Offene Türen auch zu Hause
Autor:innen:
Dr. med. Jörg Eysell
Christine Althaus Aebersold
Constantin Bruttel
Oliver Kofler
Dr. phil. Mariella Jaffé
Prof. Dr. med. Christian Huber
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Korrespondierender Autor:
Prof. Dr. med. Christian Huber
E-Mail: Christian.Huber@upk.ch
Die aufsuchende psychiatrische Behandlung im Kanton Basel-Stadt setzt die «Open Door Policy» der UPK Basel erfolgreich zu Hause fort.1,2 Zwei Behandlungsangebote ermöglichen eine optimale und leitliniengerechte, sektorenübergreifende Behandlung und tragen zur Entstigmatisierung der psychiatrischen Therapie bei.
Zahlreiche internationale Studien,3,4 die S3-Leitlinien der DGPPN,5 eidgenössische Untersuchungen6 und das Recovery-Konzept7 sprechen dafür, aufsuchende Behandlungsangebote aufzubauen und Unterstützung im häuslichen Umfeld anzubieten. Im Kanton Basel-Stadt gab es diesbezüglich eine Versorgungslücke, die unser Projekt schliessen will. Es umfasst die Übergangsbehandlung ACTTIV («assertive community treatment – transitional intervention») und die längerfristige Behandlung Re-ACT («recovery-oriented assertive community treatment»). Beide aufsuchenden Angebote starteten in einer dreijährigen Pilotphase im Januar 2019. Die ersten Patient:innen konnten im April 2019 ihre Behandlung aufnehmen. Nach der ersten Pilotphase bis Ende 2021 wurden die Angebote um weitere drei Jahre bis Dezember 2024 verlängert. Das interprofessionelle Behandlungsteam wurde entsprechend den Anforderungen Schritt für Schritt aufgebaut. Bei der Versorgung von durchschnittlich 150 Patient:innen im Monat umfasst das aktuelle Behandlungsteam in Stellenprozent 685% Pflege (9 Mitarbeiter:innen [MA]), 140% Sozialdienst (zwei MA), 130% Ärzteschaft (zwei MA) und 80% Administration (eine MA). Nach einer weiteren Projektverlängerung um ein Jahr streben die UPK Basel ab 2026 eine Übernahme in die Regelversorgung an.
ACTTIV und Re-ACT
Stationäre Patient:innen aller Zentren der Klinik für Erwachsene der UPK Basel können im Rahmen dieses Pilotprojekts störungsspezifische Therapien und sozialdienstliche Hilfen zu Hause in Anspruch nehmen. Alle Patient:innen ab 18 Jahren können von diesem Angebot profitieren. Da die Patient:innen in ihrem häuslichen Umfeld aufgesucht werden und die Finanzierung durch den Kanton Basel-Stadt erfolgt, stellen Obdachlosigkeit und ein extrakantonaler Wohnort gegenwärtig noch Ausschlusskriterien dar.
Die Behandlungsangebote des Home Treatment werden den Patient:innen bereits während des stationären Austrittsmanagements vorgestellt. Die auf 90 Tage befristete Übergangsbehandlung ACTTIV wird hierbei während des ersten bis dritten Aufenthalts angeboten. Die unbefristete, längerfristige Behandlung Re-ACT ist für Menschen mit chronischen psychischen Problemen gedacht, die besonders häufig oder lange stationär behandelt wurden, und wird daher ab dem vierten Aufenthalt innerhalb der letzten 2,5 Jahre oder nach zusammengenommen mehr als 180 Tagen Klinikaufenthalt in diesem Zeitraum angeboten. Die Teilnahme an den aufsuchenden Behandlungsangeboten ist freiwillig. Wenn sich Patient:innen dafür entscheiden, können sie in allen Phasen der poststationären Behandlung zu Hause therapiert werden, wobei das Behandlungskonzept auf ihre individuelle Situation zugeschnitten wird (Tab. 1).
