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«Alle haben das Recht auf eine gleich gute Behandlung»
Carolin Lerchenmüller hat im Mai dieses Jahres den ersten Lehrstuhl für Gender Medicine in der Schweiz übernommen. Im Interview mit Leading Opinions Wochenbulletin erzählt die Kardiologin über ihre Pläne für die Zukunft.
An der Universität Zürich wurde nun der erste Lehrstuhl für Gender Medicine in der Schweiz besetzt. Warum haben Sie sich beworben, was hat Sie angetrieben?
Ich bin Kardiologin und Grundlagenwissenschaftlerin, traditionell ein recht männerdominiertes Feld. Man kann schon sagen, dass eine eher einseitige Zusammenstellung von Teams und vor allem auch Führungspositionen den Blickwinkel auf das, was beforscht wird, beeinflusst. Ich denke, dass es wichtig ist – wie in allen anderen medizinischen Feldern, wo wir evidenzbasiert arbeiten wollen – eben auch diverse Teams zu bilden, die dann diverse Blickpunkte einnehmen. So kam ich eigentlich zur Gender Medicine. Ich habe verstanden, dass eine fehlende Chancengerechtigkeit in der Medizin, die auch ich gesehen und zum Teil gespürt habe, durchaus eine gerechte Medizin verhindert. Warum ich mich beworben habe? Es wurde aktiv gesucht und ich wurde angesprochen. Bei der UZH hat sich im Rahmen der vielfältigen Massnahmen zur Chancengerechtigkeit herauskristallisiert, dass wenn möglich durch Berufungskommissionen wirklich eine offene Suche betrieben wird und Frauen auch aktiv angesprochen werden. Davon können und sollen Frauen profitieren, indem sie ermutigt werden, sich zu bewerben.
Wie lange haben Sie überlegt, ob Sie die Position annehmen?
(lacht) Als ich ermutigt wurde, meine Bewerbung einzureichen, hatte ich nicht mehr allzu viel Zeit. Ich war parallel auf der Intensivstation im Dienst. Das musste dann schnell gehen. Und für mich war das eine riesengroße Chance – gerade auch, weil ich mir nochmals selbst die Frage stellte: Was möchte ich eigentlich wirklich gerne machen?
Wie waren die ersten Wochen?
Gut. Ich bin gerade dabei, mein Team zusammenzustellen, es gibt viele öffentliche Auftritte und besonders freue ich mich darüber, dass aus der Bevölkerung schon sehr viel positives Feedback gekommen ist. Das ist ja einer der grossen Erfolge, wenn die Menschen verstehen, dass es sich hier um ein wichtiges Thema handelt, und das auch entsprechend rückmelden.
Die Schweiz hat jetzt den ersten Lehrstuhl für Gender Medicine besetzt. Wo steht die Schweiz aus Ihrer Sicht in diesem Bereich – auch im Vergleich zu anderen Ländern in Europa?
Ich glaube, dass die Schweiz aktuell grosse Schritte gemacht hat – gerade auch politisch durch das nationale Forschungsprogramm und die Beantwortung des Fehlmann-Postulats. Der Bundesrat hat das Thema sehr gut aufgearbeitet und jetzt konkret andere Stakeholder mit der Beantwortung vieler offener Fragen beauftragt. Das halte ich für ganz wichtig. In diesem Zusammenhang muss man auch das Paket für die Forschungsförderung erwähnen, das auf den Weg gebracht worden ist. Es sind hier 140 Bewerbungen eingegangen, es werden aber insgesamt «nur» rund neuneinhalb Millionen Franken zur Verfügung gestellt. Das heißt, der Bedarf übersteigt die Mittel um ein Vielfaches. Man sieht also: Es ist durchaus Interesse an dem Thema da und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Ideen, wie man das Thema vorantreiben kann. Jetzt wird es darum gehen, nachzusehen, wo die grössten Lücken sind, die es zu füllen gilt. Wenn man sich historisch ansieht, wie viel Prozent von dem, was publiziert wird, relevant für Gender Medicine ist, dann ist die Schweiz ungefähr vergleichbar mit anderen europäischen Ländern. Die USA machen etwas mehr. Aber auch institutionelle Anstrengungen, wie eben der Lehrstuhl an der UZH, sind ein Weg, das Thema dauerhaft und nachhaltig zu verankern.
Wo orten Sie den allergrössten Nachholbedarf punkto Gender Medicine – sowohl medizinisch als auch politisch? Wo drückt der Schuh am stärksten?
Ich denke, dass es jetzt einfach wichtig ist, noch stärker auf das Thema aufmerksam zu machen. Manchmal kann man es sich ja gar nicht erklären, warum es für viele Leute noch so neu ist, dass man Geschlechterunterschiede betrachtet. Aber ich beobachte es nicht nur in der Wissenschaft und in der Klinik, sondern auch im privaten Umfeld, dass sich die Menschen noch gar keine Gedanken darüber gemacht haben. Es gibt also grossen Nachholbedarf – sowohl in der Klinik als auch in der Forschung wie auch in der Lehre. Ich denke, die nächste Generation wird diesbezüglich ein anderes Selbstverständnis haben. Natürlich ist auch in der Politik der Bedarf vorhanden, wie zuvor schon beschrieben. Ich fasse das immer gerne so zusammen: Wir müssen uns auf die Grundrechte und die Gesetze für Gleichstellung und Chancengerechtigkeit besinnen, die für uns ja eigentlich selbstverständlich sind. Bei einem so wichtigen Thema wie Gesundheit merken wir aber, dass wir das gesellschaftlich noch nicht so richtig durchdacht haben. Wir alle haben das Recht auf eine gleich gute Behandlung. Ich denke, dass wir uns fragen müssen: Wo haben wir aktuell den grössten Nachteil in der Behandlung, und wo müssen wir entsprechend forschen? Das sehe ich als eine der wesentlichen Aufgaben, die die Gender Medicine jetzt zu lösen hat – zusammen mit anderen Disziplinen wie der Ökonomie und auch der Soziologie.
