
©
Getty Images/iStockphoto
Kann die Dranginkontinenz operativ behandelt werden?
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Christian Fünfgeld
Klinik Tettnang<br> Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe<br> Interdisziplinäres Kontinenz- und Beckenbodenzentrum<br> Web: www.klinik-Tettnang.de<br> E-Mail: c.fuenfgeld@klinik-tt.de
30
Min. Lesezeit
22.03.2018
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Die Dranginkontinenz ist neben der Belastungsinkontinenz die häufigste Form der Harninkontinenz der Frau. Die Belastungsinkontinenz ist eine Schwäche des recht komplizierten Verschlussmechanismus, der sich im Bereich der Urethra und der umgebenden Strukturen befindet. Hier haben sich seit Jahren operative Verfahren zur Behebung der Belastungsinkontinenz etabliert, wenn die konservativen Massnahmen erfolglos blieben. Die wichtigsten sind die suburethralen Schlingen, meist als TVT- oder TOT-Band, oder die Kolposuspension modifiziert nach Burch. Bei geeigneter Indikation sind die Resultate gut und auch dauerhaft. Die Dranginkontinenz wird in der Regel konservativ therapiert. Bisher galt der Grundsatz, dass diese Form der Inkontinenz meist nicht operiert werden kann. In den letzten Jahren werden auch bei der Dranginkontinenz invasive und auch operative Verfahren eingesetzt. Ist die Urgeinkontinenz also doch operativ therapierbar?</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Ursachen einer Dranginkontinenz</h2> <p>Eine imperative Harndrangsymptomatik mit und ohne Urgeinkontinenz kann vielfältige Ursachen haben. Eine der häufigsten ist ein Harnwegsinfekt. Aber auch die nach der Menopause auftretende urogenitale Atrophie kann verstärkten Harndrang verursachen. Blasenentleerungsstörungen mit Restharnbildung fördern die Drangsymptomatik ebenso wie ein Deszensus mit Reizung der Dehnungsrezeptoren. Raumforderungen im kleinen Becken wie grössere Myome, Ovarialtumoren oder entzündliche Adnexprozesse können Urgesymptome bedingen. Alle tumorösen Veränderungen, Fremdkörper oder Steine in der Blase können eine Dranginkontinenz verursachen. Ein eigenes Krankheitsbild mit extremer Symptomatik stellt die interstitielle Zystitis dar, die auch schon in jüngeren Jahren auftreten kann. Nach einer Strahlentherapie maligner Erkrankungen im Becken (Uterus, Rektum, Sigma oder Prostata) kann eine Reizblase mit Harndrang zurückbleiben. Fast jede neurologische Erkrankung (multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Polyneuropathie etc.) verursacht eine nur schwer zu behandelnde Drangsymptomatik. Die aus anderen Gründen eingenommene Medikation hat einen wesentlichen Einfluss auf die Blasenfunktion und kann eine Drangsymptomatik ungünstig beeinflussen. Häufig ist die Drangsymptomatik auch psychosomatisch überlagert. Nur wenn keine der oben genannten Ursachen vorliegt, handelt es sich definitionsgemäss um eine überaktive Blase (OAB). Die ICS (International Continence Society) definiert die OAB als imperativen Harndrang mit erhöhter Miktionsfrequenz mit oder ohne Dranginkontinenz ohne Vorliegen einer metabolischen oder hormonellen Ursache oder einer sonstigen lokalen Pathologie. Damit ist eine frühe Therapie nach Ausschluss eines Harnwegsinfektes und einer relevanten Restharnbildung ohne weitere invasive Diagnostik möglich (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Gyn_1801_Weblinks_lo_gyn_1801_s30_tab1_korr.jpg" alt="" width="350" height="409" /></p> <h2>Konservative Therapie der Urgeinkontinenz</h2> <p>Die gynäkologisch-urologische interdisziplinäre gemeinsame deutsche, österreichische und schweizerische Leitlinie empfiehlt ein Stufenkonzept, das im Folgenden dargelegt wird. Die Basis ist ein Verhaltenstraining, denn ohne Änderung des