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Universimed 2020
Multiple Sklerose – Diagnose, Prognose und Therapie
DAM
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Fritz Leutmezer
Universitätsklinik für Neurologie<br> Medizinische Universität Wien<br> E-Mail: fritz.leutmezer@meduniwien.ac.at
30
Min. Lesezeit
14.07.2016
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<p class="article-intro">Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems und zählt zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen im jungen Erwachsenenalter. Ihre Ursachen sind bis heute noch nicht zur Gänze geklärt. Derzeitige Therapien haben die Behandlung bzw. Verhinderung von Schüben bzw. die Linderung von Dauerbeschwerden zum Ziel.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Mit rund 12.500 Betroffenen in Österreich und bis zu 2,5 Mio. weltweit gehört MS zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen junger Erwachsener. Die Krankheit manifestiert sich meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr zum ersten Mal, jedoch kann sie in selteneren Fällen auch schon im Kindesalter oder im Alter über 60 Jahre beginnen. Weitere Charakteristika sind die Tatsache, dass die Krankheit bei Frauen dreimal so häufig auftritt wie bei Männern, sowie ihr mit zunehmendem Abstand zum Äquator auffällig häufigeres Auftreten.</p> <h2>Krankheitsursachen</h2> <p>Die Ursachen der MS sind bis dato nicht hinreichend erforscht. Man geht aber davon aus, dass eine genetische Prädisposition existiert. So beträgt die Prävalenz der MS in der Allgemeinbevölkerung nur 0,1 % , ist bei eineiigen Zwillingen jedoch ein Geschwisterteil erkrankt, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass auch der zweite an MS erkranken wird, etwa 30 % . Auch das Risiko von Kindern, deren Eltern an MS erkrankt sind, ist mit bis zu 4 % deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. Neben der genetischen Prädisposition dürften bis dato unbekannte Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Verdächtigt werden hier unter anderem Viren und bestimmte Ernährungsfaktoren, aber auch Hygienemaßnahmen und Rauchen könnten eine Rolle spielen.</p> <h2>Krankheitsbilder der MS</h2> <p>Bei etwa 85 % aller Patienten beginnt die Erkrankung schubförmig, d.h., kurze Phasen neurologischer Symptome werden abgelöst von Monate bis Jahre dauernden Phasen, in welchen die Patienten klinisch asymptomatisch sind. Nach durchschnittlich 15 Jahren ändert die Erkrankung bei der Mehrzahl der Patienten ihr Gesicht: Schübe werden immer seltener, stattdessen kommt es in dieser sekundär chronisch progredienten Krankheitsphase zu einer langsamen, dafür aber stetigen Verschlechterung. 15 % aller Patienten zeigen einen primär chronisch progredienten Verlauf, d.h., die Erkrankung beginnt schleichend ohne Schübe (auch wenn solche im weiteren Verlauf vereinzelt auftreten können). Je nach Lokalisation der Entzündungsherde im Gehirn kann die Symptomatik mannigfaltig sein. Zu den am Beginn der Erkrankung häufigsten Symptomen zählen Sehstörungen, Sensibilitätsstörungen und Lähmungen, während in späteren Krankheitsstadien auch Schwindel, Gangunsicherheit und Blasenfunktionsstörungen hinzukommen können. Aber auch für Außenstehende oft nicht erkennbare Beschwerden wie chronische Müdigkeit, Gedächtnisprobleme und Schmerzen können für Patienten sehr beeinträchtigend sein.</p> <h2>Pathophysiologische Grundlagen</h2> <p>Unsere Kenntnisse über die pathophysiologischen Grundlagen der schubförmigen MS stammen hauptsächlich aus einem Tiermodell, der sog. experimentellen Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE). Dabei überqueren aktivierte T-Lymphozyten, die sich gegen ein bis dato unbekanntes ZNS-Antigen richten, die normalerweise dichte Blut-Hirn-Schranke und attackieren in weiterer Folge zunächst die Myelinschicht der Nervenfasern, bevor es im weiteren Verlauf durch sekundäre Immunphänomene auch zu einem Untergang von Axonen kommt. Gleichzeitig mit der Entzündung setzen auch endogene antiinflammatorische Prozesse ein, welche die Entzündungsreaktion beenden und Reparaturmechanismen initiieren, die zu einer (wenn auch nicht perfekten) Regeneration der Nervenhülle führen. Im Gegensatz dazu sind die Mechanismen der chronisch progredienten MS weniger gut verstanden, nicht zuletzt deshalb, weil keine mit der EAE vergleichbaren Tiermodelle für diesen Krankheitsverlauf existieren. Man geht aber davon aus, dass sich die Entzündungsvorgänge bei chronischen Verlaufsformen hinter einer geschlossenen Blut-Hirn-Schranke abspielen und zusätzlich andere Mechanismen wie oxidativer Stress eine wichtige Rolle spielen. Dies würde auch erklären, warum die derzeit gängigen Therapiestrategien, die allesamt auf das periphere Immunsystem abzielen, bei chronisch progredienter MS enttäuschend wenig Wirkung zeigen.