Tab. 1: Teilnehmende an den Angeboten ACTTIV und Re-ACT der aufsuchenden Behandlung
Interprofessionelles Behandlungsteam
Durch den Triagierungsprozess und das noch im stationären Setting stattfindende erste Indikationsgespräch wird der Übergang vom Klinikaufenthalt in das häusliche Umfeld massgeblich erleichtert. Das Erstgespräch wird dabei überwiegend von der im Verlauf fallführenden Fachperson durchgeführt. Verschiedene Forschungsarbeiten belegen, dass interprofessionelle aufsuchende Behandlungsteams in der Bewältigung schwerer psychischer Erkrankungen effektiv unterstützen können. Dabei liegen die pflegerischen Schwerpunkte allgemein auf der Stärkung von Selbsthilfe und spezifischer auf der Früherkennung drohender Rückfälle und der Fortsetzung bzw. Weiterentwicklung individueller Copingstrategien im häuslichen Umfeld. Die Schwerpunkte werden dabei stets nach dem gemeinsam festgestellten Bedarf ausgerichtet. Zusätzlich kann die Begleitung dazu beitragen, Konflikte in der Familie und dem weiteren Umfeld abzumildern. Dabei können ein gemeinsames Verständnis für die individuelle Bedeutung der Erkrankung entwickelt und soziale Kontakte stabilisiert und erweitert werden.
Die Vorbereitung und Weiterführung rehabilitativer Massnahmen mit Anbindung an das kantonale (z.B. Spitex Basel, Abteilung Sucht Kanton Basel-Stadt) und freie Versorgungsangebot (z.B. Stiftung Rheinleben, Stiftung Blaues Kreuz/MUSUB beider Basel, Zentrum Selbsthilfe) werden gemeinsam vorangebracht. Eine niederschwellige Begleitung dorthin ist bei Bedarf möglich. Die Schwerpunkte der sozialdienstlichen Hilfe bestehen aus der Sicherstellung der Finanzen (z.B. administrative Unterstützung im Umgang mit Sozialhilfe und IV), der Sicherstellung des Aufenthaltsorts (z.B. Abwendung drohender Wohnungskündigungen) und dem Sicherstellen von Arbeitsverhältnissen bzw. dem Aufgleisen von Tätigkeiten in geschützten Einrichtungen auf dem zweiten und dritten Arbeitsmarkt. Damit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine soziale Integration gelingen kann.
Im ärztlichen Dienst liegen die Schwerpunkte auf der Förderung von Partizipation, Krankheitseinsicht und Adhärenz. Bei Bedarf erfolgt eine intensivierte Aufklärung mit Nachbearbeitung der Zuweisungsumstände. Ergänzend können die stationär aufgegleisten Behandlungskonzepte und das zugrunde liegende Krankheitsverständnis zu Hause weiter und nachhaltig besprochen werden. Der Wechsel von der Klinik in das häusliche Umfeld kann in enger Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzt:innen stabilisiert werden. Fehlen ambulant Behandelnde, so können weitere psychiatrische Therapie, Rückfallprävention und Reevaluation der im stationären Setting begonnenen Therapie (inklusive Medikation) angeboten werden, bis zum ersten ambulanten Termin in einer Praxis.
Hervorzuheben ist, dass die schnelle interprofessionelle Zusammenarbeit innerhalb des aufsuchenden Behandlungsteams eine bedarfsgerechte Versorgung sicherstellt. Der unmittelbare Fach- und Erfahrungswissensaustausch findet innerhalb des Home-Treatment-Teams, aber auch mit den zuweisenden Abteilungen der UPK Basel statt. Somit ist das zielgerichtete Einholen der nötigen Fachexpertise im Verlauf möglich. Zusätzlich ist es ein grosser Vorteil, dass nach einer therapeutischen Verlagerung und Zielerreichung die frühere Behandlungslinie schnittstellenlos fortgesetzt werden kann. Durch diese multiprofessionelle Daten- und Behandlungskontinuität wird darüber hinaus der zeitliche Aufwand reduziert, aber auch die wiederholte Erzählung der Krankheitsgeschichte vermieden. Auf Wunsch der Behandelten kann die Home-Treatment-Arbeit mit Einbezug der Angehörigen, Bezugs-, Fach- und Amtspersonen sowie Arbeitgebern im Mehrpersonensetting erfolgen. Die Selbstfürsorge und der mögliche Verbleib zu Hause durch Stärkung der psychosozialen Funktionen werden leitliniengerecht durch das Home Treatment unterstützt.
