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Einsatz von Cannabis-basierten Medikamenten in der Neurologie und Psychiatrie
Jatros
Autor:
Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie<br> Medizinische Hochschule Hannover<br> E-Mail: mueller-vahl.kirsten@mh-hannover.de
30
Min. Lesezeit
19.12.2019
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<p class="article-intro">Seit Inkrafttreten des „Cannabis als Medizin“-Gesetzes im Jahr 2017 in Deutschland hat die Verschreibung von Cannabis-basierten Medikamenten einschließlich Medizinalcannabisblüten kontinuierlich zugenommen. Mittlerweile sind Cannabis-basierte Medikamente fester Bestandteil des Therapiespektrums bei verschiedenen Erkrankungen. Ihr Stellenwert bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen ist – abgesehen von der Behandlung der Spastik bei Multipler Sklerose – allerdings noch weitestgehend ungeklärt.</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Besteht nach ärztlicher Einschätzung eine Indikation für eine Cannabis-basierte Behandlung, sollte geprüft werden, ob auch die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse erfüllt sind.</li> <li>Die therapieresistente mittelschwere oder schwere Spastik bei Multipler Sklerose ist die einzige Indikation im Bereich Neurologie/Psychiatrie, für die mit dem Cannabisextrakt Nabiximols (Sativex<sup>®</sup>) ein betäubungsmittelgesetzpflichtiges Cannabis-basiertes Medikament zugelassen ist.</li> <li>Seit Kurzem ist der Cannabidiol(CBD)-Extrakt Epidyolex<sup>®</sup> für die Behandlung des Lennox-Gastaut- und Dravet- Syndroms zugelassen. Für ihn gelten aber nicht die Regelungen des „Cannabis als Medizin“-Gesetzes und er unterliegt auch nicht der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung.</li> <li>Für zahlreiche weitere psychiatrische und neurologische Erkrankungen wird eine Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente diskutiert.</li> </ul> <h2>Wie ist der rechtliche Rahmen?</h2> <p>Im Rahmen des im März 2017 in Kraft getretenen „Cannabis als Medizin“-Gesetzes wurden Medizinalcannabisblüten und daraus hergestellte Extrakte von Anlage I in Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes (BtmG) umgestuft und dadurch überhaupt erst verschreibungsfähig. Parallel wurde im Sozialgesetzbuch (SGB) V § 31 Abs. 6 festgelegt, unter welchen Voraussetzungen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für diese Therapie übernehmen müssen (Tab. 1).<br /> Diese gesetzlichen Regelungen beziehen sich auf alle Medizinalcannabisblüten (unabhängig vom Gehalt an Tetrahydrocannabinol [THC] und Cannabidiol [CBD]) sowie alle THC-haltigen Medikamente inklusive Cannabisextrakten und des THC-Analogons Nabilon. Hingegen gelten das „Cannabis als Medizin“-Gesetz sowie die genannten Regelungen zur Kostenerstattung nicht für das (Rezeptur-)Arzneimittel CBD und CBD-Extrakte.<br /> Nur zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes – am 6. Juni 2019 – hat der Deutsche Bundestag ein weiteres Gesetz verabschiedet mit dem Ziel, den bürokratischen Aufwand in Zusammenhang mit der Verschreibung Cannabis-basierter Medikamente sowie die Kosten zu reduzieren (Tab. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1906_Weblinks_s37_tab1.jpg" alt="" width="1299" height="537" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1906_Weblinks_s37_tab2.jpg" alt="" width="1299" height="689" /></p> <p> </p> <h2>Verschreibungsfähige Cannabisbasierte Medikamente</h2> <p>Alle THC-haltigen Cannabis-basierten Medikamente sowie alle Medizinalcannabisblüten (unabhängig vom THC-Gehalt) unterliegen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung. In Deutschland zugelassen sind aktuell lediglich drei Präparate auf Cannabisbasis in folgenden Indikationen:</p> <ul> <li>der Cannabisextrakt Nabiximols (Sativex<sup>®</sup>) für die Behandlung der therapieresistenten mittelschweren oder schweren Spastik bei Multipler Sklerose (MS)</li> <li>das THC-Analogon Nabilon (Canemes<sup>®</sup>) für die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen im Rahmen einer Krebschemotherapie</li> <li>der CBD-Extrakt Epidyolex® für die Begleitbehandlung zu Clobazam bei Kindern ab zwei Jahren bei Krampfanfällen im Zusammenhang mit dem Lennox- Gastaut-Syndrom und dem Dravet-Syndrom</li> </ul> <p>Darüber hinaus sind weitere (nicht zugelassene) Cannabis-basierte Medikamente verschreibungsfähig, darunter Medizinalcannabisblüten mit unterschiedlichen Gehalten an THC und CBD (Stand 11/2019: 42 verschiedene Blütensorten mit THC-Gehalten zwischen 1 und 25 % und CBD-Gehalten zwischen < 1 % und 12,5 %), die Reinsubstanzen THC und CBD sowie seit Kurzem in zunehmender Anzahl Cannabis- Vollspektrum-Extrakte (mit unterschiedlichen THC- und CBD-Gehalten) in Tropfenform zur oralen Einnahme (Tab. 