«Angemessene Versorgung erreichen»
Prof. Dr. med. Stephan Klessinger
Facharzt für Neurochirurgie, Biberach (D)
Geschäftsführer IGOST (Interdisziplinäre Gesellschaft für orthopädische/unfallchirurgische und allgemeine Schmerztherapie)
Dr. med. Martin Legat
Facharzt für Orthopädie, Spezielle Schmerztherapie, Interventionelle Schmerztherapie und Manuelle Medizin, Schmerz Zentrum Zofingen (CH)
Generalsekretär IGOST
Die Interviews führte
Dr. med. Felicitas Witte
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Die Deutsche Wirbelsäulengesellschaft hat eine Leitlinie zur Radiofrequenzdenervation bei Schmerzen in Facettengelenken und im Iliosakralgelenk (ISG) herausgegeben.1 Warum es eine Leitlinie braucht, wer davon profitieren kann und wie sich die Honorarsituation in Deutschland und der Schweiz darstellt, erklären Stephan Klessinger, federführender Autor, und Martin Legat, Mitglied der Leitliniengruppe.
Was ist für Sie persönlich das wichtigste Ziel der Leitlinie?
S. Klessinger: Mit der Leitlinie möchten wir vor allem die Qualität der Patientenversorgung verbessern. Die Radiofrequenzdenervation ist ein Therapieverfahren, das für Patienten mit spezifischem Rückenschmerz infrage kommt. Allerdings gibt es kein einheitliches Vorgehen bei der Auswahl geeigneter Patienten und der technischen Durchführung. Unsere Leitlinie will die Verfahrensweise verbessern: durch evidenzbasierte Empfehlungen zur Patientenauswahl bezüglich Anamnese, klinischer Untersuchung und Bildgebung, zu diagnostischen Testblockaden vor einer Denervation und zur Durchführung der Denervation.
M. Legat: Eine gute Leitlinie berücksichtigt nicht nur die wissenschaftliche Evidenz, sondern auch die medizinische Praxis. Gerade in dieser Hinsicht ist es wichtig, den Ärzten eine Leitlinie an die Hand zu geben. Die Radiofrequenztherapie an den Facettengelenken und am ISG hat in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung erlebt. Es war wichtig, darzustellen, was bei dieser Therapie hinsichtlich Indikationsstellung und Anwendung zu berücksichtigen ist.
Meinen Sie, dass zu wenige Patient:innen diese Therapie erhalten?
S. Klessinger: Uns geht es darum, sowohl Über- als auch Unterversorgung zu vermeiden. Da es sich um ein invasives und kostenaufwendiges Therapieverfahren handelt, müssen die dafür geeigneten Patienten sorgfältig ausgewählt werden. Zudem sind bessere Ergebnisse zu erwarten, wenn die Indikation streng gestellt wird. Wenn man andererseits die Indikation zu streng stellt oder die Radiofrequenzablation nicht überall verfügbar ist, würde manchen Patienten eine möglicherweise langfristig wirksame Therapie vorenthalten. Durch die evidenzbasierten Empfehlungen der Leitlinie wollen wir eine angemessene Versorgung ausgewählter Patienten mit chronischen Rückenschmerzen ermöglichen.
M. Legat: Die Situation in der Schweiz unterscheidet sich deutlich von der in Deutschland. Dort wird die Behandlung von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt, hierzulande zahlt die Grundversicherung nicht. Die Leistung «Denervation der Facettengelenke mittels Radiofrequenztherapie» ist als nicht leistungspflichtig gelistet. Die letzte Prüfung durch das BAG erfolgte im Jahr 2004. Die Schweizer Gesellschaft für Interventionelle Schmerzmedizin (SSIPM) hofft, dass die Radiofrequenzdenervation im neuen Tarifsystem «Tardoc» eine Abbildung findet, sodass die Behandlung dann von der Grundversicherung übernommen wird.
