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Genussmittelmissbrauch in der Schwangerschaft
Jatros
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Ursula Kunze
Medizinische Universität Wien<br> Zentrum für Public Health<br> Institut für Sozialmedizin<br> E-Mail: ursula.kunze@meduniwien.ac.at
30
Min. Lesezeit
22.03.2018
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<p class="article-intro">Werden „Genussmittel“ wie Tabakrauch und Alkohol während der Schwangerschaft konsumiert, kann das schwere Schädigungen des Ungeborenen bewirken. Die betroffenen Kinder sind häufig für das ganze Leben gezeichnet und müssen mit schwerwiegenden Folgen leben.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Evidenz für den schädigenden Einfluss von mütterlichem Rauchen während der Schwangerschaft auf das Ungeborene ist in vielen Bereichen sehr gut belegt.</li> <li>Die Epigenetik zeigt, dass Rauchen während der Schwangerschaft das Erbgut des Ungeborenen beeinflusst und der Fetus sogar ein erhöhtes Asthmarisiko hat, wenn seine Großmutter in der Schwangerschaft mit seiner Mutter geraucht hat.</li> <li>Das Vollbild des fetalen Alkoholsyndroms ist nur die Spitze des Eisbergs, weitaus häufiger sind partielle fetale Alkoholspektrumstörungen.</li> <li>Es gibt keine „sichere“ Grenze der Alkoholmenge während der Schwangerschaft.</li> </ul> </div> <p>Das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm definiert „Genussmittel“ als „... <em>Lebensmittel, deren Verzehr weniger der Ernährung als vielmehr dem Genuss dient</em>“.<sup>1</sup> Dazu zählen u.a. Kaffee, Tee, Eis oder Süßigkeiten, Gewürze und vieles mehr. Gerne werden auch Alkohol und Zigaretten den Genussmitteln zugerechnet, hier impliziert der Begriff „Genussmittel“ vor allem im Zusammenhang mit Konsum in der Schwangerschaft eine nicht angebrachte Harmlosigkeit. Aufgrund des großen Schadenspotenzials durch den Konsum dieser Substanzen während der Schwangerschaft wird im Folgenden nur auf diese beiden eingegangen.</p> <h2>Rauchen während der Schwangerschaft</h2> <p>Nikotin als der entscheidende Inhaltsstoff von Tabak mit seinen psychoaktiven Wirkungen kann hochgradig abhängig machen. Nikotinabhängigkeit erfüllt alle Kriterien einer klassischen Drogenabhängigkeit mit Toleranzentwicklung und Kontrollverlust, körperlichem Entzugssyndrom, Konsum trotz schädlicher Folgen, Rückfällen nach Abstinenz oder Vernachlässigung von Interessen zugunsten des Tabakkonsums. In Österreich rauchen ca. 16 % der Frauen zu Beginn der Schwangerschaft. Von diesen raucht bis zu ein Drittel weiter ohne Unterbrechung oder Reduktion, ein Drittel hört auf. Von diesen Frauen beginnt ein Drittel nach der Schwangerschaft und Stillzeit wieder zu rauchen.<sup>2</sup><br /> Das <em>fetale Tabaksyndrom</em> als Oberbegriff für pränatal entstandene Schädigungen eines Embryos oder Fetus durch Tabakrauchen der Mutter oder Passivrauchen während der Schwangerschaft beschreibt eine Reihe von zum Teil gravierenden Auswirkungen. Eine zuverlässige und umfassende Datenlage zu den Zusammenhängen mit Rauchen während der Schwangerschaft zeigt sich bei den folgenden Schädigungen:<sup>3</sup></p> <p><strong>Fetales Wachstum und Geburtsgewicht</strong><br /> Ein deutlicher Zusammenhang zwischen verringertem fetalem Wachstum sowie Geburtsgewicht und Tabakkonsum in der Schwangerschaft ist klar belegt, dabei ist der Zusammenhang zwischen Rauchen und Geburtsgewicht noch deutlicher als jener zwischen Rauchen und Körperlänge. Es besteht eine Dosis-Wirkungs- Beziehung zwischen der Anzahl der gerauchten Zigaretten und einem geringeren Geburtsgewicht (mit einer Reduktion um ca. 100–260g) und auch bei nur geringem Zigarettenkonsum zeigen sich bereits deutliche Einschränkungen.</p> <p><strong>Vorzeitige Plazentalösung und Placenta praevia</strong><br /> Diese beiden Ereignisse sind für den Großteil der mütterlichen und kindlichen perinatalen Mortalität verantwortlich. Das Risiko erhöht sich weiter, wenn mehr als 10 Zigaretten pro Tag geraucht werden.