Trink- und Miktionsverhaltens ist ein dauerhafter Erfolg nicht möglich. Das prophylaktische Miktionieren ohne Ausnutzen der vorhandenen Blasenkapazität kann mit festen verlängerten Miktionsintervallen abtrainiert werden. Auch das sogenannte «Schlüssellochphänomen» ist einer Konditionierung zugänglich. Das Vermeiden von Reizstoffen, Unterkühlung, Obstipation und Übergewicht unterstützen die Massnahmen. Bei postmenopausalen Frauen ist eine vaginale Östrogenisierung mit Estriol sinnvoll und kann ohne wesentliche Risiken auch dauerhaft durchgeführt werden. Die wichtigste konservative Therapiemassnahme ist eine anticholinerge Therapie. Durch Blockade der Muscarinrezeptoren können der Detrusortonus und die Detrusorhyperaktivität gesenkt und das Miktionsvolumen erhöht werden. Die verschiedenen Anticholinergika unterscheiden sich weniger in der Wirkung als im Nebenwirkungsprofil. Die anticholinergen Nebenwirkungen limitieren jedoch die Anwendung. Ein Wechsel des Präparats oder eine andere Applikationsform kann sinnvoll sein. Eine neuere medikamentöse Alternative stellt der selektive β3-Adrenorezeptoragonist Mirabegron dar, der ebenfalls eine Detrusorrelaxation bewirkt. Alle medikamentösen Therapien können den Leidensdruck bei einer OAB senken. Die Abbruchrate ist jedoch relativ hoch, sei es wegen unzureichender Wirkung oder aufgrund der Nebenwirkungen. Mit der Möglichkeit, durch Injektion von Botulinumtoxin A direkt in die Blasenwand die Freisetzung von Acetylcholin aus der Nervenzelle zu verhindern, steht seit einigen Jahren eine hochwirksame Behandlung der Urgeinkontinenz zur Verfügung. Bis auf selten auftretende Blasenentleerungsstörungen ist die Behandlung fast nebenwirkungsfrei. Allerdings ist die Wirkungsdauer auf 6–12 Monate beschränkt, sodass diese bei Bedarf wiederholt werden muss.</p> <h2>Operative Therapie der Urgeinkontinenz</h2> <p>Nach Versagen der konservativen Therapie ist die sakrale Neuromodulation die erste operative Massnahme zur Behandlung der Dranginkontinenz. Durch die Minimalisierung des Verfahrens ist der Eingriff relativ wenig invasiv und dauert nur kurz. Zunächst erfolgt eine Teststimulation mit Einführen der Sonde zur Stimulation durch ein Foramen im Os sacrum. Mit einem externen Schrittmacher wird zunächst die Wirkung überprüft und bei gutem Effekt dann einige Wochen später der endgültige Schrittmacher implantiert. Der Vorteil dieser Methode liegt in der andauernden Wirkung. Eine dauerhafte Betreuung der Patienten ist jedoch erforderlich. Voraussetzung ist eine ausreichende Patientencompliance. Operative Blasenaugmentationen, Denervierungen oder Harnblasenersatz werden als ultimative Massnahmen bei dieser Indikation kaum noch eingesetzt. In letzter Zeit erfolgte eine rege Diskussion über die Möglichkeit der Therapie der Dranginkontinenz durch eine Deszensuskorrektur. Nach der Integraltheorie von Peter Petros ist das Erschlaffen der sakrouterinen Ligamente eine der Ursachen der Drangsymptomatik. Er entwickelte schon vor 20 Jahren eine vaginale Operationstechnik (posteriore intravaginale Schlingeneinlage) zur Suspendierung von Level I (Scheidenende oder Zervix), die sich trotz ordentlicher Resultate für die Drangsymptomatik wegen Komplikationen, ungünstigen Suspensionswinkels der Vagina und eher kurzer Aufhängung nicht durchsetzen konnte. Wolfram Jäger entwickelte auf Grundlage der Integraltheorie ein abdominales Verfahren mit beidseitiger symmetrischer standardisierter Fixation der Zervix oder des Scheidenendes als Ersatz der sakrouterinen Ligamente. Durch diese CESA- oder VASA-Operation soll die Urgeinkontinenz in bis zu 80 % der Fälle geheilt werden. Meist wurde jedoch sekundär eine TOT-Bandeinlage erforderlich, um dieses Ergebnis zu erzielen. Dies