© retbool - stock.adobe.com

Rhythmisch-auditive Stimulation

Gangtraining bei Multipler Sklerose

Gangstörungen sind ein bedeutendes Problem für Menschen, die an Multipler Sklerose (MS) leiden, sie beeinträchtigen ihre Lebensqualität erheblich.1 Eine Abnahme der Gehgeschwindigkeit und Gehstrecke wirkt sich direkt auf alltägliche Aktivitäten, Selbstversorgungsfähigkeit, funktionale Mobilität und das häusliche Leben aus.2 Rhythmisch-auditive Stimulation (RAS) wird angewendet, um zyklische Bewegungen, wie das Gehen, zu erleichtern. Dabei werden rhythmische auditive Signale, wie Metronomtakt, Musik, rhythmische verbale Signale oder deren Kombination, genutzt. Das Gangtraining mit RAS erwies sich als wirksam, um Gangstörungen bei Patient:innen mit neurologischen Erkrankungen zu behandeln.3

Keypoints

  • Für ein geschicktes Gehen sind präzise Timing-Mechanismen und eine intakte Rhythmusperzeption entscheidend.

  • Rhythmisch-auditive Stimulation wird genutzt, um zyklische Bewegungen zu unterstützen, insbesondere das Gehen. Sie erleichtert den Prozess der sensomotorischen Synchronisierung.

  • Abhängig von physischer und kognitiver Beeinträchtigung können Patient:innen mit MS ihre Bewegungen erfolgreich mit einem externen Taktgeber synchronisieren.

  • Sowohl tatsächliches als auch mentales Gangtraining mit rhythmischer auditiver Stimulation verbessert die Gangfunktion, reduziert Fatigue und steigert die Motivation und Lebensqualität von Patient:innen mit MS.

Bewegungstiming

Geschicktes Gehen erfordert präzise Timing-Mechanismen und eine intakte Wahrnehmung des Rhythmus, die von miteinander verbundenen zerebralen Netzwerken verarbeitet werden.4 Eine Vielzahl von Studien untersuchte die komplexen Mechanismen der temporalen Verarbeitung und ihre neuronalen Korrelate.4,5 Dabei wird zwischen impliziten und expliziten Timing-Mechanismen unterschieden.5 Implizites Timing bezieht sich auf die Vorhersage oder Erwartung von Zeitabläufen, beispielsweise wenn wir uns zur Seite bewegen müssen, um einem herannahenden Auto auszuweichen. Dies führt hauptsächlich zur Aktivierung des Cerebellums.6,7 Explizites Timing hingegen betrifft die Einschätzung von Bewegungsgeschwindigkeit und -dauer sowie das motorische Timing, wie es bei Synchronisierungsaufgaben der Fall ist.7 Dabei werden die Basalganglien, die supplementären motorischen Areale, der primäre motorische Cortex und das Cerebellum aktiviert.8 Grundsätzlich scheint das Kleinhirn bei der Feedforward-Verarbeitung eine dominierende Rolle zu spielen, während die Basalganglien eine interne Taktgeberfunktion übernehmen und für die Abschätzung von Bewegungsgeschwindigkeit und -dauer verantwortlich sind.7 Zerebelläre Läsionen, sei es durch Atrophie oder MS-bedingte Läsionen, können die Variabilität von Bewegungen erhöhen9 und die Feedforward-Verarbeitung beeinträchtigen, die darauf abzielt, den motorischen Status anhand räumlich-zeitlicher Signale zu antizipieren10 (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Interne Timing-Mechanismen und externe Taktgeber

Sensomotorische Synchronisierung

RAS nutzt rhythmische akustische Signale, auch als Cues bezeichnet, um zyklische Bewegungen zu unterstützen, insbesondere das Gehen, indem sie den Prozess der sensomotorischen Synchronisierung (SMS) erleichtern.3 SMS wäre ohne rhythmische Anpassung (sog. Entrainment), bei der neuronale Rhythmusprozesse mit externen rhythmisch-auditiven Signalmustern synchronisiert werden, nicht möglich.3 Eine entscheidende Komponente des Anpassungsprozesses ist, dass die Signale repetitiv und kontinuierlich sind und einen klaren Pulsschlag oder Rhythmus vermitteln.11 Interessanterweise kann beim Cueing auch hochkomplexe Musik verwendet werden, um Entrainment auszulösen.12 Dabei kann sogenannte High-Groove-Musik die Synchronisierung erleichtern und zu schnellerem Gehen führen.13 Groove bezieht sich hier auf den Grad, in dem Musik zur Bewegung anregt.14

