© izzuan - stock.adobe.com

Gesundheitspolitik

Wie lassen sich die steigenden Medikamentenpreise stoppen?

Steigende Preise und Lieferengpässe bei lebensnotwendigen Therapien – diese Szenarien könnten in der Schweiz zukünftig häufiger auftreten. Verantwortlich dafür sind die aktuelle Preispolitik, die essenzielle Faktoren wie das therapeutische Value zu wenig berücksichtigt und Rabatte nicht öffentlich macht, die immer häufigeren beschleunigten Medikamentenzulassungen und das «Cancer Premium».

Die steigenden Medikamentenpreise in den USA und zunehmend auch in Europa sind besorgniserregend. Die Folgen der Preispolitik illustrierten sich jüngst am Beispiel von Medikamenten zur Gewichtsreduktion. Die hohe Nachfrage führte dazu, dass in den USA die Kostenrückerstattung für diese Medikamente zunehmend infrage gestellt wird, während sie in den europäischen Ländern für Lieferengpässe sorgte. Das Problem der Medikamentenknappheit könnte uns gemäss Kerstin Vokinger zukünftig in Europa häufiger drohen. Die Professorin für Recht und Medizin an der Universität Zürich verglich in ihrem Referat am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie die hiesige Preispolitik mit dem Vorgehen in den USA und sprach über die künftigen Herausforderungen. So viel vorweg: Herr und Frau Schweizer sind nicht ohne Grund besorgt über die Gesundheit, Krankenversicherungsbeiträge und den Zugang zu Medikamenten (Tab. 1).1

<< Der grössere Markt und die Preispolitik in den USA sind für die Pharmafirmen attraktiver als in Europa.>>
K. Vokinger, ZürichK. Vokinger, Zürich

Tab. 1: Die 10 Hauptsorgen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Quelle: Credit Suisse Sorgenbarometer 2022

Medikamentenpreise in den USA nehmen jährlich um 20 Prozent zu

Zunächst einmal kann man sagen, dass die Preise für neue verschreibungspflichtige Medikamente mit jedem Jahr zunehmen. «Dieser Trend zeigt sich nicht nur in den USA, sondern auch in den europäischen Ländern, inklusive der Schweiz», sagte die Referentin. Dazu präsentierte sie die Ergebnisse einer Studie, die basierend auf den jährlichen Behandlungskosten den initialen Launchpreis für 548 Medikamente kalkulierte, die im Zeitraum von 2008 bis 2021 in den USA neu auf dem Markt eingeführt wurden.2 Wie die Ergebnisse zeigten, stieg der mediane Launchpreis von 2115 US-Dollar pro Jahr (USD/Jahr) im Jahr 2008 auf 180007 USD/Jahr im Jahr 2021 an. Dies entsprach einer Zunahme der unbereinigten medianen Launchpreise von 20% pro Jahr. Am höchsten waren die Preise von Medikamenten zur Behandlung von «rare diseases» mit 168441 USD/Jahr und Krebserkrankungen mit 155091 USD/Jahr. Die verglichen mit der Schweiz und Deutschland deutlich höheren Launchpreise in den USA zeigten sich auch in einer Studie zur Preisentwicklung bei den CDK4/6-Inhibitoren zur Behandlung des metastasierenden Mammakarzinoms (Abb. 1).3 Als Ursache für die Preisdifferenzen nannte die Referentin die Unterschiede bei der Preisregulierung. Anders als in der Schweiz, wo vor der Marktzulassung und als Voraussetzung für die Rückvergütung durch die Krankenversicherer Preisverhandlungen geführt werden, können die Firmen in den USA die Preise frei bestimmen. In der Schweiz werden zudem die Medikamentenpreise alle drei Jahre neu verhandelt, was im Verlauf zu einer Preisreduktion führt. Im Unterschied dazu stiegen die Medikamentenpreise für die CDK4/6-Inhibitoren in den USA parallel zu den Preisen der Mitbewerber weiter an. «Das zeigt, dass der Wettbewerb im Medikamentenmarkt vor allem bei den neu zugelassenen Medikamenten nicht funktioniert», sagte Vokinger. Ein vergleichbares Bild zeigte sich auch bei den ALK-Inhibitoren zur Therapie von nichtkleinzelligen Lungenkarzinomen (NSCLC).4

Abb. 1: Preisentwicklung bei den CDK4/6-Inhibitoren (adaptiert nach Vokinger KN et al. 2022)3

Eine andere wichtige Beobachtung der Studien war, dass die Medikamente zuerst in den USA und dann in Europa erhältlich sind. «Neben dem grösseren Markt USA ist für die Firmen auch die Preispolitik attraktiver als in Europa», so die Referentin. Die verzögerte Markteinführung könne in einer globalisierten Welt, wo die Nachfrage nach neuen, besseren Therapien gross ist, ein Nachteil sein.

