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Genetische Beratung in der Pränataldiagnostik
Leading Opinions
Autor:
PD Dr. med. Isabel Filges
Ärztliche Leitung<br> Laborleiterin Zytogenetik<br> Universitätsspital Basel<br> E-Mail: isabel.filges@usb.ch
30
Min. Lesezeit
16.10.2018
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<p class="article-intro">In den letzten Jahren sind durch die Fortschritte in der Entwicklung genomischer Technologien und der Ultraschalldiagnostik die Möglichkeiten für pränatale Risikoabschätzungen und die Diagnose genetischer Erkrankungen in der Schwangerschaft umfangreicher und auch präziser geworden. Die Pränatalmedizin ist bereits zu einer personalisierten Medizin für Mutter und Kind herangewachsen, die immer individuellere, aber auch komplexere Beratungen erfordert. Im Folgenden soll eine Auswahl von zunehmend wichtigen und aktuellen Aspekten der genetischen Beratung in der Pränataldiagnostik vorgestellt werden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Eine genetische Beratung erfolgt ergebnisoffen, nicht direktiv und umfassend.</li> <li>Die Familienanamnese hat für die Identifikation eines a priori erhöhten Risikos für genetische Erkrankungen eine besondere Bedeutung in Bezug auf die weitere individuelle Wahl der pränatalen Untersuchungsverfahren.</li> <li>Verfahren zur Risikoabschätzung häufiger Chromosomenanomalien sollten allen Schwangeren angeboten werden.</li> <li>Bei komplexen Fragestellungen wird empfohlen, Fachspezialisten zu involvieren.</li> </ul> </div> <p>1975 wurden die «genetische Beratung » und ihre Inhalte erstmals von der American Society of Human Genetics definiert. Die genetische Beratung ist ein persönlicher Kommunikationsprozess, der es Ratsuchenden erlaubt, die medizinischen, psychologischen und familiären Konsequenzen einer genetischen Erkrankung sowie deren Abgrenzung zu einer nicht genetisch bedingten Erkrankung zu verstehen.<sup>1</sup><br /> Der Prozess der genetischen Beratung integriert die Interpretation des Stammbaums und der persönlichen Krankengeschichten der Familienmitglieder, um das Risiko für eine Erkrankung und/oder das Wiederholungsrisiko zu bestimmen und Informationen zu Vererbung, Möglichkeiten der Diagnostik, Behandlung, Prävention und bestehenden Ressourcen vermitteln zu können. Eine genetische Beratung ist ergebnisoffen und nicht direktiv zu führen, sodass die Ratsuchende individuelle informierte, eigenständige und tragfähige Entscheidungen treffen kann. Individuelle Werthaltungen sowie die psychosoziale Situation müssen beachtet und respektiert werden. Die Beratung vor und nach genetischen Untersuchungen sowie deren Indikationsstellung durch die Ärztin/den Arzt haben dabei eine besondere Bedeutung. In der Schweiz legt das Gesetz über die genetischen Untersuchungen am Menschen fest, dass insbesondere auch pränatale genetische Untersuchungen vor und nach der Durchführung von einer nicht direktiven fachkundigen genetischen Beratung mit Dokumentation des Gesprächs begleitet sein müssen (Art. 14, GUMG).<sup>2</sup> Auch die Inhalte sind in allgemeiner Form festgelegt.</p> <h2>Erfassung des Risikos – Bedeutung der Familienanamnese</h2> <p>Die Möglichkeit, auch vorgeburtlich zunehmend genetische Erkrankungen oder das Risiko dafür zu untersuchen, sei es über Risikoabschätzungsverfahren oder diagnostische Untersuchungen mit ihren jeweiligen Grenzen in ihrer Aussagekraft, erfordert mehr denn je, bei jeder Schwangeren zunächst klinisch ein A-priori-Risiko zu definieren. Nur so kann sachgerecht bezüglich der Optionen des weiteren Vorgehens beraten werden und der Schwangeren frühzeitig die Möglichkeit gegeben werden, die für sie auch unter persönlichen Gesichtspunkten infrage kommenden Untersuchungen wahrzunehmen. Es gilt insbesondere mittels einer ausführlichen persönlichen Anamnese und Familienanamnese zu erfassen, ob gegebenenfalls ein familiär erhöhtes Risiko vorliegen kann, wie z.B. bei Kenntnis von Familienmitgliedern mit einer bekannten angeborenen genetischen, chromosomalen oder monogenen, Erkrankung oder Hinweisen auf solche. Dazu gehört das aktive Erfragen von körperlichen und/oder kognitiven Entwicklungsstörungen, Fehlbildungen, häufigen Fehlgeburten, Totgeburten, Konsanguinität und Ethnizität etc. Die Bedeutung solcher Informationen wird nicht selten unterschätzt, denn abhängig von den Vorbefunden kann sich das Risiko für eine genetische Erkrankung beim zukünftigen Kind deutlich erhöhen.