Die Mechanismen der SMS sind gut untersucht:15 Es werden Anpassungs- und Antizipationsprozesse in Gang gesetzt, um Bewegungen im Einklang mit externen Rhythmen zu timen.15,16 Das Timing wird durch den erwähnten internen Zeitgeberprozess gesteuert, der Impulse für motorische Reaktionen erzeugt. Anpassungsmechanismen wie Phasen- und Periodenkorrektur verringern die Variabilität des Bewegungstimings und verbessern die Synchronisierung.17 Phasenkorrektur ist die Anpassung des Inter-Onset-Intervalls (zwischen zwei Taktschlägen), ohne den internen Zeitnehmer zu beeinflussen, während Periodenkorrektur den internen Zeitnehmer selbst ändert.17 Ohne diese Mechanismen akkumuliert sich die Variabilität und führt zu Asynchronität und letztendlich zum Verlust der Synchronisation. Antizipationsmechanismen tragen ebenfalls zur erfolgreichen Synchronisierung bei, insbesondere bei Tempowechseln.15,16 Sie ermöglichen die Vorhersage zukünftiger akustischer Ereignisse und das rechtzeitige Einleiten von Bewegungen, damit diese mit den Ereignissen zusammenfallen.18 Studien zeigen, dass Menschen prädiktives und verfolgendes Verhalten (Tracking) gleichzeitig ausführen können.19 Antizipationsmechanismen höherer Ordnung ermöglichen eine zeitliche Extrapolation basierend auf vorangegangenen Intervallen und liefern Informationen über die Richtung der Tempoveränderung20 (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Sensomotorische Synchronisierung

Effekte von Gangtraining mit rhythmisch-auditiver Stimulation

Studien haben gezeigt, dass das Gangtraining mit RAS die Gehfunktion bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen,3 darunter Rückenmarksverletzungen,21 Schlaganfall,22 Parkinsonsyndrom23 und MS, verbessert.24 Forschungsergebnisse legen nahe, dass Patient:innen mit MS grundsätzlich in der Lage sind, ihren Gang mit dem Takt von Musik und einem Metronom zu synchronisieren.25 Allerdings zeigten Patient:innen mit stärkeren motorischen oder kognitiven Einschränkungen eine beeinträchtigte audiomotorische Koppelung und Synchronisierung, insbesondere bei höheren Tempi. Durch ein musikalisches Cueing konnten Patient:innen mit schwererer motorischer Beeinträchtigung ihre bevorzugte Gehkadenz steigern, und sie empfanden eine geringere Fatigue.25

Eine weitere Studie verglich die SMS während des 12-minütigen Gehens zu Musik bzw. einem Metronom zwischen Patient:innen mit MS und gesunden Kontrollpersonen.26 Insgesamt wurde eine bessere SMS unter Verwendung von Musik festgestellt. Alle Teilnehmer:innen zeigten eine geringere Kadenz und verbesserte Ganggeschwindigkeit und Schrittlänge unter allen RAS-Bedingungen, mit Ausnahme der gesunden Kontrollgruppe, bei der die Kadenz unter der Musikbedingung erhöht war. Die spontane Bewegungssynchronisierung mit Musik war bei Patient:innen nur bis zu ihrem bevorzugten Tempo oder maximal 2% darüber möglich. Nach Aufforderung konnte jedoch eine Synchronisierung bis zu 6% über dem bevorzugten Tempo erzielt werden. Darüber hinaus berichteten Patient:innen mit MS von einer geringeren kognitiven Fatigue und einer höheren Motivation beim Gehen zu Musik im Vergleich zum Metronom oder zur Stille.26

