Körperliche Aktivität bei psychischen Erkrankungen
Autor:
Dr. med. Christian Imboden EMBA
Ärztlicher Direktor & Vorsitzender der Klinikleitung
Privatklinik Wyss AG
Münchenbuchsee
Vorstandsmitglied SGSPP
E-Mail: christian.imboden@pkwyss.ch
Menschen mit psychischen Erkrankungen sind häufiger körperlich inaktiv,1 was zu der erhöhten Morbidität und Mortalität dieser Population2 beiträgt.3 Regelmässige körperliche Aktivität reduziert das Risiko für die Entwicklung verschiedener psychischer Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen4, Angststörungen5 und Demenz6. Auch konnte mehrfach gezeigt werden, dass ein strukturiertes Training in der Behandlung von Depressionen (Tab. 1), Schizophrenie7 und diversen weiteren Erkrankungen eine positive Wirkung zeigt. Mittlerweile bestehen internationale Empfehlungen zum Einsatz von Trainings in der psychiatrischen Behandlung.8 Aufgrund dieses breiten Spektrums an positiven Effekten empfiehlt es sich, die Erhebung und Förderung körperlicher Aktivität stärker in den Fokus der psychiatrischen Behandlung zu bringen. Die Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie hat zu diesem Zweck ein Positionspapier veröffentlicht.9
Tab. 1: Metaanalysen Ausdauer- oder Kraftsport bei Depressionen (nur letzte 5 Jahre) (nach Imboden C et al).12Fett = signifikante Resultate (p > 0,05)
Ausgangslage
Während stationärer psychiatrischer Behandlungen haben die meisten Schweizer Kliniken Therapieelemente mit körperlicher Aktivität etabliert. Gemäss einer Umfrage in 55 Deutschschweizer Kliniken nahmen jedoch nur 25% der Patient*innen an diesen Programmen teil.10 Die Durchdringung der Bewegungsangebote kann also noch verbessert werden. Ausserhalb der Behandlungsinstitutionen sind solche Strukturen aktuell noch nicht verbreitet vorhanden. Ambulante Bewegungs- und Sportgruppen spezifisch für Menschen mit einer psychischen Erkrankung werden in einigen Regionen über die Organisation Behindertensport Schweiz (plusport.ch) angeboten. Die Angebote sind aber oft noch wenig bekannt und sollten weiter ausgebaut werden. Klare Richtlinien für die Erhebung und Verschreibung körperlicher Aktivität in der psychiatrischen Praxis fehlen heute noch weitgehend.
Empfehlungen
Die SGSPP empfiehlt, dass in der psychiatrischen Praxis das Bewegungsverhalten der Patient*innen systematisch evaluiert und gefördert wird. Einfache Fragebogen wie die Kurzversion des International Physical Activity Questionnaire (IPAQ-sf) eignen sich bereits, um einen groben Überblick über das Bewegungsverhalten zu erhalten. Das Bundesamt für Sport empfiehlt für erwachsene Menschen einen wöchentlichen Bewegungsumfang von 2,5h mittlerer oder 1,25h hoher Intensität oder eine beliebige Kombination davon (hepa.ch). Allerdings ist, ausgehend von Inaktivität, bereits bei geringeren Steigerungen des Bewegungsumfanges mit positiven Effekten zu rechnen. Motivationale und volitionale Techniken eignen sich nebst dem Einbezug des sozialen Umfeldes für das individuelle Bewegungscoaching in der psychiatrischen Praxis. Zudem empfiehlt sich ein interprofessionelles Vorgehen mit Einbezug von psychologischen Psychotherapeut*innen, Pflegefachkräften, Physio-, Bewegungs- und Sporttherapeut*innen. Mittelfristig ist es das Ziel der SGSPP, dass sich die Verschreibung evidenzbasierter Trainingsprogramme als Bestandteil der psychiatrischen Versorgung etabliert. Hierzu sollten auch konkrete Empfehlungen zu Umfang und Dauer solcher Programme erarbeitet werden. Obwohl manche Patient*innen in stationären oder tagesklinischen Institutionen ein strukturiertes Bewegungsprogramm absolvieren, ist der Transfer in den Alltag oftmals mit verschiedenen Hindernissen verbunden. Spezielle Coaching-Programme zur Steigerung der körperlichen Aktivität durch individuelle Zielsetzung und Unterstützung sollten speziell für Menschen mit psychischen Erkrankungen entwickelt und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Aktuell läuft in der Schweiz in vier psychiatrischen Kliniken eine solche Multicenterstudie ( pacinpat.com 11).
