Schwindel: ein klinischer Leitfaden für Internisten
Autoren:
Dr. med. Heiko M. Rust
Oberarzt
Leiter der Abteilung für Vestibuläre Neurologie
Neurologische Klinik und Poliklinik
Stv. Leiter des Universitären Zentrums für Schwindel und Gleichgewichtsstörungen
Universitätsspital Basel
E-Mail: heiko.rust@usb.ch
Dr. sc. med. Flurin Honegger
Leiter Technische Diagnostik Neurootologie
Hals-Nasen-Ohren-Klinik
Universitätsspital Basel
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Schwindel ist eines der häufigsten von Patienten berichteten Symptome in der ärztlichen Praxis. Die richtige Einordnung und die richtige Beurteilung dieses Symptoms stellen nach wie vor Herausforderungen für Ärzte nahezu aller Fachrichtungen dar. Eine strukturierte Vorgehensweise ist essenziell und ermöglicht bereits anhand einiger weniger einfacher Untersuchungen die richtige Einordnung der oftmals diffus anmutenden Beschwerden.
Keypoints
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Bei der Beurteilung von akut aufgetretenen, anhaltenden Schwindelsymptomen ist das Erkennen eines Schlaganfalls im Bereich des Hirnstamms oder des Cerebellums von entscheidender Bedeutung.
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Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS) ist die häufigste Ursache für episodischen Schwindel. Das therapeutische Manöver nach Sémont hat eine hohe Erfolgsrate von circa 90%.
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Die vestibuläre Migräne ist eine häufig übersehene Schwindelursache, trotz ihrer hohen Prävalenz. 1–2,7% der Bevölkerung sind hiervon betroffen.
Schwindel ist eine subjektive, unspezifische Wahrnehmung einer veränderten räumlichen Orientierung mit oder ohne Illusion einer Eigen- oder Umgebungsbewegung. Unsere räumliche Orientierung basiert auf einer zentralen Integration verschiedener Sinnesmodalitäten, wobei das visuelle System, das vestibuläre System und die Propriozeption die hierfür wichtigsten Informationen liefern. Kommt es zu einer Störung einer oder mehrerer dieser Sinnesmodalitäten, entstehen durch widersprüchliche oder fehlende Informationen bzw. deren Verarbeitung räumliche Desorientierungsphänomene, respektive «Schwindel». Schwindel ist neben Kopf- und Rückenschmerzen das dritthäufigste berichtete Symptom in der allgemeinärztlichen Praxis.1 In einem Zeitraum von 14 Tagen leiden ungefähr 7,5% der Bevölkerung unter starken Schwindelsymptomen.2 Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff «Schwindel» zur Beschreibung verschiedenster Wahrnehmungen verwendet, unter anderem für die Beschreibung einer rotatorischen Eigenbewegungsillusion, einer Unsicherheit beim Stehen und Gehen oder aber eines präkollaptischen Zustandes. Dementsprechend ist das Spektrum der Krankheitsbilder und Syndrome, die mit diesem Symptom einhergehen, breit gefächert. Vor diesem Hintergrund kann dieser Artikel keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es folgt eine Darstellung der häufigsten Schwindelsyndrome aus praktischer klinischer Sicht.
Trotz gut belegter Hinweise dafür, dass in Notfallsituationen die Beschreibung der eigenen Wahrnehmungen durch die Patienten wenig zuverlässig ist,3 stellt die Anamneseerhebung immer noch die entscheidende Massnahme im Prozess der richtigen Beurteilung dieses unspezifischen Leitsymptoms dar. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der behandelnde Mediziner versteht, was der Patient unter dem Begriff «Schwindel» versteht.
Die Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Szenarien hat sich hierbei bewährt. Handelt es sich um
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eine einzelne Attacke mit anhaltendem Schwindel,
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einen episodischen oder wiederkehrenden Schwindel oder um
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einen chronischen, unsystematischen Schwindel mit oder ohne begleitende Gleichgewichtsstörung?
In allen drei Fällen ist in einem ersten Schritt eine initiale internistische Beurteilung notwendig. Zum Ausschluss internistischer Pathologien sollten primär die in Tabelle 1 erwähnten Untersuchungen durchgeführt werden. Dabei ist der erste Eindruck im Kontakt mit dem Patienten entscheidend für die Reihenfolge der einzelnen diagnostischen Untersuchungen.