</p> <h2>Diagnose und Therapie</h2> <p>Die Diagnose der MS erfolgt heute gemäß den McDonald-Kriterien. Diese fordern den Nachweis sowohl einer zeitlichen als auch einer räumlichen Krankheitsprogression. Diese kann durch mindestens zwei zeitlich voneinander abgesetzte Schübe, die unterschiedliche Funktionen des Nervensystems betreffen, nachgewiesen werden, wobei die Ausfälle im Rahmen einer neurologischen Untersuchung auch objektiviert werden müssen. Alternativ kann eine zeitliche und räumliche Dissemination aber auch nach nur einem Krankheitsschub nachgewiesen werden, und zwar dann, wenn in einem späteren MRT neue Herde an einer anderen Stelle dokumentiert sind. Da auch andere Erkrankungen und auch Alterungsprozesse solche T2-hyperintense Läsionen verursachen können, wurden für MS spezifische MRT-Veränderungen definiert, wobei einerseits die Verteilung (periventrikulär, juxtakortikal, infratentoriell und spinal), andererseits die Kontrastmittelaufnahme als für MS charakteristisch gelten.<br /> <br /> Im Extremfall kann eine schubförmige MS bereits beim ersten MRT im Rahmen des ersten Krankheitsschubes nachgewiesen werden, nämlich dann, wenn zusätzlich zu typischen T2-hyperintensen Läsionen auch zumindest eine kontrastmittelanreichernde Läsion nachweisbar ist, die aufgrund ihrer Lokalisation nicht für die aktuelle klinische Symptomatik verantwortlich sein kann. Fehlt der Nachweis der zeitlichen und räumlichen Dissemination, so steht die Diagnose einer schubförmigen MS (noch) nicht zweifelsfrei fest, in diesem Fall wird von einem klinisch isolierten Syndrom (CIS) gesprochen. Findet man dagegen im Rahmen einer aus anderen Gründen durchgeführten MRT-Untersuchung des Gehirns Läsionen, welche die radiologischen Kriterien der MS erfüllen, so hat sich dafür der Begriff radiologisch isoliertes Syndrom (RIS) etabliert.<br /> <br /> Die Untersuchung des Liquors hat in dieser – aus dem angloamerikanischen Raum stammenden – Klassifikation nur mehr einen Stellenwert in der Diagnose der primär progredienten MS, wofür neben einer zumindest über ein Jahr anhaltenden schleichenden Verschlechterung der neurologischen Funktion entsprechende Läsionen in der MRT und/oder positive oligoklonale Banden im Liquor vorhanden sein müssen. Trotzdem sollte auch bei schubförmiger MS, vor allem in frühen Stadien, aufgrund der mangelnden absoluten Spezifität dieser Kriterien an der Untersuchung des Liquors festgehalten werden, um falsch positive Diagnosen und eine damit verbundene unnötige Therapie möglichst zu vermeiden.<br /> <br /> Elektrophysiologische Parameter, wie die Bestimmung der visuell evozierten Potenziale (VEP), spielen dagegen nur mehr eine untergeordnete Rolle, können aber eine unter Umständen subklinisch abgelaufene Entzündung nachweisen. Die Therapie der MS unterscheidet zwischen einer Behandlung des akuten Schubes (Schubtherapie), einer Therapie, welche neue Schübe möglichst verhindern soll (immunmodulatorische Therapie oder Intervalltherapie), sowie einer Therapie der Beschwerden, die durch einen irreparablen Schaden an Nervenzellen hervorgerufen wurden (symptomatische Therapien).<br /> <br /> <strong>Schubtherapie</strong><br /> Wenn neurologische Beschwerden länger als 24 Stunden andauern und einem zentralnervösen Verteilungsmuster entsprechen, spricht man von einem Schub. In diesem Fall wird, nach Ausschluss eines Pseudoschubes (verursacht z.B. durch einen floriden Infekt, Hitze o.Ä.), eine Methylprednisolontherapie (1g täglich über 5 Tage) eingeleitet. Bei völligem Fehlen einer klinischen Besserung kann diese Therapie mit 2g täglich über 5 Tage wiederholt werden und im Fall des weiteren Ausbleibens einer Besserung nach weiteren 2 Wochen eine Plasmapherese oder Immunadsorption gestartet werden.<br /> <br /><strong> Intervalltherapie</strong><br /> Hierbei unterscheidet man zwischen Therapien für den milden bis moderaten und solche für den hochaktiven Verlauf der MS. Für Erstere sind die Interferon-beta-Präparate (Betaferon©, Rebif© und Avonex© bzw. Plegridy©), Glatirameracetat (Copaxone©) und Dimethylfumarat (Tecfidera©) zugelassen, außerdem auch Teriflunomid (Aubagio©) bei Nichtverträglichkeit oder ungenügender Wirkung dieser Präparate. Für den hochaktiven Verlauf stehen Natalizumab (Tysabri©) und Fingolimod (Gilenya©) sowie Alemtuzumab (Lemtrada©) zur Verfügung (Tab. 1). Diese Substanzen zeichnen sich durch eine höhere Wirksamkeit aus, diese wird allerdings um den Preis seltener, jedoch potenziell bedrohlicher Nebenwirkungen erkauft. Zusätzlich stehen für die Intervalltherapie nach einem CIS die Interferon-beta-Präparate (Betaferon©, Rebif© und Avonex©) sowie Glatiramer­acetat (Copaxone©) zur Verfügung.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1606_Weblinks_Seite19.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Symptomatische Therapie</h2> <p>Zur Linderung bestehender Beschwerden stehen sowohl nicht medikamentöse Therapien, wie Physio- und Ergotherapie, Hippotherapie oder Magnetfeldtherapie, als auch medikamentöse Therapien zur Verfügung. Zu Letzteren gehören unter anderem Tizanidin (Sirdalud©), Baclofen (Lioresal©) oder synthetisch hergestelltes Tetrahydrocannabinol (THC) zur Behandlung der Spastik, Anticholinergika zur Behandlung neurogener Blasenfunktionsstörungen oder 4-Aminopyridin zur Verbesserung der Gehgeschwindigkeit, aber auch Antidepressiva oder Antiepileptika zur Behandlung (neuropathischer) Schmerzen.</p></p>
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