</p> <p><strong>Totgeburt</strong><br /> Definitionsgemäß ist dies der fetale intrauterine Tod mit einem Geburtsgewicht von 500g oder mehr, etwa ab der 23./24. Schwangerschaftswoche. Daten zeigen eine sehr starke Evidenz für ein erhöhtes Risiko, einige Studien ergaben einen Schwellenwert von 10 Zigaretten pro Tag.</p> <p><strong>Plötzlicher Kindstod, Sudden Infant Death Syndrome (SIDS)</strong><br /> Rauchen in und nach der Schwangerschaft hat unabhängige starke und konsistente Effekte auf das Risiko für den plötzlichen Kindstod. Das relative Risiko ist 2- bis 3-fach erhöht, wobei es schwierig ist, den Einfluss des postnatalen von jenem des pränatalen Rauchens zu trennen.</p> <p><strong>Lungenfunktion</strong><br /> Rauchen ist mit einer verringerten Lungenfunktion beim Neugeborenen und Kind assoziiert, in der Folge sind die Risiken für Pneumonie, Bronchitis und bronchiale Hyperreagibilität erhöht. Signifikante Lungenfunktionsverluste bei Schulkindern liegen zwischen 1 % und 6 % .</p> <p><strong>Asthma</strong><br /> Es besteht ein substanziell und signifikant erhöhtes Risiko für das spätere Auftreten von Asthma vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter, wobei eine genetische Prädisposition eine Rolle zu spielen scheint. Die Häufigkeit von Asthma bei Kindern von Raucherinnen ist um 40 % bis 80 % gesteigert.<sup>4</sup> Die Epigenetik zeigt, dass Rauchen während der Schwangerschaft sogar das Erbgut des Ungeborenen beeinflusst. Der Begriff „Epigenetik“ wird für die Beschreibung von Abläufen verwendet, die (teilweise auch vererbbare) Veränderungen der Aktivität von Genen bei gleichzeitig unveränderter DNA-Sequenz verursachen, und sie gilt als das Bindeglied zwischen den Genen und Umwelteinflüssen. Die Epigenetik bestimmt, unter welchen Gegebenheiten Gene an- bzw. abgeschaltet werden, und steuert so die Expression der Gene. Das Genom repräsentiert einen starren Zustand, das Epigenom verändert sich ständig sowohl durch intrazelluläre Steuerungsvorgänge als auch durch äußere Einflüsse.<sup>5</sup><br /> Rauchen in der Schwangerschaft führt zu epigenetischen Veränderungen beim Feten, die negative gesundheitliche Auswirkungen auf die spätere Funktion von Lunge und Immunsystem haben können. Der Tabakrauch-exponierte Fetus hat ein erhöhtes Asthmarisiko, wenn seine Großmutter in der Schwangerschaft mit seiner Mutter geraucht hatte. Das Risiko ist auch erhöht, wenn der Fetus (also das Enkelkind) intrauterin selbst nicht Tabakrauchbelastet war.<sup>6, 7</sup></p> <p><strong>Malformationen</strong><br /> Für einige Malformationen scheint das Risiko erhöht zu sein, z.B. ist eine dosisabhängige Erhöhung des Risikos für Lippen-, Kiefer- oder Gaumenspalten und einen Fehlverschluss des Neuralrohres nachgewiesen, während für andere bislang kein Zusammenhang zu finden ist.</p> <p><strong>Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2</strong><br /> Die Evidenz eines erhöhten Risikos für Übergewicht in der Kindheit und Diabetes mellitus Typ 2 im späteren Leben ist sehr gut.</p> <h2>Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD)</h2> <p>Diese Störungen umfassen bleibende physische und psychische Schädigungen unterschiedlichen Ausmaßes bei Kindern, die während der Schwangerschaft Alkohol ausgesetzt wurden. Die Ursache ist immer und ausschließlich Alkoholkonsum in der Schwangerschaft. Die FASD gehören zu den häufigsten angeborenen Erkrankungen. Die Bandbreite der fetalen Schädigungen ist dabei sehr groß und man unterscheidet vier Krankheitsbilder:<sup>8</sup></p> <ul> <li>das Vollbild „fetales Alkoholsyndrom“ (FAS)</li> <li>das partielle fetale Alkoholsyndrom (pFAS)</li> <li>die alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung</li> <li>die alkoholbedingten angeborenen Malformationen</li> </ul> <p>Der Organismus der Mutter baut Alkohol zehnmal schneller ab als jener des Embryos oder Fetus. In Abhängigkeit vom Reifestadium des Ungeborenen und der Alkoholmenge wirkt sich der Alkoholkonsum irreversibel schädigend auf die körperliche, kognitive und soziale Entwicklung des Kindes aus.