Tab. 1: Untersuchungen zum Ausschluss einer internistischen Ursache bei Patienten mit Schwindel
Intoxikationen oder Nebenwirkungen von Medikamenten sollten bei der Beurteilung von Schwindelsymptomen immer in Betracht gezogen werden. Typische Medikamente, die weit verbreitet sind und insbesondere bei älteren Männern zu orthostatischen Schwindelbeschwerden führen können, sind Präparate aus der Gruppe der Alpha-1-Blocker zur symptomatischen Behandlung der Folgen einer benignen Prostatahyperplasie. Diese Medikamente wurden ursprünglich zur Behandlung der arteriellen Hypertonie entwickelt und weisen einen vasodilatatorischen Effekt auf.4 Entsprechend können natürlich auch die meisten Antihypertensiva für eine orthostatische Hypotension und Schwindelsymptome prädisponieren.
Die insgesamt seltene bilaterale Vestibulopathie, bei der es zu Oszillopsien (visuelle Wahrnehmung einer Scheinbewegung der Umwelt, die Umgebung erscheint «verwackelt») beim Gehen und einer Gangunsicherheit kommt, die auf unebenem Grund oder in Dunkelheit zunimmt, ist eine typische Folge einer i.v. Behandlung mit Gentamicin. Sie kann aber auch als Folge einer Behandlung mit neurotoxischen Zytostatika wie Cisplatin auftreten, das sowohl vestibulo- als auch ototoxisch ist.5 Tabelle 2 zeigt eine Auswahl von Medikamenten, die zu Schwindelbeschwerden führen können.
Tab. 2
Eine einzelne Attacke mit anhaltendem Schwindel
Schätzungsweise 10–20% der Patienten, die sich mit Schwindel in einer Notaufnahme vorstellen, fallen in die Kategorie der einzelnen Attacke mit akut aufgetretenem, anhaltendem Schwindel.6 Die häufigste Ursache hierfür ist die akute periphere Vestibulopathie oder Neuritis vestibularis mit einer Inzidenz von ca. 3,5/100000 Einwohner. Die zweithäufigste Ursache sind Schlaganfälle des Hirnstamms oder Cerebellums, die etwa 5–10% der Fälle mit akut aufgetretenem, anhaltendem Schwindel ausmachen.7 Es ist davon auszugehen, dass die erstmalige Manifestation einer vestibulären Migräne ebenfalls eine sehr häufige Ursache für ein erstmaliges, anhaltendes Schwindelsyndrom ist,8 da circa 1–2,7% der Bevölkerung von dieser Störung betroffen sind.9
Bei der Beurteilung von akut aufgetretenen, anhaltenden Schwindelsymptomen ist das Erkennen eines Schlaganfalls im Bereich des Hirnstamms oder des Cerebellums von entscheidender Bedeutung, da eine relevante Stenose und ein möglicherweise drohender, konsekutiver Verschluss der A.basilaris, die den Hirnstamm versorgt, potenziell tödlich verlaufen oder zu schwerster Behinderung führen kann. Des Weiteren kann es im Rahmen von cerebellären Infarkten, bedingt durch ein zytotoxisches Ödem, zu einem Anschwellen des Gewebes kommen und in den ersten Tagen nach dem akuten Ereignis eine Herniation und Kompression des Hirnstamms zur Folge haben. Bezüglich der Diagnostik des akut aufgetretenen Schwindels haben computertomografische Untersuchungen mit 28,5% und selbst MRT-Untersuchungen mit spezifischen Sequenzen wie dem «diffusion-weighted imaging» (DWI) innerhalb der ersten 24 bis 48 Stunden eine Sensitivität von lediglich 85%.10,11
Aktuell stellt aufgrund der Limitationen der bildgebenden Verfahren die klinische Untersuchung weiterhin die beste Methode zur diagnostischen Einordnung von akutem Schwindel dar. Der 2009 publizierte HINTS-Algorithmus für eine gezielte neurootologische Untersuchung zur Differenzierung einer peripher vestibulären Störung von einem Schlaganfall im Bereich des Hirnstamms oder Cerebellums zeichnet sich durch eine 95,3%ige Sensitivität und 92,6%ige Spezifizität aus.11,12 Das Akronym HINTS steht für «Head Impulse test, Nystagmus, Test of Skew». Eine Erklärung der Untersuchungen findet sich in Abbildung 1.