Fehlende Transparenz bei Medikamentenrabatten

Der Medikamentenpreis in der Schweiz wird zur Hälfte durch den internationalen Referenzpreis («reference pricing») und durch den Wert («value-based pricing») bestimmt. Der Referenzpreis wird ermittelt, indem die Preise für das Medikament in Ländern mit ähnlicher Wirtschaftsleistung verglichen werden. Der Preis in der Schweiz darf den ermittelten Referenzpreis um max. 20% übersteigen. Der Wert des Medikamentes wird anhand der «clinical effectiveness», in einigen Ländern auch anhand der «cost effectiveness», ermittelt.

<< Die in der Spezialitätenliste angegebenen Preise reflektieren oft nicht die tatsächlichen Medikamentenpreise.>>
K. Vokinger, Zürich

«Ein Problem bei der Preisfestsetzung sind die immer häufigeren Preisrabatte», sagte Vokinger (Abb. 2).5 Da die Rabatte vertraulich sind, reflektieren die in der Spezialitätenliste angegebenen Preise oft nicht die tatsächlichen Medikamentenpreise. Auch die europäischen Partnerländer arbeiten mit solchen Rabatten. Die Folge ist, dass bei der Preisfestsetzung zu hohe Referenzpreise angenommen werden, was zu überhöhten Medikamentenpreisen führt.

Abb. 2: Medikamente mit Rabatten in der Schweiz (adaptiert nach Carl DL & Vokinger KN 2021)5

«Aus juristischer Perspektive handelt es sich um eine Verletzung des Transparenzprinzips», sagte Vokinger. Die Folgen davon sind überhöhte Medikamentenpreise, eskalierende Kosten und ein ungenügender Zugang zu Medikamenten. «Auch wenn die Schweiz ein sehr reiches Land ist, werden wir zukünftig nicht mehr in der Lage sein, alle neuen Medikamente, die auf den Markt kommen, zu bezahlen.» Die Situation könnte durch eine Gesetzesänderung noch beschleunigt werden: Aktuell berät das Schweizer Parlament darüber, ob Medikamentenrabatte in Zukunft die Regel sein sollen.

Medikamentenkosten widerspiegeln nicht die Wirksamkeit

Eine weitere Herausforderung ist der fehlende Einbezug des therapeutischen Werts bei der Preisfestsetzung. «Eigentlich sollte man meinen, ein neues Medikament verfügt automatisch über ein höheres ‹therapeutic value›», sagte die Referentin. Eine Studie mit Vokingers Beteiligung zeigt jedoch, dass dies nicht immer der Fall ist. Insbesondere bei Medikamenten für Krebserkrankungen fanden die Wissenschaftler keine Korrelation zwischen dem klinischen Benefit und dem Preis.6

<< Die Medikamentenpreise in der Schweiz haben einen Einfluss auf die Medikamentenpreise in Ländern mit niedrigem bis mittleren Einkommen.>>
K. Vokinger, Zürich

Zu interessanten Ergebnissen kommt auch eine Studie, die den therapeutischen Wert von Medikamenten untersucht hat, die für mehr als eine Indikation zugelassen sind. Wie diese zeigte, verfügte nur knapp ein Drittel aller neu zugelassenen Arzneimittel über einen hohen therapeutischen Wert.7 Dieser nahm bei zusätzlichen Indikationen ab: So war im Vergleich zur Erstindikation die Wahrscheinlichkeit für einen hohen therapeutischen Wert bei der Zweitindikation um 36% niedriger und bei der Drittindikation um 45% niedriger.8 «Auch das sollte sich im Preis widerspiegeln», fand die Referentin.

