommt man durch Anklicken zu den einzelnen Kapiteln. Genauso sind die Referenzen verlinkt. Ich finde, das ist eine Verbesserung des „Handlings“ gegenüber der früheren Leitlinie. Dass die Sprache teilweise etwas umständlich ist, liegt daran, dass viele Gesellschaften an den einzelnen Formulierungen gefeilt haben und einmal konsentierte Formulierungen nicht mehr redaktionell verändert werden können. Geänderte Formulierungen müssten dann erneut den Abstimmungsprozess durchlaufen.
Gab es unter den Leitlinienautor:innen Streitpunkte oder Kontroversen?
B. Rintelen: Die Leitlinie wurde gründlich diskutiert, und zwar mit 37 Expert:innen von 21 Gesellschaften aus Österreich, Deutschland und der Schweiz mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen und teilweise unterschiedlichen Patienten. Beteiligt waren hausärztlich geprägte Fachgesellschaften (Allgemeinmedizin), Unfallchirurgie, Gynäkologie, Implantologie in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde und interne Fachgruppen mit unterschiedlicher Spezifikation, etwa Rheumatologie oder Endokrinologie. Dafür, dass so viele verschiedene Expert:innen beteiligt waren, verlief die Diskussion sehr gut und es gab kaum Konflikte. Dies spiegelt sich in der hohen Zustimmung zu den einzelnen Empfehlungen wider. Es gab nur vereinzelt Sondervota zu einzelnen Empfehlungen, die nicht ausräumbar waren und entsprechend auch angeführt sind – vor allem zur Anwendung osteoanaboler Substanzen.
Die Leitlinie hat 420 Seiten. Ist das nicht zu viel für den Praxisalltag?
B. Rintelen: Ich stimme Ihnen zu. Es gibt aber eine Kurzfassung mit 15 Seiten, die alle wesentlichen Punkte der neuen Leitlinie enthält. Falls eine weitere Vertiefung in einzelne Kapitel gewünscht ist, hat man ein umfangreiches Werk vorliegen, das fundierte Auskunft geben sollte. Wir hielten es für wichtig, alle Aspekte so ausführlich zu behandeln, unter anderem auch um starke Argumente für meine Therapieentscheidungen zu erhalten.
Was ist die wichtigste Botschaft für Erstversorger einer Fraktur?
B. Rintelen: Vor allem die unfallchirurgisch tätigen Kolleg:innen sehen oft als erste Frakturen, die nach einem niedrigenergetischen Trauma aufgetreten sind. Spätestens hier sollte im Rahmen eines Fracture-Liaison-Dienstes oder zumindest im Arztbrief das Thema Osteoporose angesprochen und nach entsprechender Evaluierung eine Therapieempfehlung ausgesprochen werden. Fracture-Liaison-Dienste beschreiben die interdisziplinäre Kooperation zwischen osteologisch tätigen Ärzt:innen und Unfallchirurg:innen bzw. Primärversorgern bei einer Fraktur. Gleich zum Zeitpunkt der Fraktur soll also mit einer Sekundärprävention begonnen werden. Häufig betrifft dies Patienten mit einem imminenten Frakturrisiko, also etwa mit einer niedrigenergetischen Hüft- oder Wirbelkörperfraktur, und entsprechend sollte hier gehandelt werden.
Auf den ersten Blick ist nicht ganz klar, wie der neue Risikorechner der DVO funktioniert. Ist er problemlos im Alltag anwendbar?
B. Rintelen: Das ist die einzige, aber überwindbare Schwäche dieser Leitlinie: Es fehlt noch der elektronische Risikokalkulator. Vorläufig muss man sich mit der Papierform abfinden, die aber, so man das Prinzip verstanden hat, auch sehr praktikabel ist. Der elektronische Risikorechner soll spätestens Ende des Jahres 2024 vorliegen, eine provisorische Variante möglicherweise schon früher. Es sollte nur ein elektronischer Rechner verwendet werden, der auf der DVO-Homepage publiziert wird.
Wie berechnet man das Risiko mit dem Papierkalkulator?