Abb. 1: HINTS: «Head Impulse test, Nystagmus, Test of Skew»
Es ist zu beachten, dass dieser Algorithmus nur bei Patienten mit akutem Schwindel und apparentem Nystagmus mit der vorbeschriebenen diagnostischen Sensitivität und Spezifizität eingesetzt werden kann. Eine weitere Limitation besteht darin, dass dieser Algorithmus nur von Ärztinnen und Ärzten, die Erfahrung in den entsprechenden Untersuchungstechniken und deren Interpretation haben, mit der nötigen diagnostischen Sicherheit durchgeführt werden kann.13 Fallen im Rahmen der Untersuchung anstatt eines konjugierten, horizontal-rotatorischen Nystagmus spontane vertikale Augenbewegungsstörungen im Sinne eines klar nach oben oder unten schlagenden Nystagmus auf, ist dies in der Akutkonstellation als Zeichen für einen Schlaganfall zu werten. In Anbetracht der untersuchungstechnischen Schwierigkeiten des HINTS-Tests empfiehlt es sich, den Fokus auf die Untersuchung der Stand- und Gehfähigkeit des Patienten mit akut aufgetretenem, anhaltendem Schwindel zu setzen. Hier kann als Faustregel gelten, dass man bei einem Patienten, der – auch mit Hilfe – nicht mehr stehen kann, bis zum Beweis des Gegenteils von einem Schlaganfall ausgehen muss. In diesen Fällen sollte eine Computertomografie – falls möglich eine MRT – des Schädels mit Angiografie der Aa.vertebrales und der A.basilaris erfolgen, um zunächst etwaige hochgradige Stenosen, Dissektionen und Verschlüsse dieser Gefässe zu erkennen. Die weitere Behandlung soll durch einen in der Schlaganfallversorgung erfahrenen Neurologen erfolgen.
Bei der akuten peripheren Vestibulopathie im Sinne einer Neuritis vestibularis besteht ein charakteristisches klinisches Bild mit plötzlich oder «stotternd» einsetzendem Drehschwindel mit Oszillopsien. Letztere sind bedingt durch den horizontal rotatorischen Nystagmus, der weg von der betroffenen Seite schlägt, beim Blick in die Schlagrichtung zunimmt und entsprechend beim Blick in die Gegenrichtung abnimmt. Es besteht in der Regel eine Fallneigung zur betroffenen Seite.14 Obwohl der Begriff «Neuritis» suggestiv für das Vorliegen einer Entzündung ist, sind bis heute weder die genaue Lokalisation der Schädigung noch der Mechanismus bekannt.15
Bis jetzt existieren keine eindeutigen Daten, wonach eine Behandlung der akuten peripheren Vestibulopathie mit Steroiden im Vergleich mit einer rein physiotherapeutischen Behandlung im Langzeitverlauf tatsächlich einen Vorteil bringt.16
Bei starken vegetativen Symptomen mit Übelkeit und Erbrechen sollte eine antiemetische (z.B. Dimenhydrinat oder Ondansetron) und ggf. sedierende Behandlung (z.B. mit Diazepam) erfolgen. Sogenannte «vestibuläre Sedativa» wie der Ca2+-Kanal-Blocker Cinnarizin können ebenfalls eingesetzt werden, jedoch sollten die genannten Substanzen nur initial während der ersten Tage gegeben werden, da sie eine zentrale Kompensation der Störung verzögern.17
Episodischer oder wiederkehrender Schwindel
Die häufigste Ursache für episodischen Schwindel ist der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS). Diese Störung ist durch episodische, kurzzeitige Drehschwindelattacken charakterisiert, die durch eine Änderung der Kopfposition ausgelöst werden. Die Lebenszeitprävalenz beträgt 2,4%.18 Am häufigsten sind ältere Frauen betroffen, wobei die Inzidenz ihren Höhepunkt in der 7. Lebensdekade erreicht.19 Die Ätiologie ist weitestgehend unbekannt. Es bestehen jedoch Assoziationen mit Schädel-Hirn-Traumata, längeren Immobilisationen sowie Erkrankungen des Innenohrs.20,21 Zum Auftreten eines BPLS kommt es durch eine Verlagerung von Otokonien aus den Statolithenmembranen des Utriculus oder Sacculus in die Bogengänge des Labyrinths, die der Wahrnehmung von Drehbewegungen des Kopfes dienen. Ihre Bewegung in den Bogengängen führt zu einer kurzzeitigen, abnormen Aktivierung des jeweiligen vestibulären Endorgans und somit kurzen, meist circa 10 Sekunden anhaltenden, teilweise heftigen Drehschwindelsensationen. Aufgrund seiner anatomischen Lokalisation ist der posteriore Bogengang mit bis zu 90% am häufigsten betroffen.22
Suggestiv für diese Störung sind kurzzeitige Drehschwindelattacken, welche typischerweise durch eine Reklination des Kopfes oder beim Umdrehen im Bett auftreten. Ein BPLS führt nicht zu einem anhaltenden Drehschwindel, zumindest nicht über die Dauer von einer Minute hinaus. Häufig sind jedoch eine gewisse Unsicherheit beim Gehen und ein diffuses Schwindelgefühl im Anschluss an eine entsprechende vestibuläre Irritation zu beobachten, die durchaus einen Tag lang anhalten können.
