Wie Martina Hagspiel das Gesundheitssystem verändern will
Bericht:
David Ben Splitt
Redakteur bei Kurvenkratzer
Nachdem sie 2010 an Brustkrebs erkrankt war, wurde es Martina Hagspiel zum Anliegen, das Thema Krebs auf ihre eigene, unkonventionelle Weise anzusprechen. Mitder Patient*innenorganisation „InfluCancer“ und der digitalen Plattform „Kurvenkratzer“ enttabuisiert sie den Lebensumstand Krebs mit mehr als einer Prise Humor. Durch jahrelanges Community-Building strebt Martina Hagspiel zudem die Systemrelevanz der neuen Berufsgruppe der Patient*innenvertretung an.
Martinas Geschichte beginnt, wie so viele gute Geschichten, mit ungewollter Veränderung: Anno 2010 im steirischen Graz, nachdem sie in ihrem Betrieb als Versicherungsmaklerin regelmäßig mit Kund*innen über Berufsunfähigkeit getratscht hatte, war sie in die Mittagspause gegangen und erst lebensverändernde eineinhalb Jahre später zurückgekehrt. Was war passiert? Brustkrebs. Das war passiert.
Erst nach der Behandlung ist Martina in einer Selbsthilfegruppe der Frauenkrebshilfe gelandet. Statt des erwarteten kollektiven Jammerns traf sie einen Haufen wundervoller Menschen, die auf einer ozeantiefen Ebene verstanden, wie es ihr während ihrer Zeit als Krebspatientin erging: diesen Nebel, der sie auch noch im ersten Jahr nach der Chemotherapie umgab und sie ständig vergessen ließ, was sie zu welchem Zeitpunkt wo und wieso zu tun hatte. Oder die anhaltende, alles verschlingende Müdigkeit, die sie auch nach der Krebstherapie regelmäßig ins Bett beorderte … All das konnten nur Menschen verstehen, die dasselbe durchgemacht hatten. Die angenehme Überraschung, dass Selbsthilfegruppen tatsächlich helfen, bewog Martina dazu, sich bei der Frauenkrebshilfe zu engagieren.
Im Zuge dessen kam nach und nach die Erkenntnis, dass es genauso viele Herangehensweisen an eine Krebserkrankung und Bewältigungsstrategien gibt wie Patient*innen. So reifte langsam eine Idee in Martina heran. Eine Idee, die sich mittlerweile unter den Namen „Kurvenkratzer“ und „InfluCancer“ als Schmetterlinge entpuppt hat.
Gute Ideen reifen am längsten
Das InfluCancer-Team rund um Martina Hagspiel
Die Rückkehr an den Schreibtisch im Jahre 2013 fühlte sich für Martina nicht mehr authentisch an. Die Konfrontation mit der Endlichkeit hatte einiges bewirkt. Wenn, dann schon mit wehenden Fahnen den Löffel abgeben – so die Einstellung. Versicherungsmaklerin als Lebenszweck klang wie das Fegefeuer selbst. So warf sie das metaphorische Handtuch und holte ein neues aus der Wäsche: Im Rahmen der Ausbildung zum systemischen Coach formulierte Martina vier Visionen, die ihr weiteres Berufsleben bestimmen sollten.
Das Thema Krebs wollte sie als Sprecherin auf ihre eigene Art angehen und ein Magazin gründen, das selbiges tut. Außerdem wollte sie eine Patient*innenorganisation und eine Agentur aufbauen, um „Public & Patient Involvement and Engagement“ in der Grundversorgung zum Standard zu machen. Ihrer Ansicht nach werden die Interessen von Patient*innen, besonders in Österreich, bis dato nur unzureichend vertreten. Patientenexpert*innen haben aufgrund ihres gesetzlichen Laienstatus keinen Zugang zu Entwicklung und Forschung. Deswegen haben sie in der Regel auch keine Möglichkeit, bei gesundheitspolitischen Runden oder spezifischen Fachtagungen Platz zu nehmen.
Egal wie du über Krebs sprichst– Hauptsache du tust es
Durch eine lebensspendende Innovationsförderung der Stadt Wien wird der Grundstein für die Entwicklung des Online-Magazins und der Agentur „Kurvenkratzer“ gelegt. Der Lebenszweck ist klar: Es sollen all jene zu Wort kommen, die vom Lebensumstand Krebs betroffen sind – ein digitaler Erfahrungsschatz quasi. Und zwar frech, bunt und unverblümt.