B. Rintelen: In der Kurzversion der Leitlinie gibt es zuerst eine Tabelle mit Risikofaktoren, das ist die Tabelle 2.1. Jedem dieser Risikofaktoren ist ein entsprechender Faktor zugeordnet, der angibt, wie sehr er in das Risikokalkül einfließen wird. So hat beispielsweise ein Typ-1-Diabetes den Faktor 2,5, Typ-2-Diabetes seit 5–10 Jahren hat den Faktor 1,2, ein Body-Mass-Index zwischen 15 und 18 den Faktor 1,7 und Zustand nach Hüftfraktur den Faktor 4,1. Schon hier kann man feststellen, welche der Risikofaktoren ein besonderes Gewicht haben. Maximal zwei dieser Risikofaktoren (die am höchsten bewerteten) können herangezogen werden. Diese werden dann miteinander multipliziert. Eine untergewichtige Patientin, die seit 7 Jahren Typ-2-Diabetes hat, hätte also den Faktor 1,7 x 2,5 = 4,25.
Hat nun mein Patient einen oder mehrere dieser Risikofaktoren, kann ich anhand je dreier Tabellen für Frauen und Männer (Tab. 3.2 in der Kurzversion) auch schon ohne Knochendichtemessergebnis (Spalte „ohne BMD“) abschätzen, ob die Risikoschwelle erreicht wird.
Nehmen wir an, unsere Patientin ist 50 Jahre alt. Dann müssten ihre Risikofaktoren 13 ergeben, damit sie die 3%-Risikoschwelle erreicht und wir eine Therapie überlegen können. Wäre die Patientin 65, hätte sie die Schwelle schon mit 3 Punkten erreicht, und wäre sie 75 Jahre alt, bereits mit 1,1 Punkten. Ich muss also in der Tabelle 3.2 jeweils nur beim entsprechenden Alter meiner Patientin schauen, welcher Faktor dafür notwendig ist.
Habe ich eine Knochendichtemessung vorliegen, so verwende ich den T-Score „Hüfte gesamt“. Nehmen wir an, dieser ist –2,0. Das ist in der Tabelle 3.2 die Spalte 7. Dann erreicht meine Patientin mit einem Diabetes mellitus Typ 2, den sie schon mehr als 10 Jahre hat (Faktor 1,6), die 3%-Hürde schon mit 60–65 Jahren, die 5%-Hürde mit 70 und die 10%-Hürde mit 80 Jahren.
Habe ich nun einen zweiten Risikofaktor aus der Liste – beispielsweise eine niedrig dosierte länger dauernde Cortisontherapie zwischen 2,5 und 5mg täglich über mehr als 3 Monate (Faktor 2,3) –, dann multipliziere ich diese beiden Risikofaktoren (1,6 x 2,3) und erhalte somit den Faktor 3,7. Damit erreicht meine Patientin mit T-Score –2,0 die 5%-Schwelle schon zwischen 55 und 60 Jahren und sollte somit eine Therapie erhalten.
Was ist, wenn ein Patient 3 Risikofaktoren hat?
B. Rintelen: Dann werden nur die zwei mit der höchsten Punktzahl gewertet. Es gibt zwei Besonderheiten bei den Risikofaktoren: Die rheumatoide Arthritis und die Glukokortikoide sind in einer Gruppe zusammengefasst, ebenso wie die Gruppe der Sturzrisiko-assoziierten Risikofaktoren aus Geriatrie und Neurologie. Liegen mehrere Risikofaktoren aus jeweils diesen Gruppen vor, etwa apoplektischer Insult und Morbus Parkinson, dann wird nur der stärkste aus dieser Gruppe gewertet, also in unserem Beispiel nur der Morbus Parkinson.
Das klingt sehr kompliziert …
B. Rintelen: Das mag sein, aber wenn man das einmal ausprobiert, ist es gar nicht so schwierig. Nach zwei- bis dreimaliger Durchführung geht das fast wie von selbst. Der elektronische Rechner wird das natürlich noch wesentlich vereinfachen. Die jeweiligen Faktoren werden dann auch nach Alter unterschiedlich gewichtet hinterlegt sein. In der Papierversion sind die Faktoren für einen 70-jährigen Patienten herangezogen.
Warum haben Sie einen neuen Rechner für das Frakturrisiko eingeführt?
B. Rintelen: Im FRAX gilt das 10-Jahres-Frakturrisiko. Auch wenn es mortalitätsbereinigt ist, sehen wir hier ein Problem bei der älteren Bevölkerung. In der DVO-Risiko-Einschätzung haben wir das 3-Jahres-Risiko für Frakturen ausgewiesen. Auch haben wir versucht, mehr Risikofaktoren in unseren Rechner zu packen, als dies im FRAX der Fall ist, unter anderem Stürze, ein pathologischer „Timed-up-and-go“-Test, Diabetes und Morbus Parkinson.