Als Kardiologin bearbeiten Sie bereits eine dieser Lücken. Der Herzinfarkt wird in öffentlichen Diskussionen immer wieder als Beispiel dafür herangezogen, dass Symptome bei Frauen und Männern sehr unterschiedlich ausfallen können – und Diagnose wie auch Behandlung stark beeinflussen.
Die Kardiologie ist ein wichtiges Feld, weil wir durch diese Beispiele schon viel gelernt haben. In diesem Bereich haben wir eben schon genauer hingeschaut und es zeigt sich sehr schön, wie lange es von der Entdeckung von Unterschieden bis zur Umsetzung in den klinischen Leitlinien braucht, an die wir Ärztinnen und Ärzte uns letztlich halten müssen. Das dauert zum Teil Jahre oder gar Jahrzehnte.
Das heisst aber – ohne zu pessimistisch klingen zu wollen – es werden noch Jahre vergehen, bis Frauen generell eine medizinisch gleich gute Behandlung erhalten wie Männer.
Ja, das wird ein längerer Prozess sein. Denn wir wollen uns in der Medizin darauf berufen, dass wir qualitativ sehr hochwertige Studien anfertigen, um daraus auch sichere Leitlinien ableiten zu können. Und das braucht einfach Zeit. Das ist aber auch notwendig, damit sich die Patientinnen und Patienten auf das System verlassen können.
Was bedeutet diese Ungleichheit in der medizinischen Versorgung eigentlich wirtschaftlich? Was «leisten» wir uns hier als Gesellschaft, wenn die Hälfte der Bevölkerung nicht adäquat versorgt wird?
Es gibt zu diesem Thema einen Report vom World Economic Forum, der von McKinsey erstellt worden ist. Dort wurde versucht, mittels Hochrechnungen darzustellen, was es bedeuten würde, wenn man diesen Health Gap – also die Lücke in der Gesundheitsversorgung der Frauen – schliesst. Die Grundannahme war dabei, dass Frauen zwar länger leben, aber mehr Zeit ihres Lebens in schlechterer Gesundheit oder Krankheit verbringen und dadurch zum Beispiel aus dem Arbeitsleben herausfallen. Der Report kommt zu dem Schluss, dass die Gesellschaft weltweit jedes Jahr eine Billion Dollar sparen könnte beziehungsweise mehr zur Verfügung hätte, wenn wir dieses Thema besser adressieren würden, sodass Frauen länger in Gesundheit leben. Der Zeitrahmen wurde bis 2040 eingezogen. Also ja: Wir leisten uns viel. Es sollte auch ökonomisch das Bestreben sein, besser in diese Richtung zu forschen.
Gibt es auch ein konkretes Beispiel aus der Medizin?
Ja. Es gab in den USA zwischen 1997 und 2000 die Situation, dass tatsächlich acht zugelassene Medikamente vom Markt genommen werden mussten, weil Frauen im Zuge der Einnahme mit einem grösseren Gesundheitsrisiko konfrontiert waren. Die Arzneimittelnebenwirkungen waren viel stärker – so stark, dass die Medikamente eingezogen wurden. Das kostet natürlich die Pharmaindustrie und auch den Steuerzahler, der die Entwicklung ja mitträgt, viel Geld. Die Medien haben damals berichtet, dass es um ungefähr 1,6 Milliarden Dollar pro Medikament geht. Das sind schon enorme Dimensionen.
Der Fokus auf Frauen ist aktuell natürlich berechtigt, weil der Nachholbedarf so enorm ist. Dennoch ist Gender Medicine nicht gleich Frauenmedizin. Gibt es Beispiele, wo Männer genderbedingt nicht optimal versorgt werden?
Es gibt die Beispiele Depression und Osteoporose, die immer wieder als Frauenerkrankungen abgestempelt werden. Es ist auch richtig, dass diese Erkrankungen häufiger bei Frauen auftreten. Die Symptome bei Männern sind hier aber ganz anders und viele Patienten werden nicht richtig und gerecht behandelt. Das hat fatale Folgen: Bei der Depression haben Männer eine höhere Suizidrate. Es sterben, prozentuell gesehen, mehr Männer an Depression als Frauen. Der Grund liegt darin, dass wir sie häufig viel zu spät diagnostizieren, weil die Erkrankung eben auf Frauen normiert ist.
Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft. Wenn Sie in fünf Jahren zurückblicken, was sollte dann auf Ihrer Agenda abgehakt sein?
Ich denke, dass es wichtig ist, die Gender Medicine jetzt in der Lehre entsprechend umzusetzen. Da können wir mittlerweile auf einer guten Basis aufbauen, wie mit entsprechend adaptierten Lehrmaterialien. Gender Medicine muss in den Lehrplänen und auch Lernzielen, also Prüfungen, berücksichtigt werden, damit dieses Thema endlich breit im Medizinstudium verankert ist. Weiterhin hoffe ich, dass Geschlechteraspekte im klinischen Alltag eine viel grössere Berücksichtigung finden, und hierfür braucht es konsequente Forschungsbemühungen. (Das Interview führte Evelyn Holley-Spiess)
Prof. Dr. med. Carolin Lerchenmüller
Oberärztin, Universitäres Herzzentrum
Leiterin, Lehrstuhl Gendermedizin UZH
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