
Einsatz von Cannabis und Cannabinoiden bei chronischen Schmerzen
Autor:
Dr. med. Matthieu Cachemaille
Médecin-chef SSIPM, FIPP, CIPS
FMH anesthésiologie et antalgie
interventionnelle
Clinique de la douleur, Hôpital de la Tour
Meyrin
E-Mail: matthieu.cachemaille@latour.ch
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Seit den 2000er-Jahren erfreuen sich Cannabis und Cannabinoide in medizinischen Kreisen zunehmender Beliebtheit, insbesondere als Alternative zu Opioidanalgetika. Indem sie auf die im zentralen Nervensystem und in den Immunzellen vorhandenen CB1- und CB2-Rezeptoren einwirken, können sie entzündungshemmende und schmerzstillende Wirkung entfalten. Es können jedoch Nebenwirkungen auftreten, weshalb ihre Indikation zur Behandlung chronischer Schmerzen umstritten ist.
Keypoints
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Die schmerzlindernden Wirkungen von Cannabinoiden, die hauptsächlich eine Mischung aus THC und CBD oder THC allein enthalten, wurden zum Grossteil bei chronischen neuropathischen Schmerzen nachgewiesen, bei denen eine mässige Verringerung der Schmerz-Scores beobachtet wurde.
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Die positiven Effekte von Cannabinoiden müssen gegenüber ihren Nebenwirkungen, die dosisabhängig sind, abgewogen werden. Für alle Arten von chronischen Schmerzen zusammengenommen müssten 24 Patienten behandelt werden, um bei einem Patienten einen positiven Effekt in Form einer 30-prozentigen Schmerzminderung zu erzielen.
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Jeder Arzt kann Cannabinoide mit einem THC-Gehalt von <1% auf einem normalen Rezept verschreiben. Bei Cannabinoidkonzentrationen von über 1% THC ist hingegen ein Betäubungsmittelrezept erforderlich. Die Betäubungsmittelverordnung sollte über http://gate.bag.admin.ch/mecanna/ dokumentiert werden, um die Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten.
Chronische Schmerzen sind ein Problem der öffentlichen Gesundheit, denn fast 20% der Bevölkerung leiden unter mittelschweren bis schweren Schmerzen.1 Die Verschreibung von Opioiden wurde Anfang der 2000er-Jahre weitgehend banalisiert, was leider zu ihrer derzeitigen Epidemie in Nordamerika geführt und diese begünstigt hat. Zur gleichen Zeit entstand ein wachsendes Interesse an medizinischem Cannabis und Cannabinoiden, insbesondere im onkologischen Bereich als Antiemetikum, aber auch zur Behandlung chronischer Schmerzen und als Ersatz für Opioide.2
Die verschiedenen Cannabinoide
Es gibt drei Formen von Cannabinoiden: Endocannabinoide, Phytocannabinoide und synthetische Cannabinoide.
Die endogenen Endocannabinoide werden in den postsynaptischen Neuronen synthetisiert und binden an G-Protein-gekoppelte CB1- und CB2-Rezeptoren auf den präsynaptischen Neuronen. Die beiden wichtigsten sind Anandamid und 2-Arachidonylglycerol.3
Die CB1-Rezeptoren befinden sich in den Neuronen des zentralen Nervensystems (periaquäduktales Grau, Rückenmark, Thalamus) und die CB2-Rezeptoren in Immun- und Entzündungszellen (Mikroglia), die das periphere und zentrale Nervensystem modulieren.
Phytocannabinoide (Marihuana) werden aus der Pflanze Cannabis sativaL. gewonnen und enthalten in der Regel die beiden Derivate Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD).
Synthetische bzw. medizinische Cannabinoide bestehen aus THC und CBD in unterschiedlichen Anteilen. Nabiximols (Sativex®), dessen ursprüngliche Indikation die Behandlung von Spastik bei Multipler Sklerose war, enthält etwa 50% THC und 50% CBD. Cannabidiol (Epidyolex®), das bei schwerer refraktärer Epilepsie indiziert ist, enthält nur CBD. Dies sind die beiden Medikamente, die im Compendium der Schweiz geführt werden. Bei allen anderen handelt es sich um magistrale Zubereitungen.
