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Vorteile und Risiken

Endovaskuläre Behandlung bei mildem Hirnschlag und grossem Gefässverschluss

Die Behandlung von Patient:innen mit mildem Hirnschlag, aber grossem Gefässverschluss ist eine klinische Herausforderung. Aktuelle Leitlinien und neueste Studien bieten eine differenzierte Perspektive zur Angemessenheit der endovaskulären Therapie in diesen Fällen.

Keypoints

  • Die Wirksamkeit der endovaskulären Therapie bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag, aber grossem Gefässverschluss ist ungewiss.

  • Eine intravenöse Thrombolyse wird bei invalidisierenden neurologischen Defiziten, unabhängig vom Vorhandensein eines grossen Gefässverschlusses, empfohlen.

  • Neueste Studien deuten darauf hin, dass die endovaskuläre Therapie die Prognose bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag im Allgemeinen möglicherweise nicht verbessert und dass die Risiken überwiegen könnten. Eine selektionierte Patient:innengruppe könnte jedoch von einer endovaskulären Therapie profitieren.

Einleitung

Die endovaskuläre Therapie hat sich bei der Behandlung von Patient:innen mit moderatem oder schwerem Hirnschlag und grossem Gefässverschluss als vorteilhaft erwiesen. Die Rolle der endovaskulären Therapie bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag bleibt jedoch umstritten. Dieser Artikel bietet einen Überblick über aktuelle Leitlinien, Studienergebnisse und laufende Forschung, um die potenziellen Vorteile und Risiken der endovaskulären Therapie bei dieser Patient:innengruppe zu beleuchten. Es ist bemerkenswert, dass bis zu zwei Drittel der Hirnschlagpatient:innen leichte Symptome aufweisen, wobei etwa 10% von ihnen an einem grossen Gefässverschluss leiden. Darüber hinaus zeigen Forschungsergebnisse, dass Patient:innen mit milden Defiziten und grossem Gefässverschluss häufig invalidisierende neurologische Defizite wie Bewusstseinsstörungen, Aphasie und motorische Defizite aufweisen.

Überblick über aktuelle Leitlinien

Bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag und invalidisierenden neurologischen Defiziten empfehlen sowohl die Leitlinien der Europäischen Hirnschlaggesellschaft als auch diejenigen der Amerikanischen Herz- und Hirnschlaggesellschaft nachdrücklich eine intravenöse Thrombolyse, unabhängig davon, ob ein grosser Gefässverschluss vorliegt oder nicht.

Bei Patient:innen mit nicht invalidisierenden neurologischen Defiziten gibt es jedoch eine Kontroverse. Während sowohl die Leitlinien der Europäischen Hirnschlaggesellschaft als auch diejenigen der Amerikanischen Herz- und Hirnschlaggesellschaft insgesamt von einer intravenösen Thrombolyse bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag abraten, empfehlen die Leitlinien der Europäischen Hirnschlaggesellschaft, sie bei Patient:innen mit grossem Gefässverschluss trotz mildem Hirnschlag und nicht invalidisierenden neurologischen Defiziten in Betracht zu ziehen. Eine Mehrheit der Expert:innen, die an den Leitlinien der Europäischen Hirnschlaggesellschaft mitgearbeitet hatten, sprach sich in der Konsenserklärung für die intravenöse Thrombolyse zur Behandlung dieser Patient:innen aus. Insgesamt gibt es immer mehr Belege für die Wirksamkeit der intravenösen Thrombolyse bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag und grossem Gefässverschluss, unabhängig von neurologischen Defiziten.