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1906_Weblinks_s37_tab3.jpg" alt="" width="1299" height="800" /></p> <h2>Einsatz in der Neurologie</h2> <p><strong>Spastik bei MS</strong> <br />Nicht nur wegen der Zulassung von Nabiximols in dieser Indikation können keine begründeten Zweifel an der Tatsache bestehen, dass THC-haltige Cannabis-basierte Medikamente zu einer Reduktion der Spastik in dieser Patient(inn)engruppe führen können. Oft wirken sich weitere Wirkungen positiv auf das Behandlungsergebnis aus, etwa eine Reduktion von Schmerzen, Ängsten und Übelkeit oder eine Verbesserung von Schlaf, Stimmung, Appetit und Gewicht. Unklar ist hingegen, ob Cannabisbasierte Medikamente auch bei einer Spastik aus anderer Ursache wirksam sind.</p> <p><strong>Bewegungsstörungen</strong> <br />Auch wenn zahlreiche präklinische Studien Hinweise darauf erbrachten, dass Cannabis-basierte Medikamente in der Behandlung extrapyramidal-motorischer Bewegungsstörungen (etwa M. Parkinson, M. Huntington, Dystonie, Tremor) wirksam sein könnten, so fehlen bis heute aussagekräftige klinische Studien, die dies eindeutig klären konnten. In Einzelfällen wurde über eine deutliche Symptomverbesserung beim Restless-Legs-Syndrom berichtet.</p> <p><strong>Epilepsie</strong> <br />Der CBD-Extrakt Epidyolex<sup>®</sup> führt mehreren großen kontrollierten Studien zufolge zu einer zum Teil erheblichen Anfallsreduktion bei Kindern mit schwerer Epilepsie bei Dravet- und Lennox-Gastaut-Syndrom. Inwieweit Cannabis-basierte Medikamente auch zur Behandlung anderer Epilepsien geeignet sind, ist nicht bekannt. Einzelne Patient(inn)en berichten allerdings über erstaunliche Behandlungseffekte mit unterschiedlichen Substanzen einschließlich Medizinalcannabisblüten.</p> <p><strong>Neuroprotektion</strong> <br />Cannabinoide wirken neuroprotektiv. Allerdings ist bis heute unklar, ob dies auch von therapeutischem Nutzen sein könnte, etwa in der Behandlung von neurodegenerativen Erkrankungen einschließlich M. Alzheimer oder nach Schlaganfall.</p> <h2>Einsatz in der Psychiatrie</h2> <p><strong>Tourette-Syndrom</strong> <br />Die beste Datenlage liegt für die Behandlung von Tics im Rahmen eines Tourette- Syndroms vor. Neben Fallberichten mit insgesamt ca. 250 Patienten konnte in zwei kleinen kontrollierten Studien eine Wirksamkeit von THC nachgewiesen werden. Größere Studien mit verschiedenen Cannabis-basierten Medikamenten werden aktuell durchgeführt.</p> <p><strong>Weitere psychiatrische Indikationen</strong> <br />Hierzu zählen die Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Angststörungen, Schizophrenien, Depression, Schlafstörungen, Zwangsstörungen, Autismusspektrum-Störungen, Suchterkrankungen. <br />Für eine Vielzahl weiterer psychiatrischer Erkrankungen gibt es gut begründete Hinweise auf eine Wirksamkeit Cannabis- basierter Medikamente. Allerdings fehlen in sämtlichen Indikationen kontrollierte Studien mit ausreichenden Fallzahlen, um eine abschließende Bewertung zur Wirksamkeit vornehmen zu können. So war beispielsweise CBD in kleinen Studien wirksam in der Behandlung von Patient(inn)en mit Schizophrenie und Angststörungen (besonders bei sozialer Phobie). In einer kleinen Studie führte Nabiximols zu einer Verbesserung von Symptomen der ADHS. In offenen Studien fand sich eine Wirksamkeit sowohl von CBD als auch von Cannabis, Nabilon und THC in der Therapie der PTBS. In Einzelfallberichten wurden zum Teil erstaunliche Behandlungseffekte beschrieben bei zuvor als therapieresistent eingestuften Patient(inn)en mit Zwangserkrankung und Autismusspektrum- Störung. In der Behandlung von Patient(inn)en mit somatischen Störungen wurde oft eine stimmungsaufhellende Wirkung Cannabis-basierter Medikamente beobachtet und über eine Verbesserung des Schlafes berichtet. Bisher fehlen aber Studien bei Patient(inn)en mit Depression und Schlafstörungen als primärer Indikation. Aktuell wird intensiv intersucht, ob Cannabis-basierte Medikamente sinnvoll zur Substitution bei Abhängigkeitserkrankungen eingesetzt werden können, etwa auch im Rahmen einer Opioidabhängigkeit.