
Studie zeigt Effekte bei Migräne und Spannungskopfschmerzen
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Autor:
Dr. med. Felicitas Witte
30
Min. Lesezeit
31.08.2017
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<p class="article-intro">Immer wieder fragen Patienten mit Kopfschmerzen nach komplementärmedizinischen Massnahmen. Kürzlich fassten Wissenschaftler von der Mayo Clinic in den USA die Evidenz zusammen.1 Wir fragten einen Neurologen und einen Psychiater, was sie von Komplementärmedizin bei Kopfschmerzen halten.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>91,3 % der Europäer haben irgendwann in ihrem Leben Kopfschmerzen, und pro Jahr leiden 78,6 % unter irgendeiner Form von Kopfschmerzen.<sup>2</sup> Haben Menschen in der Schweiz auch so häufig Kopfschmerzen?<br /> <em>P. Sandor:</em> Wir haben für die Schweiz keine eigene Statistik, nehmen aber an, dass unsere Zahlen ähnlich sind. <br /> <em> Wie häufig fragen die Patienten Sie nach komplementärmedizinischen Massnahmen?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Die allermeisten möchten das, und in den letzten Jahren haben sich immer mehr dafür interessiert. Dass komplementärmedizinische Methoden – wir kürzen das mit CAM ab – immer beliebter werden, bestätigen auch Studien. In einer Umfrage in europäischen Kopfschmerz-Kliniken nutzten 81,7 % der Patienten CAM,<sup>3</sup> und in einer Übersichtsarbeit waren es in den einzelnen Studien zwischen 28 % und 82 % .<sup>4</sup> <br /> <em> Warum wollen immer mehr Menschen komplementärmedizinische Methoden?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Seit einiger Zeit werden diese Massnahmen zunehmend mit wissenschaftlichen Methoden untersucht, wie wir sie auch in der klassischen Schulmedizin anwenden. Gleichzeitig erkennen immer mehr Universitäten komplementärmedizinische Methoden an. Wir haben in der Schweiz sogar am Unispital Zürich einen eigenen Lehrstuhl dafür, das Institut für komplementäre und integrative Medizin. Das zeigt also, dass die Komplementärmedizin Einzug in die Wissenschaft gefunden hat. Immer mehr Ärzte sehen Komplementärmedizin nicht mehr als Alternative – was ja der überholte Begriff «Alternativmedizin» suggeriert –, sondern als sinnvolle Ergänzung zu «klassischen» schulmedizinischen Behandlungen. Bei Kopfschmerzen ist das zum Beispiel Akupunktur als Ergänzung zu Medikamenten. Das finde ich sehr sinnvoll. Auch Patienten sehen jetzt die Komplementärmedizin mehr als Ergänzung denn als Alternative. <br /> <em>Basiert die Wirkung von Akupunktur bei Kopfschmerzen auf einem Placebo-Effekt oder wirkt sie tatsächlich?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Bei jeder Therapieform – also auch bei Kopfschmerz-Medikamenten – haben wir einen Placebo-Wirkungs-Anteil zusätzlich zur Verum-Wirkung. Akupunktur hat nach Studien ebenfalls eine signifikante Verum-Wirkung, die über den Placebo-Effekt hinausgeht.<br /> <em>Welchen Patienten würden Sie Akupunktur empfehlen?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Zusätzlich zur Pharmakotherapie. Entscheidend ist für mich der Wunsch des Patienten. Will er Akupunktur probieren, bestärke ich ihn darin. Ich denke, am meisten eignet sich Akupunktur bei Migräne und Spannungstypkopfschmerzen – das erlebe ich in der Zusammenarbeit mit Kollegen, die Traditionelle Chinesische Medizin anwenden.<br /> <em>In der Studie hing das Ansprechen auf Akupunktur mit der Stärke und Chronizität der Kopfschmerzen zusammen. Den grössten Benefit hatten Patienten mit häufigeren Attacken und pulsierenden Kopfschmerzen. Warum ist das so?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Das könnte daran liegen, dass Akupunktur an verschiedenen Schmerzübertragungspunkten wirkt. Bei schweren Kopfschmerzen wissen wir, dass mehrere Signalwege involviert sind. <br /> <em> Welche Rolle spielt die Erwartungshaltung bei der Linderung von Schmerzen?</em><br /> <em>G. Hasler:</em> Die Erwartung an eine Behandlung hat einen sehr grossen Einfluss. Sie verstärkt oder schwächt den Placebo-Effekt. Dieser Effekt ist wichtig, weil der volle Effekt immer aus der realen Wirkung, dem Verum-Effekt, und dem Placebo-Effekt besteht. <br /> <em> Wie erklärt man seinen Patienten, dass die Erwartungshaltung eine so grosse Rolle spielt?