Betrachten wir nun die Leitlinien hinsichtlich der endovaskulären Therapie. Laut der Amerikanischen Herz- und Hirnschlaggesellschaft ist der Nutzen einer endovaskulären Therapie bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag ungewiss, doch kann sie bei grossem Gefässverschluss innerhalb von sechs Stunden nach Symptombeginn sinnvoll sein. Ausserdem empfiehlt die Amerikanische Herz- und Hirnschlaggesellschaft, solche Patient:innen in randomisierte, kontrollierte Studien einzuschliessen. Auch die Leitlinien der Europäischen Hirnschlaggesellschaft plädieren für den Einschluss dieser Patient:innen in randomisierte, kontrollierte Studien. Betreffend Patient:innen, die für randomisierte kontrollierte Studien nicht infrage kommen, merken die Leitlinien der Europäischen Hirnschlaggesellschaft an, dass eine endovaskuläre Therapie für diese sinnvoll sein könnte, insbesondere für Patient:innen mit invalidisierenden neurologischen Defiziten oder bei sekundärer neurologischer Verschlechterung (Tab. 1).

Tab. 1: Übersicht über die aktuellen Leitlinien

Evidenz aus jüngsten Studien

Werfen wir nun einen genaueren Blick auf die derzeit verfügbaren Daten. Wie die HERMES-Metaanalyse von Goyal et al. 2016 gezeigt hat, fehlt es an Belegen für die Wirksamkeit und Sicherheit der endovaskulären Therapie bei Patient:innen mit grossem Gefässverschluss und mildem Hirnschlag. Diese Patient:innen mit mildem Hirnschlag wurden von den grossen randomisierten, kontrollierten Studien zur endovaskulären Therapie weitgehend ausgeschlossen. Nur MR CLEAN schloss Patient:innen mit mildem Hirnschlag ein, aber die Zahl dieser Patient:innen war in MR CLEAN begrenzt. Die HERMES-Metaanalyse zeigte, dass bei Patient:innen mit einer NIHSS-Punktzahl von bis zu 10, also mit nicht nur mildem, sondern auch moderatem Hirnschlag, das Konfidenzintervall bezüglich eines Behandlungseffekts der endovaskulären Therapie, gemessen am mRS nach 3 Monaten, 1 überschritt. Obwohl nur 177 Patienten in dieser Untergruppenanalyse zu der Gruppe mit einer NIHSS-Punktzahl von bis zu 10 gehörten, deutet dieses Ergebnis darauf hin, dass der Behandlungseffekt bei leicht betroffenen Patient:innen geringer ist.

Abb. 1: Patient mit mildem Hirnschlag. Vorstellung mit leichten Wortfindungsstörungen und Mundastschwäche rechts. In der Kernspintomografie M2-Verschluss der A. cerebri media links mit deutlichem Diffusions-Perfusions-Mismatch und beginnender FLAIR-Demarkation. Es erfolgte eine komplikationslose endovaskuläre Therapie. Der Patient war bei Austritt symptomfrei

Die HERMES-Metaanalyse zeigt auch, dass die Wahrscheinlichkeit für ein günstiges Ergebnis steigt, wenn die NIHSS-Punktzahl sinkt, und zwar nicht nur in der Gruppe mit endovaskulärer Therapie, sondern auch in der Gruppe mit der besten medizinischen Therapie. Diese Korrelation ist logisch, da eine niedrigere NIHSS-Punktzahl eine geringere anfängliche Belastung durch neurologische Defizite widerspiegelt.

Kürzliche Metaanalyse

Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse von Safouris A et al. 2023 untersuchte die Wirksamkeit und Sicherheit der endovaskulären Therapie im Vergleich zur besten medizinischen Therapie bei Patient:innen mit einer NIHSS-Punktzahl zwischen 0 und 5 und einem grossen Gefässverschluss im vorderen Kreislauf. Diese Analyse umfasste Studien, die bis Dezember 2022 veröffentlicht wurden. In der Analyse von 11 Studien mit insgesamt 2019 Patient:innen, die mit endovaskulärer Therapie, und 3171 Patient:innen, die mit der besten medizinischen Therapie behandelt wurden, wurde keine Überlegenheit der endovaskulären Therapie gegenüber der besten medizinischen Therapie in Bezug auf das Erreichen eines hervorragenden funktionellen Ergebnisses nach drei Monaten festgestellt. Darüber hinaus zeigte die endovaskuläre Therapie im Vergleich zur besten medizinischen Therapie keine Verbesserung des funktionellen Ergebnisses und keine Verringerung der Behinderung. Es ist jedoch erwähnenswert, dass die endovaskuläre Therapie mit einem erhöhten Risiko für eine symptomatische intrakranielle Blutung im Vergleich zur besten medizinischen Therapie verbunden war. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die endovaskuläre Therapie in dieser Metaanalyse bei Patient:innen mit leichtem akutem ischämischem Hirnschlag und grossem Gefässverschluss keine Überlegenheit gegenüber der besten medizinischen Therapie zeigte und auch nicht mit einem erhöhten Risiko für symptomatische intrakranielle Blutungen verbunden war.