<sup>3</sup> Zusätzliche genetische Untersuchungen des Indexpatienten und ggf. Trägerabklärungen der Schwangeren und/oder des Partners als Voraussetzung zur Ermittlung des definitiven Risikos und der Möglichkeit einer spezifischen Pränataldiagnostik können diskutiert werden, andererseits kann auch ein erhöhtes familiäres Risiko ausgeschlossen oder unwahrscheinlich werden. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Fachärzten der medizinischen Genetik kann gerade bei der Evaluation solch oft komplexer Situationen zielführend sein.</p> <h2>Risikoabschätzungen vs. diagnostische Untersuchungen fetaler Aneuploidien</h2> <p>In Schwangerschaften ohne erhöhtes familiäres Risiko spielen Untersuchungen zur Abschätzung des Risikos für die häufigen zahlenmässigen Chromosomenstörungen der Chromosomen 21, 13 und 18 eine besondere Rolle, da diese alle Schwangerschaften betreffen können. Während sich früher Beratungen zum allgemeinen Risiko für Chromosomenstörungen im Rahmen einer Schwangerschaft auf Schwangere älter als 35 Jahre konzentriert haben, müssen heute vor oder zu Beginn jeder Schwangerschaft mögliche Verfahren der Risikoabschätzung und Diagnose von häufigen Chromosomenstörungen besprochen werden. Ziel dieser prä- oder postkonzeptionellen genetischen Beratung ist die Diskussion der Aussagekraft und der Grenzen von verschiedenen nicht invasiven Untersuchungsverfahren, wenn die Eltern dieses Vorgehen nicht von vorneherein ablehnen. Dazu gehören heute der Ultraschall einschliesslich der Messung der Nackentransparenz und Ersttrimestertest sowie der nicht invasive Pränataltest (NIPT). Der Expertenbrief Nr. 52 zur pränatalen nicht invasiven Risikoabschätzung fetaler Aneuploidien der interdisziplinären Arbeitsgruppe der Akademie für feto-maternale Medizin und der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik stellt die empfohlenen Vorgehensweisen dar.<sup>4</sup><br /> Im Gespräch gilt es, ein Grundverständnis der Zusammenhänge und der Testprinzipien sowie Information über mögliche Folgeentscheidungen, die aufgrund der Resultate erforderlich werden können, zu vermitteln. Detektionsraten, positiv- und negativ-prädiktive Werte müssen berücksichtigt werden. Insbesondere beim NIPT muss darauf hingewiesen werden, dass auffällige Befunde durch eine diagnostische Chromosomenuntersuchung an Chorionzottenmesenchym oder Fruchtwasser bestätigt werden müssen, da diskordante Befunde aus biologischen Gründen vorkommen. Plazentare Mosaizismen, «vanishing twin», mütterliche Erkrankungen und mütterliche Chromosomenanomalien können ursächlich sein, da die sogenannte fetale DNA plazentar ist (Zytotrophoblast) und die freie maternale DNA mitanalysiert wird.<sup>5</sup> Die Schwangere muss auf mögliche Zufallsbefunde, die auch sie selbst betreffen können, vor der Untersuchung hingewiesen werden. Über deren Mitteilung sollte eine Vereinbarung getroffen werden, die Diagnose unter anderem maternaler Tumoren ist berichtet. Methodisch bedingt können Zufallsbefunde zu anderen Chromosomen als den Chromosomen 21, 13 und 18 auftreten. Verschiedene Labors bieten zudem über die häufigen Aneuploidien hinaus explizit die Untersuchung der Geschlechtschromosomen und seltenerer Chromosomenanomalien wie z.B. Mikrodeletionen an, hier muss auf den limitierten prädiktiven Wert hingewiesen werden. Erste, allerdings in Patientenzahlen beschränkte Studien zeigen, dass die Ausweitung des NIPT auf die Untersuchung anderer Chromosomen wahrscheinlich von eingeschränktem klinischem Nutzen sein wird, da sie nur in etwa 1–2 % der untersuchten Schwangerschaften vorkommen und nach ersten Zahlen nur etwa 20 % dieser Anomalien tatsächlich den Fetus klinisch relevant betreffen.