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Vielleicht am Beispiel der medizinischen Hypnose. Hypnose wirkt durch Suggestion, also indem die Erwartungshaltung beeinflusst wird. Dadurch sinkt quasi die Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene Schmerzen wahrnimmt. Mittlerweile gibt es Forscher, die versuchen, diese Wahrscheinlichkeit mit modernen bildgebenden Verfahren und mathematischen Modellen zu berechnen.<br /> <em>G. Hasler:</em> Man könnte es auch so erklären: Wenn ich fest an eine Sache glaube, wirkt sie besser. Bereits kleine Verbesserungen führt der Patient dann auf die Therapie zurück. Der Placebo-Effekt kann stetig zunehmen, das ist eine Konditionierung. Eine positive Erwartung macht vermutlich aber auch den Körper empfänglicher für die Therapie. Bei Krankheiten, bei denen ein Dopamin-Mangel eine Rolle spielt – etwa Schmerzen oder Depressionen –, ist der Placebo-Effekt besonders gross. Das spricht dafür, dass der Placebo-Effekt die Dopamin- Ausschüttung fördert. Auch die Compliance wird besser und Nebenwirkungen werden eher toleriert.<br /> <em> Auch manuelle Therapie wirkte in den Studien gegen Kopfschmerzen. Funktioniert das wirklich und wenn ja, wie?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Durch die manuelle Therapie scheint es möglich zu sein, Verspannungen in Muskeln zu lösen, was zur Schmerzlinderung beiträgt. Eine manuelle Therapie sollte man Patienten empfehlen, die dann wahrscheinlich auch davon profitieren werden, also zum Beispiel denjenigen mit verspannter Nackenmusku­latur.<br /> <em> Kann bei manueller Therapie nicht einiges passieren, wenn man am Kopf «herumdreht»?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> In der Schweiz wird in der manualmedizinischen Ausbildung besonderer Wert darauf gelegt, dass die Therapeuten so vorsichtig wie möglich vorgehen. Meine Patienten, die manualmedizinisch behandelt wurden, hatten bisher keine Probleme. <br /> <em> Kann Yoga helfen?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Yoga ist als Methode sehr heterogen, was in den bisherigen Publikationen nicht in genügendem Masse berücksichtigt worden ist. So gibt es 20 oder mehr Yoga-Arten, von ruhigem Meditations-Yoga bis zu aktivem Power-Yoga. So müsste man in Studien genau definieren, welche Methode untersucht werden soll. Viele Patientinnen und Patienten berichten positive Effekte. Eine Beurteilung aus wissenschaftlicher Sicht erscheint jedoch verfrüht. <br /> <em> Wie sieht es mit Nahrungsergänzungsmitteln, einer bestimmten Ernährung oder pflanzlichen Präparaten aus?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Einige Nahrungsergänzungsmittel zeigten positive Wirkungen in der Migräneprophylaxe, insbesondere Riboflavin, Coenzym Q10 und Magnesium. Es gibt Hinweise darauf, dass eine ketogene Diät prophylaktisch wirkt – aktuell läuft hierzu eine Studie an der Universität Basel unter der Leitung von Prof. Dirk Fischer, bei der man Patienten noch anmelden kann*. Bei pflanzlichen Mitteln wie Pestwurz gibt es inzwischen ganz gute Evidenz. Sie können helfen bei Migräne, können aber ziemliche Nebenwirkungen verursachen, zum Beispiel Interaktionen mit Medikamenten oder eine Leberschädigung. Ein möglicher Einsatz muss vor diesem Hintergrund gut evaluiert werden.<br /> <em>G. Hasler:</em> Bei den pflanzlichen Heilmitteln sehe ich Potenzial beim Lavendel. Wir haben immer mehr Daten aus klinischen Studien, die belegen, dass Lavendel Angst- und depressive Symptome reduzieren kann. Diese Symptome treten bei Kopfschmerzen oft komorbid auf und verschlimmern die körperlichen Beschwerden. Lindert man Angst und depressive Verstimmung, können dadurch auch die Kopfschmerzen besser werden.<br /> <em> In der Studie halfen einigen Patienten Mind-Body Medicine, Biofeedback, Meditation oder «emotional freedom technique». Welcher Kopfschmerz-Patient könnte davon profitieren?