Herausforderungen und Überlegungen

Patient:innen mit mildem Hirnschlag können dennoch von einer endovaskulären Therapie profitieren, indem potenziell schwerwiegende Folgen verhindert werden und die Genesung unterstützt wird. Obwohl die endovaskuläre Therapie Risiken, wie Blutungen, Gefässwandeinrisse, Vasospasmen und andere Komplikationen birgt, können diese in der Regel unter der Betreuung erfahrener Interventionalist:innen gut kontrolliert und minimiert werden.

Es ist erwähnenswert, dass nur ein geringer Prozentsatz von Patient:innen mit mildem Hirnschlag, weniger als zwei bis drei Prozent, eine sekundäre neurologische Verschlechterung erfährt, insbesondere bei grossem Gefässverschluss. Eine Erhöhung um 4 NIHSS-Punkte stellt bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag im Vergleich zu Patient:innen mit initial deutlich höheren NIHSS-Punktzahlen eine erhebliche Belastung dar. Da eine sekundäre neurologische Verschlechterung häufig mit Verzögerung auftritt, ist eine intravenöse Thrombolyse oft nicht mehr praktikabel. In solchen Fällen bleibt die endovaskuläre Rettungstherapie als Option, obwohl sie im Vergleich zur sofortigen endovaskulären Therapie schlechtere Ergebnisse in Bezug auf Sicherheit und Wirksamkeit bieten kann, aber nicht muss. Darüber hinaus könnten bestimmte weitere Patient:innengruppen, wie solche mit invalidisierenden neurologischen Defiziten, grossem Gefässverschluss und grosser Thrombuslänge, Ältere oder Patient:innen mit einem schlechten Kollateralkreislauf und grossem Volumen an gefährdetem Hirngewebe, von einer endovaskulären Therapie profitieren, obwohl die aktuelle Evidenzlage noch eher dagegenspricht (Tab. 2).

Tab. 2: Überblick über die verschiedenen Aspekte der endovaskulären Therapie bei mildem Hirnschlag

Laufende Forschung

Das Ziel laufender randomisierter, kontrollierter Studien, wie z.B. der ENDOLOW- und MOSTE-Studien, ist die Gewinnung weiterer Erkenntnisse über die Sicherheit und Wirksamkeit der endovaskulären Therapie bei Patient:innen mit mildem Hirnschlag. Der Einschluss von Patient:innen in diese Studien kann ein umfassenderes Verständnis der besten Therapieansätze für diese Patient:innengruppe liefern.

Fazit

Aktuelle Evidenz deutet darauf hin, dass Patient:innen mit mildem Hirnschlag und grossem Gefässverschluss möglicherweise im Allgemeinen keinen signifikanten Nutzen von der endovaskulären Therapie haben und unnötigen Risiken ausgesetzt sind. Daher ist es wichtig, diese Patient:innen in randomisierte, kontrollierte Studien einzuschliessen. Bis definitivere Daten vorliegen, sollte die Behandlung von Patient:innen mit mildem Hirnschlag und grossem Gefässverschluss mit Vorsicht angegangen werden, wobei konservatives Management und intravenöse Thrombolyse, wo angebracht, bevorzugt sein können. Eine selektionierte Untergruppe dieser Patient:innen könnte jedoch von einer endovaskulären Therapie profitieren.

bei der Verfasserin

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