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„Macht die Pille lustlos?“
Jatros
Autor:
Dr. Susanne Hinterholzer
Oberärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe<br> Thermenklinikum Mödling<br> E-Mail: susanne.hinterholzer@gmail.com
30
Min. Lesezeit
23.03.2017
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<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>40 % aller Frauen weltweit berichten über Sexualfunktionsstörungen – verminderte Libido ist dabei das am häufigsten genannte Problem, gefolgt von Orgasmusschwierigkeiten.<sup>4, 5</sup></li> <li>Die größte Übersichtsarbeit zum Thema8 bescheinigt nur 15 % der Pillenanwenderinnen eine Abnahme der Libido – bei 85 % kommt es zu keiner signifikanten Veränderung oder sogar zur Zunahme der Lust. Allerdings ist in dieser Arbeit auch ein Viertel aller untersuchten Studien pharmazeutisch gesponsert.</li> <li>Es gibt im Hinblick auf die Libido keinen Unterschied darin, welche Pille man verschreibt – weder die Dosis des E2 noch die Gestagenkomponente (androgen, antiandrogen oder partiell androgen) zeigen signifikante Unterschiede.<sup>9, 12</sup></li> <li>„Libidoschwankungen“ sind im Verlauf des natürlichen Zyklus der Frau sehr wahrscheinlich: Es zeigen sich bis zu 24 % häufigere Sexualkontakte in den Tagen vor der Ovulation.<sup>10, 11</sup> Dieser Libido-Peak wird unter Pilleneinnahme vielleicht genauso unterdrückt wie der LH-Peak.</li> <li>In vielen Arbeiten zeigen sich zwar ein Abfall des Testosterons und ein Anstieg des SHBG. Die Zusammenhänge mit der Libido jedoch sind heterogen und wenig konsistent. Demzufolge sind Hormonspiegel leider nicht hilfreich in der Evaluierung von Sexualfunktionsstörungen.</li> </ul> </div> <p>Bereits 2005 veröffentlichte der renommierte Sexualmediziner Irwin Goldstein im New Scientist eine Arbeit, in der er darlegt, dass bei seinen Patientinnen die Einnahme der Pille zu einer Abnahme der Libido führt. Goldstein findet eine Abnahme des Testosteronspiegels im Serum und geht davon aus, dass durch das Absinken des Testosterons die Lust abnimmt. Mehr noch: Er kann zeigen, dass der Spiegel Sexualhormon-bindenden Globulins (SHBG) auch nach Absetzen der Pille bei einigen Frauen über einen längeren Zeitraum erhöht bleibt. Daraus schließt er, dass es durch die Einnahme der Pille zu einer längerfristigen, vielleicht sogar zu einer permanenten Verminderung der Lust kommen könnte.<br /> Wenn dem so wäre, müsste man allerdings davon ausgehen, dass die weibliche Lust in direktem Zusammenhang mit dem weiblichen Androgenspiegel steht – so einfach ist es, wie ich finde, leider nicht. Bancroft et al haben bereits in den 1980er- Jahren versucht, den Libidoabfall bei Anwenderinnen oraler Kontrazeptiva durch die Zufuhr exogener Androgene zu vermindern, was schon damals keinen Erfolg brachte.<sup>1</sup><br /> Auch Östrogene haben einen Einfluss auf die weibliche Sexualfunktion. So wissen wir beispielsweise, dass das Absinken der Östrogenserumlevel in der Peri- und Postmenopause assoziiert ist mit einer Reduktion der Lubrikation sowie mit einer Verminderung der vulvovaginalen Durchblutung.<sup>2</sup><br /> Eine Frau, die sich mit diesem Thema schon früh wissenschaftlich auseinandergesetzt hat, ist Prof. Loren Dennerstein von der Melbourne University. Sie zeigt in ihrer Arbeit, dass abnehmende Östrogenspiegel eine Abnahme der sexuellen Erregbarkeit nach sich ziehen. Keinerlei Korrelation zeigt sich hingegen in der gleichen Arbeit zwischen Sexualfunktion und Androgenwerten. <sup>3</sup></p> <h2>Ein bisher unterschätztes Problem</h2> <p>Sind wir als Fachärzte für Frauenheilkunde überhaupt konfrontiert mit dem Problem der Sexualfunktionsstörung? Diese Frage lässt sich mit einem eindeutigen Ja beantworten. Weltweit berichten mehr als 40 % aller Frauen über sexuelle Beschwerden. Eine der größten Prävalenzstudien, in der insgesamt über 14 000 Frauen aus 29 Ländern mittels Fragebogen, live oder am Telefon befragt wurden, ist die Arbeit von Laumann und Mitarbeitern. <sup>4</sup> Befragt nach sexuellen Beschwerden, klagten bis zu 43 % der Frauen über eine verminderte Libido, gefolgt von Orgasmusschwierigkeiten.