</em><br /> <em>G. Hasler:</em> Das hängt vom Patienten, seiner persönlichen Geschichte und seiner aktuellen Lebenssituation ab. Wichtig scheint mir, dass man mit den komplementärmedizinischen Massnahmen Ressourcen stärkt, die bereits vorhanden sind. Dass das achtsamkeitsbasierte Methoden können, ist ganz gut belegt. Ausserdem lernt der Patient, seine Aufmerksamkeit vom Schmerz weg auf etwas anderes zu fokussieren. Zum Beispiel, gemeinsam mit Freunden zu kochen oder eine Wanderung zu machen. Und er lernt, seine Körperempfindungen nicht überzuinterpretieren und ständig darauf zu warten, ob es wieder weh im Kopf tut. Alle diese Techniken helfen, Schmerzen zu lindern und sie besser zu ertragen. Zusammengefasst kann man sagen: Wenn man resilient ist, erträgt man Schmerzen besser, weil man sie nicht so sehr an sich herankommen lässt. Der Wir-Faktor spielt bei der Resilienz eine zentrale Rolle. <br /> <em> Warum spielt der Wir-Faktor eine so grosse Rolle und was ist das überhaupt?</em><br /> <em>G. Hasler:</em> Bei der Resilienz gegenüber Stress und Belastungen wie auch chronischen Schmerzen spielen soziale Faktoren eine wichtige Rolle. Unter anderem die soziale Unterstützung, die Verwurzelung in einer Familie oder Gemeinschaft und der direkte soziale Austausch. In meinem Buch über den «Wir-Faktor» zeige ich im Detail, wie diese Faktoren wirken und wie man sie fördern kann. Wichtig bei den komplementärmedizinischen Massnahmen scheint mir die therapeutische Beziehung. Gute Therapeuten nehmen sich viel Zeit für ihre Patienten und betrachten die Beschwerden ganzheitlich. Auch bei körperorientierten Therapien ist das Zwischenmenschliche von grosser Bedeutung. Damit liefern die komplementärmedizinischen Methoden den Wir-Faktor, der bei der Resilienz so wichtig ist. <br /> <em> Welche Rolle spielt die Psyche b</em>ei der Chronifizierung von Kopfschmerzen? <br /> <em>G. Hasler:</em> Die Psyche kann eine Rolle spielen, muss es aber nicht. Man sollte sich in Acht nehmen, Schmerzen voreilig zu «psychologisieren». Chronische Gallensteine machen auch chronische Schmerzen. Bei der psychogenen Schmerz-Chronifizierung spielen oft hypochondrische Ängste, fehlerhaftes Furchtlernen, körperliche und mentale Inaktivität, sozialer Rückzug, Über- und Unterforderung am Arbeitsplatz, familiäre Konflikte und muskuläre Verspannung eine Rolle. Aber auch das totale Ignorieren und Unterdrücken von Schmerzen kann zur Chronifizierung beitragen.<br /> <em> Warum helfen einige komplemen­tärmedizinische Massnahmen bei Migräne oder Spannungskopfschmerzen und nicht bei Clusterkopfschmerzen?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Ich erkläre es mir damit, dass Clusterkopfschmerzen eine andere Art von Krankheit sind. Immer wieder werden sie als das «Monster» unter den Kopfschmerzen bezeichnet – und das zu Recht. Die Schmerzen sind so heftig, dass man sie vielleicht mit den eher «milden» komplementärmedizinischen Massnahmen nicht richtig angehen kann. Bei Cluster scheinen nur sehr intensive Behandlungen überhaupt zu wirken, etwa eine starke Pharmakotherapie.<br /> <em>G. Hasler:</em> Clusterschmerzen sind sehr stark und treten sehr plötzlich auf. Da bleibt der Psyche wenig Zeit, Resilienz dagegen aufzubauen. Ich kann mir aber vorstellen, dass die komplementärmedizinischen Massnahmen präventiv bei Clusterkopfschmerzen wirken könnten. Doch dazu fehlen die Daten.<br /> <em> Wie sieht für Sie die Zukunft der Kopfschmerz-Behandlung aus?</em><br /> <em>P. Sandor:</em> Sie wird sehr individuell sein, idealerweise massgeschneidert. Dies bedeutet in erster Linie, dass der Neurologe individuell auf den einzelnen Patienten eingeht und neben medizinischen Aspekten auch solche der Lebensgestaltung oder der Lebensumstände berücksichtigt, und auch das, was der Patient möchte. Biomarker und Pharmakogenetik könnten ebenfalls zu einer massgeschneiderten Behandlung beitragen. Aber für mich steht im Zentrum, den einzelnen Menschen «mit Haut und Haaren» zu erfassen.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Millstine D et al.: BMJ 2017; 357: j1805 <strong>2</strong> Steiner TJ et al.: J Headache Pain 2014; 15: 31 <strong>3</strong> Gaul C et al.: Cephalalgia 2009; 29: 1069-78 <strong>4</strong> Adams J et al.: Headache 2013; 53: 459-73</p>
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