THC weist eine ähnliche Affinität zu den CB1- und den CB2-Rezeptoren auf und ruft über die Stimulation der CB1-Rezeptoren psychotrope Effekte hervor. Es soll schmerzstillende, muskelrelaxierende und antiemetische Wirkungen besitzen. CBD soll indirekt auf die Cannabinoid-Rezeptoren wirken und entzündungshemmende, antiepileptische und angstlösende Effekte besitzen, aber keine psychoaktiven Wirkungen haben.4
Cannabinoide und chronische Schmerzen
Chronische Schmerzen werden in drei verschiedene Gruppen unterteilt: nozizeptive Schmerzen (Gewebeschäden), neuropathische Schmerzen (Nervenschäden) und noziplastische Schmerzen (Sensibilisierung des Nervensystems).5
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Nozizeptive Schmerzen können somatisch oder viszeral bedingt sein und treten in Zusammenhang mit muskuloskelettalen Erkrankungen wie Osteoarthritis, Tendinitis und Bursitis oder viszeralen abdominalen Erkrankungen (Ulzera, Nierensteine) auf.
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Neuropathische Schmerzen umfassen Schädigungen des zentralen Nervensystems (Schmerzen nach Schlaganfall, Myelitis) oder des peripheren Nervensystems (postoperative, postzosterische oder postchemotherapeutische Schmerzen).
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Noziplastische Schmerzen sind eine relativ neue Gruppe und umfassen Krankheitsbilder wie Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom, temporomandibuläre Dysfunktionen oder auch primäre Lumbalgie. Sie resultieren aus einer Veränderung der Nozizeption durch eine Verminderung der absteigenden Schmerzhemmung oder auch durch eine Aktivierung des Immunsystems.6
Die meisten Studien zu Cannabinoiden und chronischen Schmerzen wurden im Bereich der neuropathischen Schmerzen durchgeführt.
In den neuesten Literaturübersichten wurden synthetische Cannabinoide wie Dronabinol (reines THC) oder Nabiximols (50% THC, 50% CBD) mit Placebo oder einer physikalischen Behandlung (Physiotherapie) verglichen.7,8 Daraus geht hervor, dass diese Cannabinoide im Vergleich zu anderen Behandlungen mit einer NNTB («number needed to benefit») von 20 (von 20 behandelten Patienten erzielt ein Patient den Behandlungseffekt) eine mässige Schmerzreduktion ermöglichen und einen Rückgang der Schmerzen um ≥50% bewirken können. Zentrale neuropathische Schmerzen schienen besser abgedeckt zu sein.
Vor Kurzem befasste sich eine Studie mit den Auswirkungen von Cannabinoiden auf die Schlafqualität von chronischen Schmerzpatienten.9 Diese soll im Vergleich zu Placebo verbessert sein (6 analysierte Studien mit hauptsächlich THC oder THC+CBD). Gleichzeitig soll jedoch signifikant mehr Schläfrigkeit am Tag auftreten. In Bezug auf Schmerzen wurden mit diesen Cannabinoiden ebenfalls positive Effekte festgestellt (GRADE: moderat), was für einen mässigen Empfehlungsgrad spricht. Im Vergleich zu Placebo überwogen jedoch die Nebenwirkungen wie Schwindel und Übelkeit (GRADE: hoch).
Mit Blick auf nozizeptive Schmerzen gibt es nur wenige Studien zum Vergleich der Wirkung von Cannabinoiden auf Arthroseschmerzen oder entzündliche Erkrankungen (rheumatoide Arthritis). Dennoch zeigte eine Metaanalyse von acht Studien eine positive Wirkung von Cannabinoiden auf die Schmerzreduktion im Vergleich zu Placebo.10 Die durchschnittliche Wirkung war eine Reduktion um –0,60 von 10 Punkten auf der visuel-len Analogskala.
Im Bereich der noziplastischen Schmerzen wurde in letzter Zeit viel Interesse an der Wirkung neuer Behandlungen gezeigt, da es schwierig ist, Patienten mit Erkrankungen wie Fibromyalgie Linderung zu verschaffen. In diesem Zusammenhang betrachtete eine Cochrane-Studie zwei Studien, in denen Nabilon (synthetisches THC) mit Amitriptylin sowie Nabilon mit Placebo verglichen wurde, ohne dass eine Wirkung auf die Schmerzen zu beobachten war.11 Allerdings waren die Nebenwirkungen stärker ausgeprägt (Übelkeit, Schwindel, Schläfrigkeit).