Ich habe keine Zahlen, aber mein Eindruck ist, dass wir wegen der Kostensituation hierzulande eher eine Unter- als eine Überversorgung haben. Das Verfahren wirkt bei richtiger Diagnosestellung länger als eine Injektion mit Lokalanästhetikum und Steroiden. Momentan bieten wir es als kostenloses «Add-on» zur Injektion am Medial-Branch an. So muss der Patient nichts dazuzahlen, denn die Grundversicherung übernimmt die Injektion am Medial-Branch, weil der Medial-Branch-Block im jetzigen Tarifsystem «Tarmed» abgebildet ist. Wenn wir es nicht als «Add-on» anbieten würden, würde es den Patienten 800 bis 1000 Franken kosten.
Was ist das Schwierige daran, geeignete Patient:innen zu identifizieren?
S. Klessinger: Die Radiofrequenzdenervation der Facettengelenke und des ISG ist eine Therapie, die nur für Patienten infrage kommt, die einen spezifischen Rückenschmerz haben, der seine Ursache in diesen Gelenken hat. Diese Schmerzursache nachzuweisen ist schwierig, da die Diagnose nicht allein durch Anamnese, Untersuchung und Bildgebung gestellt werden kann. Es sind, wie in der Leitlinie beschrieben, Testblockaden zur Sicherung der Diagnose notwendig.
Die Leitlinie ist 113 Seiten lang. Ist das nicht etwas viel im praktischen Alltag?
S. Klessinger: Wir haben 20 PICO-Fragen bezüglich Indikation und Durchführung einer Radiofrequenzdenervation ausgewählt. PICO steht für «PatientInterventionComparisonOutcome». Das PICO-Schema wird benutzt, um in der evidenzbasierten Medizin die Ergebnisse einer Fragestellung möglichst übersichtlich zu formulieren. Zu diesen Fragen gibt es in der Leitlinie fast 50 Statements und Empfehlungen, die in der Langfassung ausführlich mit der entsprechenden Evidenz aus der Literatur begründet werden. Dazu gehören auch noch ein Dokument mit den Evidenztabellen und ein Leitlinienreport. Alles zusammen sind dies tatsächlich sehr umfangreiche Unterlagen. Diese Dokumente sind für interessierte Ärzte gedacht, die ausführliche Begründungen und die Literaturquellen wissen wollen. Daneben gibt es aber auch eine Kurzfassung, die man heranziehen kann, wenn vor allem die Empfehlungen und Statements für den praktischen Alltag interessieren. Zusätzlich wurde auch eine Patientenleitlinie erstellt, die speziell auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet ist. Alle Dokumente können auf der Internetseite der AWMF heruntergeladen werden.1
Welche Empfehlungen in der Leitlinie halten Sie für besonders wichtig?
M. Legat: Das betrifft vor allem die Diagnostik bzw. die Aussage darüber, ob die Behandlung an der zu therapierenden Zielstruktur wirken wird. Dies erfolgt mittels Injektion geringer Mengen eines Lokalanästhetikums. Verschwinden die Schmerzen, ist damit die Diagnose gesichert und es kann eine Aussage über die Wirkung der Radiofrequenzdenervation getroffen werden. Wichtig finde ich auch die Informationen zur korrekten Anwendung der Technik bezüglich Nadellage, Temperatur und Zeitdauer. Damit werden gute Ergebnisse wahrscheinlicher gemacht und die Evidenz kann in Zukunft auf ein höheres Niveau gehoben werden.
Die Evidenz für die Effektivität ist moderat bis sehr niedrig. Kann man die Therapie dann wirklich empfehlen?
S. Klessinger: Hier lohnt es sich, genau hinzusehen, da wir die Evidenz für jede einzelne Frage und Empfehlung anhand der Literatur ermittelt haben. Natürlich ist die Evidenz nicht für jedes Thema gleich gut. So gibt es Fragen und Empfehlungen mit sehr niedriger Evidenz, z.B. ob ein lang oder kurzwirksames Lokalanästhetikum beim Testblock verwendet werden kann. Es gibt aber auch welche mit besserer Evidenz, etwa dass ein Medial-Branch-Block als Test zur Diagnose eines Facettengelenkschmerzes geeignet ist. Die Stärke der Empfehlung haben wir in der Leitlinie mit den Buchstaben A, B oder 0 gekennzeichnet. Zusätzlich wurden die Empfehlungen in den beteiligten Fachgesellschaften diskutiert und in einer neutral moderierten Konsensuskonferenz abgestimmt. In manchen Bereichen besteht Forschungsbedarf, um in Zukunft bessere Evidenz zu bekommen. Trotzdem kann unsere Leitlinie viele praxisrelevante Empfehlungen geben und so die Versorgung verbessern.