Erfreuliche Ergebnisse
Beide aufsuchende Behandlungsangebote erreichen praktisch überall die Zielwerte, die mit dem Gesundheitsdepartement Basel-Stadt zusammen angestrebt wurden.8,9 Die Behandlung zu Hause ermöglicht eine Reduktion von häufig traumatisierenden, notfallmässigen Zuweisungen bei Selbst- und Fremdgefährdung (inkl. FU-Zuweisungen) sowie eine Reduktion von Aggressionsereignissen und Zwangsmassnahmen während stationärer Aufenthalte. Der deutliche Rückgang von fürsorgerischen Unterbringungen entspricht dem Anspruch an eine passgenaue, individualisierte und integrierte Versorgung. Damit kann man die Home-Treatment-Angebote als Fortsetzung des Open-Doors-Konzepts in dem ambulanten Rahmen verstehen, die eine weitere Reduktion von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie ermöglicht.
Die zuweisenden Abteilungen der UPK sowie die mit- oder nachbehandelnden Fachpersonen und Institutionen haben festgestellt, dass die Patient:innen das neue aufsuchende Angebot zuversichtlich annehmen. Auch die Angehörigen begrüssen das Behandlungsangebot. Die Anzahl der Tage mit stationärer Behandlung konnte bei beiden Angeboten gesenkt werden, bei der Re-ACT besonders deutlich.
Bemerkenswert ist, dass die beiden Home-Treatment-Angebote diese guten Ergebnisse erreichen konnten, obwohl im Kanton Basel-Stadt bereits überdurchschnittlich viele gesamtmedizinische und therapeutische Angebote bestehen und in Anspruch genommen werden.10 Dies weist in unseren Augen darauf hin, dass für die von uns versorgte Patient:innengruppe dennoch eine Versorgungslücke bestanden hat, und unterstreicht die Bedeutung der Home-Treatment-Angebote für die psychiatrische Versorgungslandschaft des Kantons. Dass dies der gemeinsamen Wahrnehmung und der Fachexpertise im Gesundheitsraum Basel-Stadt entspricht, zeigen die Empfehlungen der Psychiatriekommission beider Basel. Die Übergangsbehandlung ACTTIV und die längerfristige Behandlung Re-ACT sind im Kanton Basel-Stadt etabliert, haben sich bewährt und sind geschätzter und relevanter Bestandteil einer modernen psychiatrischen Versorgung. Sie schliessen in der Behandlungspalette der UPK Basel eine wesentliche Lücke und bieten eine passgenaue und individualisierte Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, welche ansonsten nicht erreichbar wären.
Danksagung
Die Autor:innen möchten sich bedanken beim Evaluationsteam (Lukas Imfeld, Dr. phil. Julian Möller, Dr. phil. Franziska Rabenschlag), der Leitung der Klinik für Erwachsene (Prof. Dr. med. Undine Lang, Klinikdirektorin; Andreas Schmidt, Klinikleitung Pflege), dem Direktor Pflege, MTD und Soziale Arbeit (Dr. rer. medic. André Nienaber), der ursprünglichen Projektinitiatorin Frau Regula Lüthi (damalige Direktorin Pflege, MTD und Soziale Arbeit der UPK Basel) und dem Gesundheitsdepartement Basel-Stadt, das die Pilotprojekte von 2019 bis 2021 finanziert hat und von 2022 bis 2024 erneut finanziert.
Literatur:
1 https://grosserrat.bs.ch/dokumente/100396/000000 396760.pdf 2 Liwinski T et al.: A milestone in patient-centered care. Lancet Psychiatry 2024; 11(5): 312-3 3 Stulz N et al.: Home treatment for acute mental healthcare: randomised controlled trial. Br J Psychiatry 2020; 216(6): 323-30 4 Bechdolf A et al.: Evidenz zu aufsuchender Behandlung bei Menschen mit psychischen Störungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz – eine systematische Übersichtsarbeit. Nervenarzt 2022; 93(5): 488-98 5 DGPPN: S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Berlin/Heidelberg: Springer 2019 6 GDK: Impulse für die integrierte Versorgung in den Kantonen 7 Watkins PN: Recovery – wieder genesen können. Ein Handbuch für Psychiatrie-Praktiker. Huber, 2009 8 Jaffé M et al.: Implementation of a recovery-oriented assertive community treatment (Re-ACT) program for people with heavy use of psychiatric treatment in Switzerland: results from a three-year pilot study. 2024 (under review) 9 Jaffé M et al.: Implementation of an assertive community treatment - transitional intervention (ACTTIV) psychiatric treatment program in Switzerland: results from a three-year pilot study. 2024 (under review) 10 Tuch A et al.: Angebotsstrukturen in der psychiatrischen Versorgung: Regionale Unterschiede im Versorgungsmix (Obsan Bulletin 03/2024). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, 2024
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