Bei entsprechendem klinischem Verdacht ist die Durchführung des Sémont-Manövers, das zur Behandlung des BPLS des posterioren Bogengangs angewendet wird, oft zielführend. Der Vorteil hierbei ist die unmittelbare Durchführbarkeit eines einfachen therapeutischen Manövers, da der Patient direkt nach dem eigentlichen diagnostischen Provokationsmanöver, so gelagert werden kann, dass die Otokonien aus dem betroffenen Bogengang herausbewegt werden können (Abb. 2). Das Sémont-Manöver, wie hier dargestellt, ist sehr effizient und hat eine hohe Erfolgsrate von nahezu 90%.23 Im längerfristigen Verlauf beträgt die Rezidivrate nach erfolgreichem Manöver circa 50% in einem Zeitraum von 10Jahren.24 Bei Persistenz eines Lagerungsschwindels trotz wiederholter Manöver über Tage sollte eine zentrale Ursache in Betracht gezogen werden und eine weitere fachärztliche Untersuchung durch HNO-Ärzte oder Neurologen erfolgen. Nicht selten kommt es im Rahmen einer vestibulären Migräne zu positionsabhängigem Schwindel mit Nystagmus, der wie ein BPLS imponieren kann.25,26 Hinsichtlich der Diagnostik und Therapie des BPLS der horizontalen Bogengänge sei an dieser Stelle auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen.
Abb. 2: Das Sémont-Manöver. Bei der aufrecht sitzenden Patientin soll der Kopf aus der Normalstellung, ca. 45° zum Rumpf gedreht werden, wobei der Hinterkopf der Patientin in der Ebene des zu stimulierenden Bogengangs positioniert wird und in dieser Stellung während des gesamten Manövers verbleiben soll (A). Die Patientin sollte instruiert werden, während des Lagerungsmanövers ihre Augen geöffnet zu lassen. Nach erfolgter Instruktion mit genauer Erklärung des Manövers folgt eine schnelle Kippung der Patientin zur Seite des zu testenden posterioren Bogengangs hin, wobei die Patientin hierbei auf ihrer Schulter zu liegen kommt (B). Kürzlich konnte gezeigt werden, dass die Erfolgsrate auf 95% ansteigt, wenn man im Rahmen dieses Manövers den Kopf um 60° überstreckt.43 Ein typischer Befund beim Erreichen der Lagerungsposition ist ein mit ca. 2–5 Sekunden Latenz auftretender konjugierter rotatorischer Nystagmus zum unten liegenden Ohr mit einer nach oben schlagenden Komponente. Der Nystagmus weist ein Crescendo-Decrescendo-Verhalten auf und dauert in den meisten Fällen ca. 10 Sekunden an. Hierbei kommt es in der Regel zu einer starken Schwindelsensation. Je nach Augenstellung kann der Nystagmus auch in erster Linie als zur Stirn schlagend imponieren, z.B. beim Geradeausblick. Die Patientin sollte noch mindestens 60 Sekunden nach Sistieren des Nystagmus in der Lagerungsposition (B) verweilen. Im Anschluss wird in einem Schwung, im Rahmen dessen der Kopf unbedingt in der Ausgangslage verbleiben muss, die Patientin um 180° auf die andere Seite der Unterlage bewegt (C). Beim Erreichen der Endposition (C) tritt in den meisten Fällen ein sogenannter Befreiungsnystagmus auf, der umgekehrt zu dem oben genannten Nystagmus imponiert und ebenfalls mit einer Latenz von einigen Sekunden auftritt. Die Patientin sollte nach Sistieren des Nystagmus ebenfalls mindestens 60Sekunden in dieser Position verbleiben. Im Anschluss setzt sich die Patientin wieder auf.