M. Legat: Man muss hervorheben, dass diese Therapie relativ weit unten im Algorithmus der Behandlung des Facettensyndroms ihren Platz findet. Es sind also vorab schon viele andere Therapien erfolglos gewesen, bevor sich die Überlegung ergibt, eine Radiofrequenzdenervation zu versuchen. Dann hat diese Therapieform insbesondere im Vergleich mit anderen minimalinvasiven und operativen Massnahmen eine sehr gut begründete Empfehlung.
Ist die Methode schwierig zu erlernen?
S. Klessinger: Voraussetzung ist ausgiebige Erfahrung in interventioneller Schmerztherapie. Insbesondere Interventionen an der Halswirbelsäule sollten erfahrenen Anwendern vorbehalten bleiben. Es besteht die Möglichkeit, die Denervation in Hands-on-Kursen, z.B. bei der IGOST, zu lernen.
M. Legat: Ich empfehle dringlich eine Ausbildung in interventioneller Schmerztherapie. Diese kann in der Schweiz bei der SSIPM nach einer einjährigen Fortbildung in einer geeigneten Institution, z.B. im Schmerz Zentrum Zofingen, erworben werden. Danach empfiehlt es sich, die Radiofrequenztherapie noch mehrmals unter Aufsicht eines erfahrenen Kollegen durchzuführen.
Wer ist der «ideale Kandidat» für die Radiofrequenzdenervation?
S. Klessinger: Ein invasives Verfahren ist nicht die erste Therapie bei Patienten mit Rückenschmerzen. Die Radiofrequenzdenervation kommt nur infrage bei chronischen Schmerzen über mehr als drei Monate, wenn die konservative Therapie nicht geholfen hat. Der ideale Kandidat hat typische, chronische Facettengelenks- oder ISG-Schmerzen und ist zweimal positiv mit einer Testblockade getestet worden.
M. Legat: Sicherlich ist dies der Patient mit massiven degenerativen Veränderungen, insbesondere im Bereich der kleinen Wirbelgelenke, mit Kontraindikation für grössere operative Eingriffe. Das können ältere Patienten mit einem erhöhten Operationsrisiko sein oder auch sehr junge Patienten im Adoleszentenalter, die beispielsweise eine Hypertrophie oder andere Veränderungen an den Facettengelenken haben. Entscheidend ist immer die positive Diagnostik mittels einer Injektion von geringen Mengen eines Lokalanästhetikums am betreffenden Branch.
Wem würden Sie von der Radiofrequenzdenervation abraten?
S. Klessinger: Patienten, bei denen die Erfolgsaussichten nicht gut sind, z.B. bei nichtspezifischen Rückenschmerzen. Bei Verdacht auf eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren bedarf es einer interdisziplinären Abklärung vor der Intervention.
M. Legat: Bei negativer Testung am Medial-Branch und wenn andere invasive Massnahmen in der Vorgeschichte keinen wesentlichen Effekt erbracht haben, ist die Aussicht auf Erfolg gering. Die Therapie eignet sich zudem erfahrungsgemäss nur sehr eingeschränkt für Patienten mit schweren psychischen Komorbiditäten, da hier andere Faktoren der Schmerzmodulation im Vordergrund stehen.
Wie ist das Risiko für Komplikationen?
S. Klessinger: Es kann zu einer vorübergehenden Schmerzzunahme und zu Dysästhesien kommen. Schwerwiegende Komplikationen sind sehr selten.
M. Legat: Das Risiko ist insgesamt gering. Hämatome und Phantomschmerzen sind sehr selten. Letztere sind in der Regel auf circa 6 bis 8 Wochen beschränkt. Die Radiofrequenztherapie ist kein Allheilmittel, aber bei der richtigen Indikation eine in meinen Augen sehr effektive Möglichkeit. Wir sollten mit vereinten Kräften versuchen zu erreichen, dass die Grundversicherung die Kosten übernimmt.
Literatur:
1 Klessinger S et al.: www.awmf.org; Reg. Nr. 151-004
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