Problematisch: die Kombination aus beschleunigter Zulassung und unzureichendem klinischem Benefit

Neben den Herausforderungen beim «drug pricing» gibt es auch Probleme bei der Arzneimittelzulassung. «Immer mehr Medikamente werden über ein beschleunigtes Verfahren zugelassen», berichtete die Referentin.9 Das sei von Vorteil, wenn das Medikament grosses Potenzial habe und ein «unmet need» decke. Es kann aber auch problematisch sein, weil es weniger Evidenz für die Wirksamkeit gibt und teilweise wichtige Follow-up-Studien nicht oder nur verzögert durchgeführt werden. Wie eine Untersuchung bei Medikamenten, die im Zeitraum zwischen 2007 und 2021 in den USA und in Europa beschleunigt oder bedingt neu zugelassen wurden zeigte, wiesen 38,9% resp. 37,5% einen hohen therapeutischen Wert auf. Dabei zeigte sich, dass der therapeutische Wert von Arzneimitteln, die gegen Krebserkrankungen eingesetzt werden, deutlich niedriger war als der Wert von Medikamenten, die nicht zur Krebstherapie eingesetzt werden.10 Eine weitere Untersuchung konnte zeigen, dass Krebstherapien etwa dreimal so teuer waren wie Medikamente, die nicht zur Behandlung von Krebs eingesetzt werden. «Wir bezeichnen dieses Phänomen als ‹Cancer Premium›», sagte Vokinger. Aus medizinischer Perspektive seien die Preise nicht zu erklären. Die Diskussionen bei Krebserkrankungen seien jedoch oft sehr emotional und führten bei den Preisverhandlungen manchmal zu irrationalen Entscheidungen.

Zum Abschluss empfahl die Expertin klare Regeln und eine striktere Umsetzung bei der Medikamentenzulassung. Zudem müsse die aktuelle Dynamik bei den Medikamentenpreisen unterbrochen werden. Dazu seien ein Einbezug der Kosteneffektivität bei der Preisfestsetzung und eine bessere Transparenz in der Preispolitik notwendig. Letztere sei vor allem deshalb wichtig, weil sie einen Einfluss auf die Medikamentenpreise in vielen anderen Ländern habe, darunter auch Länder mit einem niedrigen bis mittleren Einkommen.

Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie, 16. bis 17. November 2023, Bern

1 CS Sorgenbarometer der Schweiz 2 Rome BN, Egilman AC, Kesselheim AS: Trends in prescription drug launch prices, 2008-2021. JAMA 2022; 327: 2145-47 3 Vokinger KN et al.: Price changes and within-class competition of cancer drugs in the USA and Europe: a comparative analysis. Lancet Oncol 2022; 23: 514-20 4 Vokinger KN et al.: Analysis of launch and postapproval cancer drug pricing, clinical benefit, and policy implications in the US and Europe. JAMA Oncol 2021; 7: e212026 5 Carl DL, Vokinger KN: Patients’ access to drugs with rebates in Switzerland - Empirical analysis and policy implications for drug pricing in Europe. Lancet Reg Health Eur 2021; 3: 100050 6 Vokinger KN et al.: Prices and clinical benefit of cancer drugs in the USA and Europe: a cost-benefit analysis. Lancet Oncol 2020; 21: 664-70 7 Hwang TJ et al.: Association between FDA and EMA expedited approval programs and therapeutic value of new medicines: retrospective cohort study. BMJ 2020; 371: m3434 8 Vokinger KN et al.: Therapeutic value of first versus supplemental indications of drugs in US and Europe (2011-20): retrospective cohort study. BMJ 2023: 382: e074166 9 Vokinger KN et al.: Therapeutic value of drugs granted accelerated approval or conditional marketing authorization in the US and Europe from 2007 to 2021. JAMA Health Forum 2022; 3: 222685 10 Vokinger KN: Determinants of cancer drug pricing and how to overcome the cancer premium. Cell 2023; 186: 1528-31 11 Serra-Burriel M et al.: The cancer premium - explaining differences in prices for cancer vs non-cancer drugs with efficacy and epidemiological endpoints in the US, Germany, and Switzerland: a cross sectional study. EClinicalMedicine 2023; 61: 102087

Back to top