würde auch der Integraltheorie nach Petros entsprechen. Die alleinige apikale Fixation des CESA-VASA-Verfahrens erreicht nur in etwa einem Drittel eine Besserung der Dranginkontinenz. Dieser Effekt wird jedoch auch durch jede Deszensuskorrektur, gleich welcher Art, erreicht. Dieses Verfahren wird unter Urogynäkologen sehr kontrovers diskutiert, zumal die Erstveröffentlichung erhebliche methodische Schwächen hat. Die Diskussion über die Option, eine Dranginkontinenz zu operieren, wurde jedoch hierdurch angeregt. Deshalb wurde die über drei Jahre Nachbeobachtung angelegte prospektive Tiloop-Studie mit 289 Patientinnen auch bezüglich des Effektes auf die überaktive Blase ausgewertet. Hierbei zeigte sich, dass sich durch die Korrektur einer symptomatischen Zystozele mit einem alloplastischen Netz mit distaler, lateraler und apikaler Fixierung eine hochsignifikante Besserung aller drei OAB-Symptome Pollakisurie, imperativer Harndrang und Urgeinkontinenz erreichen lässt (Abb. 1–3). Da bisher nur wenige gute prospektive Studien vorliegen, die den Einfluss einer Deszensuskorrektur auf die Dranginkontinenz als Studienziel gemessen haben, ist eine abschliessende Bewertung derzeit noch nicht möglich (Tab. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Gyn_1801_Weblinks_lo_gyn_1801_s32_abb1-3+tab2_korr.jpg" alt="" width="450" height="1286" /></p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Die Urgeinkontinenz verursacht einen hohen Leidensdruck, sodass bei betroffenen Patientinnen der eindringliche Wunsch nach einer wirksamen Therapie besteht. Auch hier gilt der allgemeine Grundsatz: konservative vor operativer Behandlung. Deshalb ist hier ein stufenweises Vorgehen sinnvoll. Begonnen wird mit Verhaltenstherapie, vaginaler Östrogenisierung und anticholinerger bzw. adrenerger Medikation. Bei Nichtansprechen auf die Therapie ist eine eingehende Untersuchung in Bezug auf eventuell vorhandene Ursachen erforderlich. Bei Vorliegen einer infravesikalen Obstruktion, von Blasentumoren, eines Urethraldivertikels oder von anderen organischen Ursachen kann eine Operation mit Beseitigung der Ursachen die Dranginkontinenz bessern oder heilen. Eine therapierefraktäre Urgeinkontinenz kann im nächsten Schritt mit einer intravesikalen Botulinuminjektion oft erfolgreich behandelt werden. Die nächste Stufe wäre die Sakralnervenmodulation als minimal invasiver Eingriff. Wenn die konservative Therapie keinen Erfolg zeigt und ein Deszensus mit apikalem Defekt oder nennenswerter Zystozele vorliegt, kann eine Deszensusoperation durchaus erwogen werden. Eine intensive ärztliche Begleitung ist bei Patienten mit Dranginkontinenz als meist chronisches Leiden oft über einen längeren Zeitraum erforderlich. Die Basistherapie kann in der ambulanten Praxis begonnen werden. Falls diese nicht wirkt, ist eine Vorstellung in einem urogynäkologisch spezialisierten Zentrum sinnvoll.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>beim Verfasser</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Verbesserung der Ästhetik ohne onkologische Kompromisse
In der Brustchirurgie existiert eine Vielzahl an unterschiedlich komplexen onkoplastischen Operationstechniken mit verschiedenen Klassifikationen. Die kritische Selektion der Patient: ...
Neue Erkenntnisse zur Kolporrhaphie
Die Kolporrhaphie ist eines der etabliertesten chirurgischen Verfahren in der Beckenbodenchirurgie, welches vorrangig zur Behandlung von Beckenorganprolaps (BOP) eingesetzt wird. Die ...
Die Kunst ärztlicher Kommunikation bei Breaking Bad News
Worte haben entscheidende Wirkungen. In Gesprächen mit Patient:innen und Angehörigen gibt es meist eine hohe Erwartungshaltung gegenüber der Ärztin, dem Arzt. Vor allem die Übermittlung ...