In einer Studie wurden bei 20 Patienten mit Fibromyalgie drei verschiedene inhalierte Cannabinoide (THC>CBD, THC =CBD, CBD>THC) und ein Placebo miteinander verglichen.12 Das Cannabinoid mit THC=CBD war das einzige, das im Vergleich zu Placebo eine 30-prozentige Verringerung der Schmerzen bewirkte.
Zwei Literaturübersichten geben einen niedrigen Empfehlungsgrad für Cannabinoide zur Behandlung noziplastischer Schmerzen an.13,14 Eine Behandlung über vier Wochen hinaus scheint wirksamer zu sein, dies jedoch nur, wenn andere Erstlinienbehandlungen versagt haben.
Cannabinoide und chronische Krebsschmerzen
Bei Krebsschmerzen handelt es sich meist um eine Mischung aus nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen. Sie können durch den Tumor selbst und seine Metastasen, die resultierende mechanische Kompression und die Entzündungsreaktion im umliegenden Gewebe verursacht werden. Sie können auch auf die Folgen von Strahlen- und Chemotherapien zurückzuführen sein, die vermehrt neuropathische Schmerzen hervorrufen, da sie die kleinen Nervenfasern erreichen.
In Bezug auf die Wirkung auf Krebsschmerzen wurden fünf randomisierte kontrollierte Studien analysiert.15 Nabiximols (50% THC, 50% CBD) führte nicht zu einer stärkeren Schmerzlinderung als Placebo, verursachte aber signifikant mehr Nebenwirkungen (Schwindel und Schläfrigkeit).
Verordnung und rechtliche Aspekte
In der Schweiz ist es seit dem 1. August 2022 für jeden Arzt möglich, medizinisches Cannabis zu verschreiben, ohne vorher eine Bewilligung beim BAG beantragen zu müssen.
Cannabinoide mit einem THC-Gehalt von <1% können auf einem normalen Rezept verschrieben werden. Bei Cannabinoidkonzentrationen von über 1% THC ist hingegen ein Betäubungsmittelrezept erforderlich. Die Betäubungsmittelverordnung sollte über http://gate.bag.admin.ch/mecanna/ dokumentiert werden, um die Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten.
Cannabinoide werden bei chronischen Schmerzen in der Regel nicht von den Krankenkassen erstattet. In manchen Fällen wird jedoch ein Antrag beim Vertrauensarzt der Versicherung akzeptiert.
Einige Apotheken stellen magistrale Zubereitungen in Ölform her (THC 0,5% CBD 20% oder THC 2,7% CBD 2,5%), die eine bessere Aufnahme ermöglichen als Tabletten.
Die Behandlung sollte mit niedrigen Dosen begonnen und allmählich gesteigert werden; bei einer Lösung mit 0,5% THC und 20% CBD bietet sich eine Anfangsdosis von 0,5mg THC und 20mg CBD 3x täglich an. Die Dosis kann nach und nach erhöht werden und wird beibehalten, sobald die ersten Wirkungen eintreten.
Aus rechtlicher Sicht gelten Cannabinoide mit einem Gesamt-THC-Gehalt von weniger als 1,0% nach der BetmVV-EDI nicht als Betäubungsmittel. Cannabinoide mit einem Gehalt von 1% oder mehr sind inzwischen keine verbotenen Betäubungsmittel mehr, sondern Substanzen, die sämtlichen Kontrollmassnahmen von Swissmedic unterliegen.
Bei Fahrten und Unfällen unter THC-Einfluss gilt in der Schweiz eine «Nulltoleranz» mit einem analytischen Grenzwert von 1,5µg/l (=1,5ng/ml) im Blut, ausser bei ärztlichen Verordnungen, bei denen die Fahrtüchtigkeit von Fall zu Fall beurteilt wird.