Mehrere Studien untersuchten die Wirksamkeit von Gangtraining mit RAS bei Menschen mit MS.27–29 In einer dieser Studien wurde ein auditives Feedback-Gerät verwendet, das synchron zur Gehkadenz der Teilnehmer:innen einen Tick (akustisches Signal) erzeugte.27 Die Analyse zeigte kurzfristige Effekte auf die Ganggeschwindigkeit (Veränderung bei MS: 12,8% vs. Kontrollen: –3,0%) und die Schrittlänge (Verbesserung von 8,3 vs. 0,3%) bei Patient:innen mit MS, jedoch nicht bei gesunden Kontrollen. Eine weitere Studie untersuchte ein Gehtraining mit Musik, das eingebettete Metronomsignale enthielt, wobei der Takt 10% über der spontanen Kadenz der Patient:innen mit MS lag.28 Post Intervention blieben die meisten Gangparameter unverändert, lediglich die Doppelschrittphase verkürzte sich. Es ist jedoch anzumerken, dass die Stichprobengröße in dieser Studie sehr klein war (n=10). Im Gegensatz dazu zeigte eine weitere Studie bei 18 Patient:innen mit MS nach drei Wochen metronomgestützten Gehtrainings eine signifikante Verbesserung der Schrittlänge, Schrittzeit, Kadenz und Ganggeschwindigkeit.29 Auch hier wurde ein Metronomtempo von +10% im Vergleich zur bevorzugten Kadenz der Teilnehmer:innen verwendet. Diese Evidenz legt nahe, dass Musik- oder Metronomsignale, die leicht über der bevorzugten Kadenz liegen, ein rhythmisches Entrainment induzieren und sich positiv auf die Gehleistung auswirken können.

Es ist faszinierend festzustellen, dass RAS nicht nur in Verbindung mit tatsächlichem Gangtraining, sondern auch bei mentalem Gangtraining wirksam ist. In einer randomisierten kontrollierten Studie wurde ein mentales Gangtraining (sog. Motor Imagery, siehe Abb. 3) mit Musik oder Metronomsignalen, begleitet von verbalem Cueing, bei Patient:innen mit MS mit geringer bis moderater Behinderung (Expanded Disability Status Scale, EDSS 1,5–4,5) verwendet. Die RAS-Motor-Imagery-Interventionsgruppe wurde mit einer Kontrollgruppe ohne spezifische Intervention verglichen.30 Von den 112 randomisierten Teilnehmer:innen schlossen 101 die Studie ab. Die Ergebnisse zeigten signifikante Verbesserungen bei der Gehgeschwindigkeit, der Gehstrecke und der subjektiven Gehfähigkeit nach dem mentalen Gangtraining mit Musik sowie Metronom im Vergleich zur Kontrollgruppe. Außerdem wurden Verbesserungen der kognitiven Fatigue und der Lebensqualität in beiden Interventionsgruppen festgestellt, während sich die physische Fatigue und die gesundheitsbezogene Lebensqualität nur in der Musikgruppe verbesserten.30

Abb. 3: Motor Imagery und funktionelle Äquivalenz imaginierter und tatsächlich ausgeführter Bewegungen

In einer weiteren randomisierten, kontrollierten Studie wurde die Wirkung des mentalen Gangtrainings mit und ohne zusätzliche RAS auf die Gehgeschwindigkeit, Gehstrecke, Fatigue und Lebensqualität von Patient:innen mit MS untersucht. Insgesamt wurden 60 MS-Patient:innen (EDSS 1,5–4,5) randomisiert, um entweder an einem mentalen Gangtraining mit Musik und verbalem Cueing, einem mentalen Gangtraining mit Musik alleine oder einem mentalen Gangtraining ohne RAS teilzunehmen.31 Alle Interventionen führten zu signifikanten Verbesserungen der Gehgeschwindigkeit und Gehstrecke, wobei das kombinierte mentale Gangtraining mit Musik und verbalem Cueing überlegen war. Motor Imagery mit musikalischem Cueing führte zu signifikanten Verbesserungen der Fatigue und der Lebensqualität, wobei auch in dieser Studie die größten Verbesserungen bei zusätzlichem verbalem Cueing beobachtet wurden.31 Es ist erwähnenswert, dass alle Patient:innen mit MS über gute Fähigkeiten in Bezug auf die Bewegungsvorstellung verfügten. Nach Abschluss beider RAS-unterstützten Motor-Imagery-Interventionen war die SMS signifikant genauer.

