Ist das Altern ohne Hormone noch zeitgemäss?
Unsere Gesprächspartnerin:
Dr. med. Anna Raggi
fertisuisse
Zentrum für Kinderwunschbehandlung, Olten
E-Mail: a.raggi@fertisuisse.ch
Das Interview führte Mag. Sandra Winter-Toman
Viele Frauen verspüren mit dem Eintreten der Menopause unangenehme Symptome. Die Beschwerden reichen dabei von Hitzewallungen über Ängstlichkeit und Reizbarkeit bis hin zu Depressionen. Dr. med. Anna Raggi erklärt in einem Gespräch, was man gegen diese Beschwerden tun kann, und beantwortet die Frage, ob das Altern ohne Hormone noch zeitgemäss ist.
Wann ist für Sie in der Praxis der Zeitpunkt gekommen, an dem Sie bei einer Patientin an eine Hormonersatztherapie (HRT) denken?
A. Raggi: Wenn eine Frau ab Mitte 40 im Rahmen der Jahreskontrolle in die Praxis kommt, dann sollte man sie nach Beschwerden fragen, z.B. ob ihre Zyklen regelmässig sind und ob sie an Schlafstörungen oder Hitzewallungen leidet. Gleichzeitig sollte man die Frauen darauf aufmerksam machen, dass diese Symptome auftreten können. Auch bei jüngeren Frauen sollte man wachsam sein und an eine vorzeitige Menopause denken, wenn sie plötzlich über eine ausbleibende Periode oder Zyklusunregelmässigkeiten klagen. Leiden die Frauen unter klimakterischen Beschwerden, dann kann man mit ihnen die Möglichkeit einer HRT besprechen.
Was ist das sogenannte «window of opportunity» und warum ist es wichtig, diesen Zeitpunkt nicht zu verpassen?
A. Raggi: Das «window of opportunity», in dem eine HRT begonnen werden sollte, ist definiert als die Zeitspanne 10 Jahre nach der letzten Periode, aber vor dem 60. Lebensjahr. Das ist meistens auch der Zeitpunkt, zu dem die Frauen mit Beschwerden in die Praxis kommen, und dieser ist günstig, weil bis dahin die Blutgefässe noch nicht unter dem Östrogenmangel gelitten haben, d.h., die Frauen haben, kurz gesagt, noch keine Arteriosklerose entwickelt. Manchmal kommen Frauen aber auch erst später, nach dem 60. Lebensjahr, weil sie keine Hormone nehmen wollten, aber nun unter ihren Beschwerden leiden. Dann ist der beste Zeitpunkt schon überschritten. Das heisst aber nicht, dass diese Frauen später nicht mehr mit einer HRT beginnen können, allerdings sollte man dann eher vorsichtig mit niedriger Dosierung starten, eher auf ein transdermales Präparat zurückgreifen und jeder Fall sollte vorsichtig beurteilt werden.
Wie sollte die Patientin über die HRT aufgeklärt werden?
A. Raggi: Es ist wichtig, die Patientin darüber aufzuklären, dass eine Indikation für eine HRT gegeben ist, wenn sie unter Beschwerden leidet und sich ihre Lebensqualität verschlechtert hat. Ich erkläre ihr die Vorteile einer HRT und mittlerweile kann man auch sagen, dass diese Vorteile die Nachteile überwiegen. Wenn es einer Patientin gut geht und sie keine Beschwerden hat, dann berate ich sie auch über die Vorteile einer HRT, aber es besteht keine zwingende Indikation dafür.
Was sind die Vorteile einer HRT?
A. Raggi: Der grösste Vorteil ist, dass sich die Beschwerden verbessern und es den Frauen besser geht. Sie haben keine Hitzewallungen mehr, schlafen besser und sie fühlen sich allgemein besser. Auch auf die Haut, das Herz, die Blutgefässe und die Knochen haben die Hormone einen positiven Einfluss.
Gibt es auch Nachteile?
A. Raggi: Ja, vor allem bei Risikopatientinnen gibt es auch Nachteile. Bei Frauen, die rauchen, einen hohen Blutdruck haben oder übergewichtig sind, besteht v.a. zu Beginn der Therapie ein erhöhtes Risiko für thromboembolische Ereignisse und nach längerer Anwendung für die Entwicklung eines Mammakarzinoms.
Allerdings beträgt das Mammakarzinomrisiko für Frauen unter HRT im Vergleich zu Frauen ohne HRT nur weniger als einen zusätzlichen Fall pro 1000 Frauen pro Jahr oder weniger als 3 zusätzliche Fälle pro 1000 Frauen pro Jahr, wenn sie 5 Jahre eine Hormonersatztherapie nehmen. Darüber sollten unsere Patientinnen aufgeklärt werden, wobei diese Daten zu relativieren sind, da das Risko dem von modifizierbaren Risikofaktoren wie zwei alkoholischen Drinks pro Tag, Adipositas und geringer körperlicher Aktivität entspricht.