<sup>6</sup> Der inzwischen unbestrittene Wert des NIPT in der Senkung der Zahl der diagnostischen Punktionen könnte so wieder gemindert werden.<br /> Bei Ultraschallanomalien, erhöhter Nackentransparenz und/oder fetalen Fehlbildungen bleibt die diagnostische Chromosomenuntersuchung an Chorionzotten und Fruchtwasser mittels hochauflösenden Microarrays erste Wahl, da bei dieser Indikation primär ein erhöhtes Risiko auch für seltenere Chromosomenanomalien besteht. Das eingriffsbedingte Risiko für Fehlgeburten ist dabei in den Händen erfahrener punktierender Ärzte sehr niedrig und sollte vor allem bei klar bestehender Indikation nicht zugunsten weniger aussagekräftiger Verfahren überbewertet werden. Neben ursächlichen Chromosomenstörungen muss abhängig von den klinischen Befunden auch an monogene genetische Syndrome gedacht werden. Klinische Differenzialdiagnosen, Beratung und Auswahl zu Testverfahren, die heute neben Einzelgensequenzierungen auch z.B. Genpanels umfassen, sollten in Expertenzentren diskutiert werden. Auch Restrisiken müssen kommuniziert werden.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Die Entwicklungen der Ultraschalldiagnostik und neuer genomischer Technologien in pränatalen Risikoabschätzungen und diagnostischen Untersuchungen genetischer Erkrankungen führen zweifelsohne zu Möglichkeiten der individuelleren Betreuung von Schwangerschaften. Die detaillierte Familienanamnese hat bei der Identifizierung von spezifischen Diagnosen und Risiken eine besondere Bedeutung und ist Voraussetzung für eine zielgerichtete und kompetente Beratung zu weiteren Untersuchungsverfahren und Interpretation der Ergebnisse. Verfahren zur Risikoabschätzung der häufigen Aneuploidien sollten allen Schwangeren angeboten werden, weitere Untersuchungen hängen von Befunden einschliesslich der Ultraschalluntersuchungen ab. Nicht selten wird der Ausschluss einer spezifischen Erkrankung oder einer Gruppe von Erkrankungen wie Chromosomenanomalien als Nachweis der Gesundheit des Kindes fehlinterpretiert.<sup>7</sup> Daher muss erwähnt werden, dass pränatale Untersuchungen ein erhöhtes Risiko oder eine spezifisch untersuchte Erkrankung ausschliessen, jedoch nicht ein gesundes Kind garantieren können. Das Basisrisiko für ernste Erkrankungen des Neugeborenen liegt bei etwa 1–2 % und bei mindestens 3–5 % , schliesst man weniger schwere, vielfach gut behandelbare Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung sämtlicher Ursachen ein. Bei komplexen Fragestellungen wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit entscheidend sein, um eine qualitativ gesicherte Patientenversorgung zu gewährleisten. Dabei ist nicht zu vergessen, dass Pränataldiagnostik eine Option ist und die werdenden Eltern bzw. die Mutter darüber entscheiden, ob und in welcher Konsequenz sie die heutigen Möglichkeiten wahrnehmen möchten.</p> </div></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Harper PS, Hodder A: Practical genetic counselling. 7th edition. 2010 <strong>2</strong> Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG): www.bag.admin.ch <strong>3</strong> McClatchey T et al.: Missed opportunities: unidentified genetic risk factors in prenatal care. Prenat Diagn 2018; 38(1): 75-79 <strong>4</strong> Ochsenbein N et al.: Pränatale nicht-invasive Risikoabschätzung fetaler Aneuploidien. Expertenbrief Nr. 52 <strong>5</strong> Bianchi DW: Cherchez la femme: maternal incidental findings can explain discordant prenatal cellfree DNA sequencing results. Genet Med 2017. doi: 10.1038/gim.2017.219. [Epub ahead of print] <strong>6</strong> Van Opstal et al.: Origin and clinical relevance of chromosomal aberrations other than the common trisomies detected by genome-wide NIPS: results of the trident study. Genet Med 2018; 20(5): 480-485 <strong>7</strong> Moog U, Riess O (Hg.): Medizinische Genetik für die Praxis. Georg Thieme Verlag, 2014</p>
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