Zielgruppe sind nicht nur Patient*innen, sondern auch Angehörige und Zugehörige, medizinische Dienstleister und Hilfsorganisationen. Die Einstellung der „Kurvenkratzer“ beschreibt Martina wie folgt:
„Wir treten an, um der Sprachlosigkeit, die so oft mit der Diagnose Krebs einhergeht, liebevoll in den Allerwertesten zu treten. Denn wir glauben an die heilsame Kraft der Kommunikation. Gerade dann, wenn’s schwierig wird. Wir möchten jenen, die Krebs als Lebensumstand erleben, eine Komfortzone sein, auch wenn wir das Wort nicht mögen. Krebs geht uns alle etwas an. Gemeinsam wollen wir Tabus brechen und die Herangehensweise an die Krankheit Krebs erklärbar machen. Darüber hinaus lieben wir das Leben und wollen mit unseren Beiträgen eine positive Grundhaltung dem Leben gegenüber unterstützen.“
Die vorgelebte Positivität und Affinität zum tabulosen Humorsind es, was „Kurvenkratzer“ abhebt. Martina ist überzeugt, dass sich insbesondere die schwierigen Themen und die damit einhergehende Tragik über das universelle Hilfsmittel Humor besser besprechen und verarbeiten lassen.
Das Gesundheitssystem braucht Patient Advocates
Mit der Berufsbeschreibung Mutmacherin kann Martina nicht viel anfangen, sie sieht sich viel mehr als Patient*innenvertreterin. Auch Patient Advocates oder Experts genannt, strebt diese neuartige Berufsgruppe an, die Interessen von Patient*innen zu stärken und besser sichtbar zu machen. In den Dialoggruppen von „Kurvenkratzer“ und „InfluCancer“ sind es eben die von Krebspatient*innen. Wie das passieren soll? Durch mehr Transparenz und Patient*innenorientierung sowie eine Sensibilisierung dazu, Aspekte der Lebensqualität in die medizinische Behandlung einzubeziehen.
Die als Verein funktionierende Patient*innenorganisation „InfluCancer“ wurde genau zu diesem Zweck gegründet und fährt voller Elan Tandem mit dem Online-Medium „Kurvenkratzer“. Beide sind sie Antworten auf ein vorherrschendes Problem: das Aufbrechen des Tabus rund um das Thema Krebs. Auch das Nichtvorhandensein einer professionellen Patient*innenvertretung in der DACH-Region wird oft zur Sprache gemacht. Die Gesetzgeber können in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgrund aktueller Gesetzestexte, nicht zwischen Laienpatient*innen und professionellen Patient*innen unterscheiden. Bislang haben Patient Advocates in gesundheitspolitischen Gremien keinen Platz. Deshalb arbeitet „InfluCancer“ bei der „Allianz aus onkologischen Patient:innenorganisationen“ mit, um Patient Advocacy in Österreich zu etablieren und gegebenenfalls die nötigen Gesetzestexte zu ändern ( https://dieallianz.org ).
Inzwischen ist aber auch „InfluCancer Deutschland“ in Gründung, um der vorhandenen digitalen Community über die Landesgrenzen hinaus zu folgen. Ein Systemwandel und Relevanz im Gesundheitssektor sind das große Ziel – sowohl in Österreich als auch in Deutschland und der Schweiz. Dabei stellt sich die Frage: Was wäre nötig, damit Patient*innenbeteiligung in Forschung und Entwicklung überhaupt möglich ist? Die mögliche Antwort: ein von der „Allianz“ konzipierter Uni-Lehrgang, der eine objektive Ausbildung als Grundlage für das Berufsbild Patient Advocate anbieten soll.
„InfluCancer“ und die assoziierten Patient Advocates bemühen sich außerdem, Krebspatient*innen im Angesicht ihrer Krankheit mündiger zu machen. Damit dies passiert, müssen Patient*innen informiert sein, aktives Interesse an einem möglichst guten Gesundheitsmanagement zeigen und ermutigt werden, damit ungehemmt Fragen gestellt werden können. Das ungeniert-informierte „Piesacken“ durch mündige Patient*innen verlangt nach sachlich sicheren Ärzt*innen. „Shared decision making“ ist hier das Schlüsselwort – um im medizinischen Gespräch gemeinsam bewusste Therapieentscheidungen treffen zu können.
Was nicht ungesagt bleiben darf: „Kurvenkratzer“ und „InfluCancer“ bestehen im Kern aus kleinen Teams, die das Zentrum einer beachtlichen Community aus onkologischen Patient*innenstimmen bilden. Damit diese Community zusammenkommt, findet jährlich der InfluCancer-Kongress statt. Im digitalen Rahmen vernetzen sich Krebsblogger*innen, qualifizierte Patient*innenstimmen, Vertreter*innen von Patientenorganisationen, Patient Advocates sowie Aktivist*innen und werden im Umgang mit aktuellen Kommunikationsinstrumenten, wie z.B. Social Media, gefördert.
Wer mehr Krebsweisheiten lesen möchte, kann dies auf www.influCancer.com tun.
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