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Überblick zum aktuellen pathophysiologischen Konzept
Leading Opinions
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01.09.2016
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<p class="article-intro">Vieles in der Pathophysiologie des komplexen regionalen Schmerzsyndroms ist noch unklar. PD Dr. med. et Dr. phil. Florian Brunner, Chefarzt Abteilung für Physikalische Medizin und Rheumatologie an der Universitätsklinik Balgrist, Zürich, gab an der Schmerztagung im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil einen Einblick in den aktuellen Wissensstand zu diesem Thema.</p>
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<p class="article-content"><p>Beim komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) handelt es sich um eine übermässige, dysproportionale Reaktion des Körpers auf ein Trauma», erklärte PD Dr. med. Florian Brunner, Zürich, zu Beginn seines Vortrags. Dabei könne es sich durchaus lediglich um ein Bagatelltrauma handeln. «Schlussendlich spielt es keine Rolle, was der Auslöser ist. Denn das Trauma ist lediglich ein Trigger für eine Reaktion, die sich danach entwickelt und die eigentlich abgekoppelt vom ursprünglich auslösenden Ereignis abläuft.»<br /> Auf klinischer Ebene präsentiert sich das CRPS sehr heterogen. Es kommt zu sensiblen, vasomotorischen, sudomotorischen, trophischen und motorischen Veränderungen (Tab. 1).<sup>1</sup> «Das Schwierige ist, dass sich diese klinischen Manifestationen bei den Patienten individuell entwickeln und sich über die Zeit auch verändern», so Brunner.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1604_Weblinks_Seite97.jpg" alt="" width="750" height="342" /></p> <h2>Einblick in die Pathophysiologie</h2> <p>«Die Pathophysiologie des CRPS ist eine komplexe Angelegenheit», erklärte der Redner. Trotz intensiver Forschungen sei es beispielsweise nach wie vor nicht klar, weshalb gewisse Personen ein CRPS entwickeln würden und andere nicht. Grundsätzlich scheinen drei Vorgänge pathophysiologisch von Bedeutung zu sein: eine überschiessende neurogene Inflammation, eine vasomotorische Dysfunktion und eine maladaptive Neuroplastizität.<sup>2</sup> «Bei der überschiessenden neurogenen Entzündung stehen beim CRPS vermutlich nicht die zellulären Komponenten, sondern die verschiedenen Zytokine im Vordergrund», führte Brunner weiter aus. Zu entsprechenden Erkenntnissen führten Untersuchungen von Hautbiopsien, Serum- und Liquorproben. «Anhand von Serumproben konnte z.B. festgestellt werden, dass die proinflammatorischen Zytokine in der Frühphase des CRPS erhöht, die antiinflammatorischen dagegen vermindert sind», so der Redner. In einer Metaanalyse wurde untersucht, ob sich bei Patienten mit einem CRPS ein spezifisches Entzündungsprofil im Serum nachweisen lässt und ob sich dieses im Verlauf der Erkrankung verändert.<sup>3</sup> Dabei zeigte sich, dass in der Frühphase eines CRPS (median 3 Monate) vor allem Interleukin-8, der Tumor-Nekrose-Faktor α (TNF-α), die löslichen TNF-Rezeptoren I und II, das CGRP («calcitonin gene-related peptide») und die Substanz P eine wichtige Rolle spielen. «Bekannt ist, dass die Freisetzung von CGRP bei der neurogenen Entzündung zu einer Vasodilatation und die Freisetzung der Substanz P zu einer Proteinextravasation führt», erklärte Brunner. Folgen davon seien eine Schwellung, Rötung und Überwärmung der betroffenen Extremität. Wie er zudem ergänzte, sind Versuche, therapeutisch am CGRP oder der Substanz P anzusetzen, bisher leider gescheitert. «Die überschiessende neurogene Inflammation führt schliesslich zu einer peripheren und zentralen Sensibilisierung sowie zu einem sympathisch unterhaltenen Schmerz, der schliesslich zur Chronifizierung beiträgt.»</p> <h2>Rolle der vasomotorischen Dysfunktion</h2> <p>Der zweite wichtige pathophysiologische Prozess beim CRPS stellt die vasomotorische Dysfunktion dar. Diese äussert sich klinisch in einer asymmetrischen Farbe und Temperatur der Haut.<sup>1</sup> «Üblicherweise ist die betroffene Extremität in der Frühphase der Erkrankung warm, in der Spätphase meist kalt. Allerdings findet sich bei etwa 20 % der Patienten bereits zu Beginn des CRPS eine kalte Extremität», gab Brunner zu bedenken. Die Gründe für diese Besonderheit sind bisher nicht bekannt.<br /> Die warme Phase eines CRPS lässt sich einerseits auf die vorgängig beschriebene Wirkung des CGRP und der Substanz P zurückführen. Andererseits scheint es in der akuten Phase eines CRPS zu einer Hemmung sympathischer vasokonstriktorischer Fasern und damit zu einer reduzierten Noradrenalinausschüttung zu kommen.