In den letzten Jahren wurde immer wieder über Vitamin D diskutiert. Manche Menschen sind nun verunsichert. Wie gut ist die Evidenz, dass eine Kalzium- bzw. Vitamin-D-Supplementierung das Frakturrisiko senkt?
B. Rintelen: Suchen Sie im Inhaltsverzeichnis den Abschnitt zu Vitamin D, Sie werden durch Anklicken auf Seite 235 geleitet. Es stimmt, dass hier nichts über eine Senkung des Frakturrisikos steht. Für die alleinige Gabe von Vitamin D ohne entsprechende Kalziumzufuhr – sei es diätetisch oder durch Supplement – gibt es keine Evidenz. Geht man zum Kapitel „Calcium“, findet man folgenden Satz: „Die gleichzeitige Einnahme von Calcium und Vitamin D kann das Frakturrisiko für Hüftfrakturen und auch alle anderen Frakturen senken. Die Vorteile der Therapie sollten gegenüber den möglichen Risiken, wie z.B. Nierensteinen oder Nierenerkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder auch Herzerkrankungen, abgewogen werden.“ Wichtig erscheint mir, dass ausreichend Kalzium durch Diät oder Supplement vorhanden ist und ebenso genügend Vitamin D, entweder durch „Eigenproduktion“ oder durch Zufuhr von außen.
Gehen Sie bezüglich Therapie in Österreich genauso vor wie in der Leitlinie empfohlen?
B. Rintelen: Im Großen und Ganzen ja. Als Mitarbeiter der Leitlinienkommission wäre jedes andere Vorgehen merkwürdig. Für die Therapieentscheidung braucht man nicht unbedingt unseren Papierrechner, wenn einem das zu kompliziert erscheint; man kann den bisherigen FRAX-Rechner nutzen. Hier gibt es auch einen elektronischen Rechner, diesen finde ich sehr praktisch und er ist für Österreich evaluiert. Man muss aber bedenken, dass wir in der DVO-Leitlinie mehr Risikofaktoren aufgenommen haben als im FRAX-Rechner. Die DVO-Leitlinie ist sicher sehr hilfreich, diese Lücke zu schließen. Und das elektronische Tool dazu sollte in diesem Jahr noch auf der Homepage des DVO abrufbar sein. Außer Bazedoxifen stehen uns in Österreich sämtliche in der DVO-Leitlinie aufgeführten Medikamente zur Verfügung.
Was halten Sie von den erwähnten Managed-Care-Modellen? Gibt es so etwas auch in Österreich?
B. Rintelen: Fracture-Liaison-Dienste sind in allen Kliniken überfällig, die Frakturen versorgen. Ist das eingetreten, was eigentlich schon im Vorfeld verhindert werden sollte – nämlich die niedrigtraumatische Fraktur – ist es höchste Zeit, sich darum zu kümmern, weitere Frakturen zu verhindern. Deshalb brauchen wir in jedem Spital, das Frakturen versorgt, diese Dienste. In einigen Kliniken gibt es sie schon. Auch wir in Stockerau/Korneuburg versuchen einen solchen Dienst aufzubauen. Es scheitert aber oftmals an zeitlichen Ressourcen. Solche Dienste sollten oder müssen ausgebaut werden und entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden, also beispielsweise Mitarbeiter, die sich speziell darum kümmern und dafür auch ausreichend Arbeitszeit zur Verfügung haben. Es wäre auch wünschenswert, weitere Dienste zum Standard zu machen, z.B. das wohnliche Umfeld der Patientinnen und Patienten zu evaluieren, um etwa Stolperfallen zu beseitigen, für ausreichend Licht in der Wohnung zu sorgen oder um sich anzuschauen, was der Patient isst. Um Osteoporose und osteoporotische Frakturen zu verhindern, gibt es noch einiges zu tun.
Erklärvideo zur neuen DVO-Leitlinie
Auf der Website des DVO ist ein Video abrufbar, in dem die Therapieschwellenbestimmung anhand von Beispielen erklärt wird.
https://dv-osteologie.org/uploads/Therapieschwellenbestimmung_Tonaufnahme.mp4
Literatur:
1 DVO: S3-Leitlinie Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei postmenopausalen Frauen und bei Männern ab dem 50. Lebensjahr. AWMF-Register-Nr.: 183/001
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