<br /> Die größte US-amerikanische epidemiologische Studie ist die PRESIDE Study.<sup>5</sup> Sie bezieht auch den persönlichen Leidensdruck ein, zudem wurden auch Frauen befragt, die zum Zeitpunkt der Erhebung nicht in einer sexuellen Partnerschaft standen. Über 30 000 Frauen beantworteten einen validierten Fragebogen zum Thema verminderte Libido, verminderte Erregung und Orgasmusschwierigkeiten. Das häufigste Sexualproblem ist laut dieser Studie ebenfalls der Libidomangel mit 39 % , gefolgt von verminderter Erregbarkeit und Orgasmusschwierigkeiten. Bei immerhin 14 % der Befragten ist ihr Problem assoziiert mit erheblichem persönlichem Stress. Die Prävalenz ist in dieser Studie am höchsten bei Frauen zwischen 45 und 64 Jahren.</p> <h2>Ursachen für Störungen der Sexualfunktion</h2> <p>Unbestritten ist sicher, dass die Risikofaktoren für Sexualfunktionsstörungen – allen voran die mangelnde Libido – „multifaktoriell“ sind. Nicht nur für Fachleute, sondern für jeden von uns ist klar: Wenn es um die Lust geht, spielen Partnerschaftskonflikte, psychologische Probleme, Stress am Arbeitsplatz, Müdigkeit und kleine Kinder, Alter, Menopause usw. eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Ebenso haben natürlich psychiatrische und neurologische Erkrankungen sowie eine Reihe von Medikamenten (SSRI, Betablocker, Aromataseinhibitoren, …) und gynäkologische Erkrankungen von Senkung über Harnverlust bis hin zur Endometriose Einfluss auf die Libido.<br /> Was die Pille anbelangt, so gibt es tatsächlich wenige randomisierte Studien, die den Effekt hormoneller versus nicht hormoneller Empfängnisverhütungsmittel untersuchen. Eine dieser wenigen Arbeiten ist im August 2016 erschienen, publiziert von einer Arbeitsgruppe des renommierten Karolinska-Institutes in Stockholm.<sup>6</sup> Die Autoren haben festgestellt, dass wir zu wenig darüber wissen, ob orale Kontrazeptiva die Sexualität beeinflussen, vielleicht sogar beeinträchtigen. Sie haben die Hypothese aufgestellt, dass eine sehr weit verbreitete Pille – 0,03mg E2 (Östradiol) plus 0,15mg LNG (Levonorgestrel) – die Sexualität beeinträchtigt, und haben 340 Frauen zwischen 18 und 35 Jahren in zwei Gruppen randomisiert. Eine Gruppe nahm diese Pille, die andere ein Placebo ein. Primärer Endpunkt war der Gesamt-Score des PFSF („profile of female sexual function“) – ein validierter Sexualfragebogen. Zweiter Endpunkt waren die sieben Untergruppen des PFSF-Fragebogens („desire“, „arousal“, „pleasure“, „concern“, „responsiveness“, „self-image“, „orgasm“).<br /> Es zeigte sich zwar insgesamt keine negative Auswirkung auf den „Gesamt-Score“ der Sexualfunktion – jedoch waren die drei Domänen „desire“, „arousal“ und „pleasure“ in der Pillengruppe signifikant vermindert.</p> <h2>Heterogene Resultate großer Studien</h2> <p>Eine der bislang größten Studien zum Thema ist im Frühjahr 2016 in Obstetrics and Gynecology erschienen.<sup>7</sup> Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine prospektive Kohortenstudie. Zwischen April und September 2011 wurden 1938 Frauen mittels Telefon-Survey befragt, und zwar bevor und sechs Monate nachdem sie mit der Anwendung einer neuen Empfängnisverhütungsmethode begonnen hatten. Von diesen Frauen zeigten mehr als eine von fünf, nämlich 23,9 % , sechs Monate nach Beginn einer neuen Empfängnisverhütungsmethode vermindertes Interesse an Sex – unabhängig davon, mit welcher Empfängnisverhütungsmethode begonnen wurde.