<br /> Im Durchschnitt trinken in Europa 25 % der Schwangeren Alkohol, das spiegelt sich auch in der weltweit höchsten FAS-Prävalenz mit 37,4/10 000 in Europa wider; der weltweite Durchschnitt liegt bei 15 von 10 000.<sup>9</sup> Das Vollbild FAS ist nur bei ca. 10 % aller Kinder mit pränatalen Alkoholfolgeschäden vorhanden, weitaus häufiger sind die partiellen fetalen Alkoholspektrumstörungen. Bei diesen finden sich keine oder nur geringe körperliche Fehlbildungen, allerdings hirnorganische Schädigungen mit geistiger oder emotionaler Behinderung und kognitive (Lernstörungen, Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung etc.) sowie sozioemotionale Einschränkungen mit Verhaltensauffälligkeiten. Die Zahl der Betroffenen wird mehr als doppelt so hoch geschätzt wie die des FAS (die FAS-Fälle sind somit nur die Spitze des Eisberges). Laut einer rezenten Metaanalyse werden weltweit jedes Jahr fast 130 000 FAS-Kinder geboren.<sup>9</sup><br /> Für die Diagnose eines FAS müssen folgende Kriterien zutreffen:</p> <ul> <li>Wachstumsverzögerungen (Minderwuchs und Untergewicht; Diagnose: Geburts- oder Körpergewicht bzw. Länge bzw. Body-Mass-Index ≤ 10. Perzentile)</li> <li>faziale Auffälligkeiten (Hautfalten an den Augenecken, kleine Augenöffnungen, tiefe Nasenbrücke, kurze, abgeflachte Nase, schmale Oberlippe, verstrichenes Philtrum, tiefstehende Ohren, schlecht modellierte Ohrmuscheln)</li> <li>funktionelle ZNS-Auffälligkeiten (verminderte Intelligenz, Probleme der Aufnahmefähigkeit und des Gedächtnisses, eingeschränkter Erwerb intellektueller Fähigkeiten, Lernschwierigkeiten, gestörte Feinmotorik, Sprechund Hörstörungen; Diagnose: globale Intelligenzminderung mindestens 2 Standardabweichungen < Norm oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern < 2 Jahren)</li> <li>strukturelle ZNS-Auffälligkeiten (Diagnose: Mikrozephalie ≤ 10. Perzentile, ≤ 3. Perzentile)</li> <li>bestätigte oder nicht bestätigte intrauterine Alkoholexposition (Diagnose: Wenn Auffälligkeiten in allen drei diagnostischen Säulen bestehen, soll die Diagnose ohne Bestätigung des mütterlichen Alkoholkonsums gestellt werden.)<sup>8</sup></li> </ul> <p>Es gibt keine vorgeschriebene sichere Grenze der Alkoholmenge während der Schwangerschaft, und solange nicht ausreichend diesbezügliche Daten vorhanden sind, ist die absolute Abstinenz während der gesamten Schwangerschaft dringend empfohlen.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Lemma: genuszmittel. In: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig: 1854-1960 <strong>2</strong> Gesundheitsbericht Schwangerschaft und Geburt – Eine Studie zur Versorgungssituation in Oberösterreich. 2015 <strong>3</strong> Horak F Jr et al.: Das Fetale Tabaksyndrom – Ein Statement der Österreichischen Gesellschaften für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM), Gynäkologie und Geburtshilfe (ÖGGG), Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin (ÖGHMP), Kinderund Jugendheilkunde (ÖGKJ) sowie Pneumologie (ÖGP). Wien Klin Wochenschr 2012; 124: 129-45 <strong>4</strong> Zacharasiewicz A: Maternal smoking in pregnancy and its influence on childhood asthma. ERJ Open Research 2016; 2: 00042- 2016; DOI: 10.1183/23120541.00042-2016 <strong>5</strong> Brune B et al.: Epigenetik: Einfluss auf die fetale Entwicklung. Neonatologie Scan 2017; 6: 51-70 6 Bauer T et al.: Environment-induced epigenetic reprogramming in genomic regulatory elements in smoking mothers and their children. Molecular Systems Biology 2016; 12: 861 <strong>7</strong> Markunas CA et al.: Identification of DNA methylation changes in newborns related to maternal smoking during pregnancy. Environ Health Perspect 2014; 122: 1147-53 <strong>8</strong> Landgraf N, Heinen F: S3-Leitlinie – Diagnose der Fetalen Alkoholspektrumstörungen FASD. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ 022025k_S3_Fetale_Alkoholspektrumstoerung_Diagnostik_ FASD_2016-06.pdf <strong>9</strong> Popova S et al.: Estimation of national, regional, and global prevalence of alcohol use during pregnancy and fetal alcohol syndrome: a systematic review an</p>
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