Die Migräne ist eine häufige neurovaskuläre Funktionsstörung des Gehirns und betrifft circa 15% der weltweiten Bevölkerung.27 Kopfschmerz ist das häufigste Symptom. Darüber hinaus kann es bei den Betroffenen zu episodischen und chronischen Schwindelsensationen kommen, die wie die individuelle Migräne auch sehr variabel sein können.28–31 Die sogenannte vestibuläre Migräne betrifft circa 1–2,7% der Bevölkerung9 und man geht heute davon aus, dass es sich hierbei um die häufigste Ursache von spontan auftretendem Schwindel handelt.32 Die Pathophysiologie dieser Störung ist weiterhin unklar.28 Die Dauer der Schwindelsymptome beträgt nach der Definition der Barany Society aus dem Jahr 2012 5 Minuten bis 72 Stunden.33 Kürzere und längere Episoden sind jedoch häufig. Aus Erfahrung lohnt es sich bei Patienten mit Schwindel ungeklärter Ursache, immer gezielt nach Kopfschmerzen (Häufigkeit, Lokalisation, Charakter und Intensität) und migränetypischen Symptomen wie z.B. Photophobie und Phonophobie zu fragen, die begleitend oder ohne die Schwindelsymptome auftreten. Die Akutbehandlung und die prophylaktische Therapie erfolgen in Analogie zur Behandlung der Migräne.
Das weitaus bekannteste episodische Schwindelsyndrom ist der M. Menière mit der Trias aus Drehschwindel, Hörverlust und Tinnitus. Die Attacken dauern zwischen 20 Minuten und 12 Stunden an. Initial sind monosymptomatische Attacken möglich.Die Prävalenz beträgt 34–190/100000 Personen. Ein endolymphatischer Hydrops wird als ursächlich für die Attacken angenommen, der sich allerdings auch teilweise bei der vestibulären Migräne findet, sodass Overlap-Syndrome wahrscheinlich sind.34–36Eine nachgewiesenermassen effektive Therapie existiert bisher nicht. Zumeist erfolgt die orale Gabe von Betahistin. Des Weiteren werden intratympanale Steroidapplikationen durchgeführt und als Ultima Ratio die Labyrinthektomie.37,38
Chronischer unsystematischer Schwindel
Vor allem bei älteren Menschen mit Schwindelbeschwerden ist die Ursache oftmals multifaktoriell bzw. multisensorisch. Neben dem normalen Alterungsprozess kommt es im Alter durch häufige oder lange bestehende Erkrankungen zu einer Einschränkung verschiedener Sinnesmodalitäten. Als eine der häufigsten Erkrankungen von alten Menschen führt der Diabetes in vielen Fällen zu einer Polyneuropathie und somit eingeschränkter Propriozeption. Zudem bestehen bei diesen Patienten oftmals Visusstörungen und eine altersbedingt verminderte Funktion der Gleichgewichtsorgane. Wenn zu dieser Konstellation eine Störung der zentralen Integration der Sinnesreize oder eine leichte cerebelläre Störung hinzukommt, kann dies zu einer, vor allem beim Stehen und Gehen auftretenden räumlichen Orientierungsstörung führen, die häufig als anhaltende Schwindelsensation berichtet wird. Patienten mit einer vaskulären Enzephalopathie berichten zudem häufig von diffusem, anhaltendem Schwindel.39 Die Therapie besteht aus intensiver Physiotherapie und Massnahmen zur Sturzprophylaxe. Insbesondere bei älteren Patienten mit diffusen, anhaltenden Schwindelbeschwerden lohnt es sich, nach einem BPLS zu suchen (s.o.).40 Die anhaltenden Schwindelbeschwerden dieser Patienten erklären sich möglicherweise durch rezidivierende vestibuläre Irritationen durch den BPLS, die von den Patienten nicht oder kaum wahrgenommen werden und wie oben erwähnt zu einem vorübergehenden, anhaltenden Unsicherheitsgefühl bezüglich der eigenen Körperbalance führen können.
Als Folge von Störungen des vestibulären Systems, z.B. der akuten peripheren Vestibulopathie, des BPLS, aber auch nach anderen Erkrankungen, kann es zu anhaltendem, fluktuierendem Schwankschwindel kommen, der sich vor allem beim Stehen und Gehen verstärkt. Für diese funktionelle Störung wurde 2017 der Begriff der «persistent postural perceptual dizziness» (PPPD) definiert.41 Diese Störung ist weit verbreitet und wurde seit Mitte der 1980er-Jahre im deutschsprachigen Raum als phobischer Schwankschwindel bezeichnet.42 Wie bei der vestibulären Migräne handelt es sich hierbei um eine Ausschlussdiagnose.
Literatur:
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