<sup>4</sup> «Man nimmt an, dass sich diese sympathische Unterfunktion und die Noradrenalinausschüttung beim Übergang in die chronische Phase wieder erholen, es dann aber zu einer Supersensitivität kommt, indem an den Gefässen vermehrt Noradrenalin-Rezeptoren exprimiert werden», so Brunner. Zusätzlich könnte pathophysiologisch ein lokaler Prozess in den Extremitäten eine Rolle spielen. So konnte in einer Arbeit gezeigt werden, dass es bei Patienten mit einem chronischen CRPS zu einer Endotheldysfunktion kommt, die schliesslich zu einer lokalen Vasokonstriktion führt.<sup>5</sup></p> <h2>Folgenschwere Wahrnehmungsstörungen</h2> <p>Als dritter pathophysiologischer Prozess sind beim CRPS neuroplastische Veränderungen von Bedeutung. «Dies ist kein für das CRPS spezifischer Prozess, wissen wir doch, dass solche Veränderungen auch bei anderen chronischen Schmerzerkrankungen eintreten», so der Redner. Es handle sich hierbei um funktionelle und strukturelle Veränderungen, die sich im sensiblen und motorischen Kortex manifestierten und zu einer zentralen Sensibilisierung mit Spontanschmerzen, Hyperalgesie und Allodynie führten. Im funktionellen MRI liess sich nachweisen, dass sich die Repräsentation der betroffenen Extremität im somatosensorischen Kortex bei einem CRPS im Vergleich zur gesunden Kontrollseite verkleinert.<sup>6</sup> Dieser Vorgang erwies sich jedoch als reversibel, wenn es z.B. durch eine Therapie zu einer Verbesserung des Zustands kam.<br /> Besonders interessant ist zudem, dass diese zentralen neuroplastischen Veränderungen auch zu einer veränderten Wahrnehmung der betroffenen Extremität führen. «Fragen Sie einmal Ihre CRPS-Patienten, wie sie die betroffenen Gliedmasse wahrnehmen», schlug Brunner vor. «Sie werden viele interessante Antworten bekommen. Die Patienten sind zudem oft froh, wenn sie endlich einmal danach gefragt werden, weil ihnen da schon lange etwas aufgefallen ist, sie sich aber nicht getraut haben, darüber zu sprechen.» Die Antworten ergäben schliesslich bunte Bilder im Bezug auf Grösse, Form, Position und Temperatur einer Extremität. Insgesamt gesehen können sich eine ausgesprochene Abneigung und ein Fremdkörpergefühl manifestieren. Bereits vor einiger Zeit wurde denn auch beschrieben, dass Patienten mit CRPS immer wieder auch den Wunsch nach einer Amputation äussern.<sup>7</sup> «Auch wir erleben diese Situation mehrmals pro Jahr», meinte Brunner. Er lasse seine CRPS-Patienten zudem häufig eine Zeichnung der betroffenen Extremität anfertigen. «Diese liefert uns unter Umständen viele Informationen darüber, wie die Patienten den entsprechenden Körperteil wahrnehmen. Dieses Wissen können wir dann für die Therapie nutzen. Denn das Wiedererlangen einer korrekten Wahrnehmung eines Körperteils stellt für uns ein wichtiges therapeutisches Ziel dar.»<br /> <br /> Und schliesslich führt ein CRPS auch zu neuroplastischen Veränderungen im motorischen Kortex. «Durch eine zentrale Enthemmung kommt es zu einer vermehrten Erregbarkeit motorischer Bahnen. Dies kann zu Bradykinesien oder Dystonien, häufig auch zu Tremor und Myoklonien führen.» <br /> Zusammenfassend sagte Brunner: «Die Pathophysiologie des CRPS ist ein komplexes Geschehen, in welches eine neurogene Entzündung, eine vasomotorische Dysfunktion und eine maladaptive Neuroplastizität involviert sind. Wie sich diese Prozesse gegenseitig beeinflussen bzw. ob und wie sie voneinander abhängig sind, ist bisher nicht bekannt. Die pathophysiologischen Modelle bilden aber eine potenzielle Basis, von der aus wir in Zukunft hoffentlich wirksame therapeutische Interventionen ableiten können.»</p></p>
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<p><strong>1</strong> Harden RN et al: Proposed new diagnostic criteria for complex regional pain syndrome. Pain Med 2007; 8: 326-31 <br /><strong>2</strong> Marinus J et al: Clinical features and pathophysiology of complex regional pain syndrome. Lancet Neurol 2011; 10: 637-48 <br /><strong>3</strong> Parkitny L et al: Inflammation in complex regional pain syndrome: a systematic review and meta-anal-<br />ysis. Neurology 2013; 80: 106-17 <br /><strong>4</strong> Wasner G et al: Vascular abnormalities in reflex sympathetic dystrophy (CRPS I): mechanisms and diagnostic value. Brain 2001; 124: 587-99 <br /><strong>5</strong> Groeneweg JG et al: Increased endothelin-1 and diminished nitric oxide levels in blister fluids of patients with intermediate cold type complex regional pain syndrome type 1. BMC Musculoskelet Disord 2006; 7: 91 <br /><strong>6</strong> Maihöfner C et al: Cortical reorganization during recov-ery from complex regional pain syndrome. Neurology 2004; 63: 693-701 <br /><strong>7</strong> Lewis JS et al: Body perception disturbance: a contribution to pain in complex regional pain syndrome (CRPS). Pain 2007; 133: 111-9</p>
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