Factbox

Die aktuelle Studienlage deutet darauf hin, dass sowohl ein physisch ausgeführtes als auch ein mentales Gangtraining mit RAS eine vielversprechende nicht-pharmakologische Intervention darstellt, um das Gehen, die Fatigue, die Motivation und die Lebensqualität von Patient:innen mit MS zu verbessern. Weitere groß angelegte, randomisierte kontrollierte Studien sind notwendig, um die optimale Art, Applikation und Dosierung der RAS-Parameter sowie die Langzeiteffekte der Intervention bei Patient:innen mit neurologischen Erkrankungen, inklusive MS, zu evaluieren. Implementierungsstudien sind erforderlich, um die Integration von RAS-gestütztem Bewegungstraining in Rehabilitationsprogrammen für Patient:innen mit MS zu eruieren.

1 LaRocca NG: Patient 2011; 4(3): 189-201 2 Paltamaa J et al.: Arch Phys Med Rehabil 2007; 88(12): 1649-57 3 Braun Janzen T et al.: Front Hum Neurosci 2021; 15: 789467 4 Filip P et al.: Neural Plast 2016; 2016: 2073454 5 Ashoori A et al.: Front Neurol 2015; 6: 234 6 Bares M et al.: Experimental Brain Research 2007; 180(2): 355-65 7 Beudel M et al.: Neuroreport 2008; 19(10): 1055-8 8 Coull JT et al.: Neuropsychopharmacology 2011; 36(1): 3-25 9 Petter EA et al.: Neuroscience Biobehav Rev 2016; 71: 739-55 10 Broersen R et al.: PloS One 2016; 11(8): e0162042 11 London J.: Hearing in time. Pychological aspects of musical meter. New York: Oxford University Press, 2004 12 Phillips-Silver J at al.: Music Percept 2010; 28(1): 3-14 13 Janata P et al.: J Exp Psychol Gen 2012; 141(1): 54-75 14 Witek MA et al.: PloS One 2014; 9: e94446 15 van der Steen MC et al.: Brain Res 2015; 1626: 66-87 16 van der Steen MC, Keller PE: Front Hum Neurosci 2013; 7: 253 17 Repp BH: Hum Mov Sci 2001; 20(3): 277-312 18 Harry BB et al.: Neuropsychologia 2023; 183: 108524 19 Repp BH: The embodiment of musical structure: effects of musical context on sensorimotor synchronization with complex timing patterns. In: Prinz W, Hommel B (Hrsg.): Common mechanisms in perception and action: attention and performance. Oxford, UK: Oxford University Press, 2002, 245-65 20 Pecenka N, Keller PE: Exp Brain Res 2011; 211(3-4): 505-5 21 De l’Etoile SK: Int J Rehabil Res 2008; 31(3): 155-7 22 Magee WL et al.: Cochrane Database Syst Rev 2017; 1(1): Cd006787 23 Machado Sotomayor MJ et al.: Int J Environ Res Public Health 2021; 18(21): 11618 24 Lopes J, Keppers II: Arq Neuropsiquiatr 2021; 79(6): 527-35 25 Moumdjian L et al.: Neurorehabil Neural Repair 2019; 33(6): 464-75 26 Moumdjian L et al.: Mult Scler Relat Disord 2019; 35: 92-9 27 Baram Y, Miller A: J Neurol Sci 2007; 254(1-2): 90-4 28 Conklyn D et al.: Neurorehabil Neural Repair 2010; 24(9): 835-42 29 Shahraki M et al.: J Med Life 2017; 10(1): 33-7 30 Seebacher B et al.: Mult Scler 2017; 23(2): 286-6 31 Seebacher B et al.: Mult Scler 2019; 25(12): 1593-604

Back to top