Welche Vorsorgeuntersuchungen sind für Frauen unter HRT indiziert?
A. Raggi: Wie für jede Frau über 50 werden ein regelmässiger Besuch bei der Gynäkologin oder dem Gynäkologen und eine regelmässige Mammografie alle 2 Jahre empfohlen.
Welche HRT-Präparate und welche Darreichungssformen stehen zur Verfügung?
A. Raggi: Eine HRT kann oral, in Form von Tabletten, transdermal, als Pflaster oder Spray und zusätzlich ergänzendlokal, d.h. vaginal mit Tabletten, Cremes oder Gelsowieintrauterin mit einem Hormon-IUD, verabreicht werden.
Welche Darreichungsform gewählt wird, hängt auch davon ab, ob es sich um ein Östrogen-, Gestagen- oder Kombipräparat handelt.
Jede Patientin ist anders, wie ermittelt man die massgeschneiderte Therapie?
A. Raggi: Bei der Ermittlung der idealen Therapie sollte man sowohl die Anamnese der Patientinnen als auch deren Wünsche und Vorlieben mit einbeziehen. D.h., es ist sehr wichtig, ihnen zuzuhören, sie in Therapieentscheidungen miteinzubeziehen und keine autoritäre Haltung an den Tag zu legen.
Man sagt heute, dass die transdermale Verabreichung in Bezug auf thromboembolische Ereignisse die sicherste Variante ist, aber es gibt Frauen, die kein Gel oder Pflaster verwenden möchten, sondern eine orale Einnahme bevorzugen. Risikopatientinnen empfehle ich aber die transdermale Variante.
Je nach Symptomspektrum kann man von den Nebeneffekten der Gestagene profitieren und sie somit gezielt einsetzen. Es ist ein sehr feiner Balanceakt, die massgeschneiderte Therapie zu finden, und dies gelingt nicht immer gleich auf Anhieb. Darüber müssen die Patientinnen ebenfalls aufgeklärt werden.
Wovon hängt die Dauer einer HRT ab?
A. Raggi: Das hängt stark von der Indikation ab. Wenn eine Patientin klassische Beschwerden hatte, dann kann man z.B. nach 5 Jahren die Situation reevaluieren. Manche Frauen stehen einem Absetzen der HRT skeptisch gegenüber, weil sie fürchten, dass die Beschwerden wiederkommen. Andere Frauen sind froh, wenn sie die Therapie absetzen können.
Patientinnen, die mit einer HRT aufgrund vorzeitiger Wechseljahre begonnen haben, sollen aber nicht vor einem Alter von 50–52 Jahren damit aufhören.
Generell gibt es aber keinen Grund, warum eine HRT routinemässig abgesetzt werden muss.
Die Nordamerikanische Menopausegesellschaft (NAMS) hat kürzlich ihr Positionspapier überarbeitet. Was sind die wesentlichen Änderungen?
A. Raggi: Neu ist vor allem, dass nun wesentlich mehr auf die Vor- als auf die Nachteile einer HRT eingegangen ist. Weitere wichtige Punkte betreffen das Zeitfenster, in dem die HRT gestartet werden soll, also das besprochene «window of opportunity», die Empfehlung von niedrig dosierten, transdermalen Präparaten bei Frauen, die erst später mit einer HRT starten, und dass eine HRT nicht routinemässig abgesetzt werden muss.
Ist das Altern ohne HRT Ihrer Meinung nach noch zeitgemäss?
A. Raggi: Ich persönlich würde sagen: Nein, aber es handelt sich dessen ungachtet um eine medikamentöse Therapie und nicht alle Frauen möchten das. Es gibt auch Patientinnen, die gerne natürlich altern wollen.
Für mich heisst das, dass es eine Indikation braucht, und das kann auch der Fall sein, wenn eine Patientin «sich selbst nicht mehr leiden mag» oder wenn sie z.B. schlecht schläft.
Wichtig ist, dass die Frauen gut aufgeklärt sind und verstehen, was diese Hormone bewirken, dass es sich bei den verschriebenen Hormonen zu einem grossen Teil um natürliche, bioidentische Hormone handelt, die gut untersucht und in Studien getestet wurden.
Gibt es noch eine Botschaft, die Sie gerne an Ihre Kolleginnen und Kollegen übermitteln möchten?
A. Raggi: Wenn man sich als Ärztin oder Arzt mit der Verschreibung von Hormonen nicht wohlfühlt, dann empfehle ich, sich mit einer Fachperson auszutauschen, um die beste Lösung für jede Frau zu finden.
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