<br /> Das „primary outcome“ der Studie, nämlich das verminderte Interesse an Sex, zeigte sich in erster Linie bei jungen Frauen, bei Patientinnen schwarzer Hautfarbe und bei Frauen, die verheiratet oder in einer fixen Partnerschaft lebten. Als Referenzgruppe wurden 262 Patientinnen herangezogen, die eine Kupferspirale erhalten hatten. In dieser Gruppe zeigte sich ein mangelndes Sexinteresse bei 18,3 % . Im Vergleich zu dieser Referenzgruppe zeigte sich vermindertes Interesse an sexueller Aktivität bei Patientinnen unter Dreimonatsspritze, Progesteronimplantat sowie beim vaginalen Verhütungsring. Kein Unterschied im Vergleich zur Kupferspirale zeigte sich beim Pflaster, bei der Hormonspirale oder bei kombinierter oraler Kontrazeption, also Pille.<br /> Die Arbeit von Pastor et al ist ein großer systematischer Review, erschienen im Februar 2013.<sup>8</sup> Evaluiert wurden insgesamt 36 Studien mit insgesamt 13 673 Frauen, 8422 davon Anwenderinnen der Pille. Von den Frauen, die die Pille einnahmen, berichteten 85 % über eine Zunahme ihrer Libido oder keine Veränderung, während nur 15 % über eine Abnahme ihrer Libido klagten.<br /> In beinahe der Hälfte der Arbeiten zeigt sich also zwar ein Zusammenhang zwischen der sexuellen Lust und Veränderungen der Serumspiegel von Testosteron und SHBG. Allerdings sind die Studienergebnisse so heterogen und so wenig konsistent, dass kein Zusammenhang zwischen Hormonlevels und Libido hergestellt werden kann.<br /> Erwähnenswert allerdings ist, dass fast 25 % der Studien ein pharmazeutisches Sponsoring aufweisen.<br /> Aus der Arbeitsgruppe um Wallwiener wurde 2015 ebenfalls eine größere Arbeit publiziert, die für uns von besonderem Interesse ist, da es sich um eine Umfrage unter Medizinstudentinnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz handelt. <sup>9</sup> Dazu wurden 2612 Medizinstudentinnen online befragt – sie beantworteten den Fragebogen FSFI („Female Sexual Function Index“), einen validierten Sexualfragebogen, sowie 17 weitere Fragen zu demografischen Daten und Kontrazeption – immerhin 72 % der befragten Studentinnen verhüteten mit der Pille. Die oralen Kontrazeptiva sind hinsichtlich ihres E2- Gehaltes (15–35 Mikrogramm) sowie hinsichtlich ihrer Gestagenkomponente (androgen, partiell androgen und antiandrogen) aufgeschlüsselt. Weder die Dosierung des E2 noch die unterschiedlichen Gestagenkomponenten zeigten einen statistisch signifikanten Zusammenhang mit der Sexualfunktion.<br /> Interessanterweise ergab die Auswertung der Fragebögen in Wallwieners Studie, dass die Scores des FSFI bei den Frauen am niedrigsten waren, die gar nicht verhüteten. Das heißt also, dass das Risiko, eine Sexualfunktionsstörung zu entwickeln, bei den Frauen, die gar keine Verhütung hatten, mit 57 % am höchsten war, gefolgt von den Frauen, die orale hormonale Kontrazeptiva, also die Pille, schluckten (36,7 % ). Das geringste Risiko, eine Sexualfunktionsstörung zu entwickeln, hatten jene Frauen, die nicht hormonell verhüteten (27,4 % ).</p> <h2>Libido abhängig vom Zyklus</h2> <p>Spannend finde ich persönlich auch die Überlegung, dass es im Verlauf des natürlichen Zyklus der Frau sehr starke „Libidoschwankungen“ zu geben scheint.