Fazit
Die positiven Effekte von Cannabinoiden müssen gegenüber ihren Nebenwirkungen abgewogen werden, die dosisabhängig sind. Für alle Arten chronischer Schmerzen zusammengenommen müssten 24 Patienten behandelt werden, um bei einem Patienten einen positiven Effekt in Form einer 30-prozentigen Schmerzminderung zu erzielen (NNTB: 24).16
Was die Nebenwirkungen betrifft, so bleiben diese in den meisten Fällen leicht ausgeprägt und treten bei 26% der Patienten auf. 13,5% davon sind psychischer Natur (Angstzustände, Paranoia, Halluzinationen), vor allem nach einer Behandlungsdauer von mehr als 24 Wochen. Schwere Nebenwirkungen (kognitive Störungen, Unfälle, Abhängigkeit) sind mit einer Häufigkeit von weniger als einem von 20 Patienten selten.17 Letztlich bestünde bei einem von sechs behandelten Patienten das Risiko, Nebenwirkungen zu entwickeln (NNH: 6).16
Hinsichtlich der Wirksamkeit der verschiedenen Cannabinoide bei der Behandlung chronischer, hauptsächlich nicht krebsbedingter Schmerzen scheint CBD allein weniger wirksam zu sein als die Kombination CBD+THC oder THC allein.18 Allerdings liegen zu CBD allein, welches besser verträglich zu sein scheint, weniger Studien vor.
Letztendlich sind medizinisches Cannabis und Cannabinoide Behandlungen, die in Betracht gezogen werden sollten, wenn andere Therapien versagen, wobei das Profil jedes einzelnen Patienten und seine Komorbiditäten berücksichtigt werden müssen.
Literatur:
1 Breivik H et al.: Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact on daily life, and treatment. Eur J Pain 2006; 10: 287-333 2 Whiting PF et al.: Cannabinoids for medical use: A systematic review and meta-analysis. JAMA 2015; 313: 2456-73 3 Manzanares J et al.: Role of the cannabinoid system in pain control and therapeutic implications for the management of acute and chronic pain episodes. Curr Neuropharmacol 2006; 4: 239-57 4 MacCallum CA, Russo EB: Practical considerations in medical cannabis administration and dosing. Eur J Intern Med 2018; 49: 12-9 5 Cohen SP et al.: Chronic pain: an update on burden, best practices, and new advances. Lancet 2021; 397: 2082-97 6 Fitzcharles MA et al.: Nociplastic pain: towards an understanding of prevalent pain conditions. Lancet 2021; 397: 2098-2110 7 Meng H et al.: Selective cannabinoids for chronic neuropathic pain: A systematic review and meta-analysis. Anesth Analg 2017; 125: 1638-52 8 Mücke M et al.: Cannabis-based medicines for chronic neuropathic pain in adults. Cochrane Database Syst Rev 2018; 3: CD012182 9 McParland AL et al.: Evaluating the impact of cannabinoids on sleep health and pain in patients with chronic neuropathic pain: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Reg Anesth Pain Med 2023; 48: 180-90 10 Wong SSC et al.: Analgesic effects of cannabinoids for chronic non-cancer pain: a systematic review and meta-analysis with meta-regression. J Neuroimmune Pharmacol 2020; 15: 801-29 11 Walitt B et al.: Cannabinoids for fibromyalgia. Cochrane Database Syst Rev 2016: 7: CD011694 12 van de Donk T et al.: An experimental randomized study on the analgesic effects of pharmaceutical-grade cannabis in chronic pain patients with fibromyalgia. Pain 2019; 160: 860-9 13 Fitzcharles MA et al.: Cannabis-based medicines and medical cannabis in the treatment of nociplastic pain. Drugs 2021; 81: 2103-16 14 Giossi R et al.: Systematic review and meta-analysis seem to indicate that cannabinoids for chronic primary pain treatment have limited benefit. Pain Ther 2022; 11: 1341-58 15 Boland EG et al.: Cannabinoids for adult cancer-related pain: systematic review and meta-analysis. BMJ Support Palliat Care 2020; 10: 14-24 16 Stockings E et al.: Cannabis and cannabinoids for the treatment of people with chronic noncancer pain conditions: a systematic review and meta-analysis of controlled and observational studies. Pain 2018; 159: 1932-54 17 Zeraatkar D et al.: Long-term and serious harms of medical cannabis and cannabinoids for chronic pain: a systematic review of non-randomised studies. BMJ Open 2022; 12: e054282 18 Wang L et al.: Medical cannabis or cannabinoids for chronic non-cancer and cancer related pain: a systematic review and meta-analysis of randomised clinical trials. BMJ 2021; 374: n1034
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