</p> <h2>Das Cannabis-Dilemma</h2> <p>Wegen der ubiquitären (illegalen) Verfügbarkeit von Cannabis und seines Gebrauchs zu medizinischen Zwecken seit Jahrtausenden blicken wir auf ein umfangreiches Wissen zur potenziellen Wirkung von Cannabinoiden zurück. Daraus resultieren zahlreiche Berichte über positive Wirkungen bei einer großen Vielzahl von Erkrankungen. Dies reicht von Anorexie, Kachexie und chronischen Schmerzstörungen über chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Colitis ulcerosa und Rheuma bis hin zu psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen. Der anzunehmenden therapeutischen Breite Cannabis-basierter Medikamente steht ein eklatanter Mangel an großen kontrollierten Studien gegenüber. Dies ist nicht zuletzt in der fehlenden Patentierbarkeit von Cannabis begründet. Das „Cannabis als Medizin“-Gesetz hat den Rahmen geschaffen, Cannabis-basierte Medikamente auch heute schon therapeutisch nutzen zu können, damit Patient(inn)en, die von einer solchen „Off-label“-Therapie profitieren, nicht noch Jahre bis zum Vorliegen entsprechender Studien warten müssen.</p> <h2>Das Endocannabinoid-System</h2> <p>Die Wirkung von THC wird primär durch spezifische Cannabinoid-1(CB1)- und Cannabinoid-2(CB2)-Rezeptoren vermittelt. Physiologisch binden an diesen Rezeptoren körpereigene (endogene) Liganden, sogenannte Endocannabinoide, darunter Anandamid (N-Arachidonylethanolamid, AEA) und 2-Arachidonylglycerol (2-AG). THC wirkt somit als Agonist im Endocannabinoid-System. CBD hingegen wirkt antagonistisch an CB-Rezeptoren und beeinflusst darüber hinaus zahlreiche weitere Transmittersysteme, etwa das serotonerge System.</p> <h2>Unerwünschte Wirkungen und Kontraindikationen</h2> <p>Cannabis-basierte Medikamente gelten als sicher. Nebenwirkungen treten insbesondere zu Therapiebeginn auf, sind meist transient und lassen im Verlauf der Behandlung nach. Kaum je kommt es zu schwerwiegenden Nebenwirkungen. Die häufigsten akuten Nebenwirkungen THC-haltiger Präparate sind Müdigkeit, Benommenheit, Schwindel, Mundtrockenheit, Angst, Übelkeit und kognitive Beeinträchtigungen. Gelegentlich kommt es zu Euphorie, Verschwommen-Sehen und Kopfschmerzen. Als seltene Nebenwirkungen gelten orthostatische Hypotonie, Psychose, Wahnvorstellungen, Depression, Ataxie, Desorientiertheit, Tachykardie, Cannabis- Hyperemesis-Syndrom und Diarrhö. Als Kontraindikationen gelten eine vorbestehende Psychose, Schwangerschaft und Stillzeit. Sehr streng sollte die Indikation bei Kindern und Jugendlichen gestellt werden. <br />CBD ist selbst in hohen Dosierungen sehr gut verträglich. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Schläfrigkeit, Sedierung, Lethargie, erhöhte Leberenzyme, verminderter Appetit, Durchfall, Ausschlag, Unwohlsein, Schwäche und Schlafstörungen. Einzige Kontraindikation ist eine Überempfindlichkeit.</p> <h2>Ausblick</h2> <p>Weltweit sind zahlreiche Studien in Planung oder Durchführung, um die Wirksamkeit und Sicherheit Cannabis-basierter Medikamente in zahlreichen verschiedenen Indikationen zu untersuchen. Allerdings wird es noch Jahre dauern, bis in allen aktuell diskutierten neurologischen und psychiatrischen Indikationen belastbare Studien vorliegen. Das Spektrum der verschreibungsfähigen Cannabis-basierten Medikamente hat sich in jüngster Zeit erheblich erweitert. In naher Zukunft werden weitere Cannabisextrakte verfügbar sein. Parallel werden sogenannte Endocannabinoid- Modulatoren in ersten klinischen Studien untersucht, die entweder den Abbau oder die Wiederaufnahme der Endocannabinoide Anandamid und 2-AG hemmen. Ob dieser weitaus spezifischere Wirkmechanismus Vorteile in der Behandlung mit sich bringt, bleibt abzuwarten. <br /><br />Webseiten zum Thema: <br />Internetseite der Bundesopiumstelle <br /><a href="http://www.bfarm.de">http://www.bfarm.de <br /></a>Internetseite der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM) <br /><a href="https://www.arbeitsgemeinschaft-cannabismedizin.de/">https://www.arbeitsgemeinschaft-cannabismedizin.de/</a></p> <p> </p></p>
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<p>bei der Verfasserin</p>
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