<sup>10, 11</sup> In diesen Arbeiten wurden bei sexuell aktiven Frauen, die keine Probleme hatten und nicht hormonell verhüteten, über mehrere Zyklen täglich Ovulationstests, Östrogen- und Progesteronmessungen durchgeführt. Die sechs Tage vor der Ovulation wurden als die fruchtbaren Tage definiert und die Probandinnen führten täglich Aufzeichnungen über Blutungsepisoden und ihr Sexualverhalten. Die Tage mit Blutungen wurden von der Analyse ausgeschlossen und es zeigte sich in dieser Arbeit ein Anstieg der Frequenz an Sexualkontakten in der Follikelphase mit einem Höhepunkt zum Zeitpunkt der Ovulation. Genauer gesagt: An den sechs Tagen mit der errechneten höchsten Fruchtbarkeit, nämlich vor dem Eisprung, war die Sexualfrequenz um 24 % höher als an den anderen Tagen. Die Pille unterdrückt also vielleicht nicht nur den mittzyklischen LH-Peak, sondern auch den mittzyklischen Libido-Peak. Interessanterweise zeigt die Arbeit auch, dass es nach dem Peak, also der Ovulation, zu einem abrupten Abfall der Sexualfrequenz kommt.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> Die Endokrinologie der weiblichen Sexualität ist letztlich nicht genau geklärt. Verminderte Androgenspiegel und ein Anstieg des SHBG durch die Pille sind wohl nicht alleine „schuld“ an einer eventuell verminderten Libido. Natürlich wissen wir, dass die Sexualfunktion – in erster Linie die Libido – von vielen Faktoren abhängt – am meisten vielleicht vom „Beziehungsstatus“. Alter und Menopause haben einen Einfluss, der jedoch von Frau zu Frau sehr stark variiert. Der Literatur zufolge ist eine Auswirkung der oralen Kontrazeption auf die weibliche Sexualfunktion statistisch unwahrscheinlich, jedoch nicht ausgeschlossen. Angststörungen, Depressionen und Medikamente wie SSRI sind sehr viel stärker mit weiblicher Sexualfunktionsstörung assoziiert als die Pille. Dennoch führt die Pille durch ihre Unterdrückung des natürlichen Zyklus der Frau und durch die Suppression der damit assoziierten periovulatorischen Libidozunahme bei einigen Frauen zu einer auffallenden Abnahme ihrer Lust unter der Pille.</div></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Bancroft J et al: Androgens and sexual behavior in women using oral contraceptives. Clin Endocrinol (Oxf) 1980; 12: 327-40 <strong>2</strong> BermanJ et al: Female sexual dysfunction: incidence, pathophysiology, evaluation and treatment options. Urology 1999; 54: 385-91 <strong>3</strong> Dennerstein L et al: Hormones and sexuality: effect of estrogen and progestogen. Obstet Gynecol 1980; 56: 316-22 <strong>4</strong> Laumann EO et al: Sexual problems among women and men aged 40-80y: prevalence and correlates identified in the Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors. Int J Impot Res 2005; 17: 39-57 <strong>5</strong> Shifren JL et al: Sexual problems and distress in United States women: prevalence and correlates. Obstet Gynecol 2008; 112: 970-8 <strong>6</strong> Zethraeus N et al: Combined oral contraceptives and sexual function in women – a double-blind, randomized, placebo-controlled trial. J Clin Endocrinol Metab 2016; 101: 4046-53 <strong>7</strong> Boozalis A et al: Sexual desire and hormonal contraception. Obstet Gynecol 2016; 127: 563-72 <strong>8</strong> Pastor Z et al: The influence of combined oral contraceptives on female sexual desire: a systematic review. Eur J Contracept Reprod Health Care 2013; 18: 27-43 <strong>9</strong> Wallwiener C W et al: Are hormonal components or oral contraceptives associated with impaired female sexual function? A questionnairebased online survey of medical students in Germany, Austria and Switzerland. Arch Gynecol Obstet 2015; 292: 883- 90 <strong>10</strong> Roney JR, Simmons ZL: Hormonal predictors of sexual motivation in natural menstrual cycles. Horm Behav 2013; 63: 636-45 <strong>11</strong> Wilcox AJ et al: On the frequency of intercourse around ovulation: evidence for biological influences. Hum Reprod 2004; 19: 1539-43 <strong>12</strong> Strufaldi R et al: Effects of two combined hormonal contraceptives with the same composition and different doses on female sexual function and plasma androgen levels. Contraception 2010; 82: 147-54</p>
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