Gerade im ambulanten Bereich müssen Bewegungs- und Sportangebote auf- und ausgebaut werden und deren Finanzierung über die Krankenkassen muss gesichert werden. Aus diesem Grund sollte in weiteren Projekten ein Schwerpunkt auf die Kosteneffektivität solcher Programme gelegt werden. Auch empfiehlt es sich, die Möglichkeiten digitaler Trainingsprogramme besser zu nutzen und auf die Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen abzustimmen. Da über die spezifischen Hindernisse und Barrieren sowie die impliziten Einstellungen zu körperlicher Aktivität dieser Personengruppe noch wenig bekannt ist, sollten diese Themen klinisch in Kooperation mit den Sportwissenschaften besser erforscht werden. Um den Zugang zum klassischen Vereinssport zu erleichtern, könnte es sich empfehlen, ein Netzwerk von Turn- und weiteren Sportvereinen aufzubauen, welche «mental health friendly» sind, in denen also ein Verständnis für Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren besondere Situation vorhanden ist. Idealerweise haben solche Vereine die Möglichkeit, Menschen mit geringem Einkommen zu unterstützen und den Zugang finanziell leichter zu machen.
Neben diesen Bestrebungen im klinischen und wissenschaftlichen Bereich engagiert sich die SGSPP mit ihren Partnern dafür, Zusammenhänge zwischen körperlicher Aktivität und psychischer Gesundheit in der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung aktiv einzubringen. Zusätzlich ist es wichtig, auch Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, um die breite Bevölkerung für die Bedeutung eines aktiven Lebensstils für die psychische Gesundheit noch besser zu sensibilisieren.
Quelle:
SGPP-Jahreskongress, 25.–27. August 2021, virtuell
Literatur:
1 Vancampfort D et al.: Sedentary behavior and physical activity levels in people with schizophrenia, bipolar disorder and major depressive disorder: a global systematic review and meta-analysis. World Psychiatry 2017; 16: 308-15 2 Walker ER et al.: Mortality in mental disorders and global disease burden implications: A systematic review and meta-analysis. JAMA psychiatry 2015; 72: 334-41 3 Gerber M et al.: Cardiovascular disease and excess mortality among people with depression: Meta-analytic evidence and the potential role of physical activity as a game changer. Dtsch Z Sportmed 2021; 72 (Accepted) 4 Schuch FB et al.: Physical activity and incident depression: a meta-analysis of prospective cohort studies. Am J Psychiatry 2018; appiajp201817111194 5 Schuch FB et al.: Physical activity protects from incident anxiety: A meta-analysis of prospective cohort studies. Depress Anxiety 2019; 36: 846-58 6 Buchman AS et al.: Total daily physical activity and the risk of AD and cognitive decline in older adults. Neurology 2012; 78: 1323-9 7 Firth J et al.: Aerobic exercise improves cognitive functioning in people with schizophrenia: a systematic review and meta-analysis. Schizophrenia bulletin 2017; 43: 546-56 8 Stubbs B et al.: EPA guidance on physical activity as a treatment for severe mental illness: a meta-review of the evidence and position statement from the European Psychiatric Association (EPA), supported by the International Organization of Physical Therapists in Mental Health (IOPTMH). Eur Psychiatry 2018; 54: 124-44 9 Imboden C et al.: Positionspapier – Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit. Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother 2021; 172(03) 10 Brand S et al.: The current state of physical activity and exercise programs in German-speaking, Swiss psychiatric hospitals: Results from a brief online survey. Neuropsychiatr Dis Treat 2016; 12: 1309–17 11 Gerber M et al.: The impact of lifestyle Physical Activity Counselling in IN-PATients with major depressive disorders on physical activity, cardiorespiratory fitness, depression, and cardiovascular health risk markers: study protocol for a randomized controlled trial. Trials 2019; 20: 367 12 Imboden C et al.: Physical activity for the treatment and prevention of depression: A rapid review of meta-analyses. Dtsch Z Sportmed 2021; 72 (accepted) 13 Schuch FB et al.: Exercise as a treatment for depression: A meta-analysis adjusting for publication bias. J Psychiatr Res 2016; 77: 42-51 14 Kvam S et al.: Exercise as a treatment for depression: A meta-analysis. J Affect Disord 2016; 202: 67-86 15 Nebiker L et al.: Moderating effects of exercise duration and intensity in neuromuscular vs. endurance exercise interventions for the treatment of depression: a meta-analytical review. Front Psychiatry 2018; 9: 305 16 Morres ID et al.: Aerobic exercise for adult patients with major depressive disorder in mental health services: A systematic review and meta-analysis. Depress Anxiety 2019; 36: 39-53 17 Carneiro L et al.: The effects of exclusively resistance training-based supervised programs in people with depression: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Int J Environ Res Public Health 2020; 17(18): 6715
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