„Die Palette neuraltherapeutischer Indikationen ist außerordentlich groß“
Unser Gesprächspartner:
Dr. Helmut Liertzer
FA für Orthopädie, Pastpräsident ICMART (International Council of Medical Acupuncture and Related Techniques), Pastpräsident der Österreichischen Medizinischen Gesellschaft für Neuraltherapie und Regulationsforschung (NT Austria)
Das Interview führte
Ulrike Arlt
Anfang Oktober findet in Wien das „Forum International Neural Therapy & Functional Myodiagnosis“ statt. Dr. Helmut Liertzer, Pastpräsident der NT Austria, gibt einen Einblick in das Programm.
Herr Dr. Liertzer, warum ist die Neuraltherapie so wichtig?
H. Liertzer: Durch unglaubliche Fortschritte der Operationstechniken in den letzten Jahrzehnten wurde und wird die Krankenhausaufenthaltszeit minimalisiert. Die Anzahl der Operationen konnte drastisch erhöht werden. Daher erlernt die künftige Fachärztin, der künftige Facharzt primär die Beurteilung operationswürdiger Befunde inklusiver OP-Planung anhand der Bildgebung. Für eine konservative schmerztherapeutische Ausbildung fehlt hingegen die Zeit und auch zunehmend das Interesse. Wenn der Weg nach der fachärztlichen Ausbildung in die Ordination/Praxis führt, fehlen die notwendigen Ausbildungen und „Tools“ für Diagnostik und Therapie. Es werden zwar Infiltrationskurse angeboten, diese vermitteln normalerweise aber nur intraartikuläre Techniken. Die „therapeutische Lokalanästhesie“ (TLA) ergänzt hier mit periartikulären und paravertebralen Möglichkeiten. Meist wird aber dort behandelt, wo der Patient den Schmerz angibt. Die Neuraltherapie geht über die TLA weit hinaus und umfasst nicht nur ganzheitliches Denken, sondern unter anderem auch Erfassen im Sinne von Begreifen und manuell untersuchen.
Bereits im Jahr 1920 hat der Chirurg René Leriche auf die Wichtigkeit der Einflussnahme auf das vegetative Nervensystem über die Ganglien (in seinem Fall das Ganglion stellatum) hingewiesen. Über Muskelketten, Faszienzüge und v.a. das vegetative Nervensystem können die für die angegebenen Schmerzen verantwortlichen Strukturen auch fern von den erlebten und geschilderten Schmerzregionen zu finden sein. Deshalb sollte die Weiterbildung in manueller Medizin sowie Neuraltherapie die orthopädische und traumatologische Ausbildung ergänzen.
Der Ausdruck „Neuraltherapie“ wird zunehmend von „Diagnostik und Therapie mit Lokalanästhetika“ ersetzt. So bringt die Recherche in PubMed mit dem Stichwort „therapeutic use of local anesthetics” wesentlich mehr wissenschaftlich relevante Abstracts als der Suchbegriff „neural therapy“.
Mit welchen Themen befasst sich der kommende Kongress?
H. Liertzer: Unser Kongressthema ist hochaktuell: „Methods to explore and treat unspecific conditions“. Wir haben unter anderem Vorträge zu wichtigen Grundlagen wie Neurophysiologie, Schmerzentstehung und Schmerzgedächtnis. Hervorzuheben sind u.a. folgende Themen: „Neuroinflammation“ (J. Sandkühler), „The unspecific from the view of a physicist“ (I. Gebeshuber), „Loss of balance in functional systems“ (K. Müller), „Science in complementary medicine“ (R. Crevenna), „Stress and trauma in brain, mind and body“ (D. del Monte), „Neuroimmune interactions and therapeutic consequences“ (L. Fischer). Außerdem gibt es eine große Palette an Hands-on-Workshops mit praxisnahen Empfehlungen, die sofort umgesetzt werden können, z.B.: „Ultra-sound focused infiltrations“ (M. Greher), „Craniomandibular dysfunctions – CMD“ (L. Pittschieler, W. Wotke), „How to treat musculoskeletal pain and other conditions“ (D. Vinyes).
Also gehen die Indikationen für Diagnostik und Therapie mit Lokalanästhetika weit über die der orthopädischen Beschwerden hinaus?
H. Liertzer: Die Palette neuraltherapeutischer Indikationen ist außerordentlich groß. Bei vielen akuten und chronischen Krankheiten – vorwiegend funktionellen Störungen – kann die Neuraltherapie als alleinige Maßnahme oder unterstützend zur konventionellen Therapie eingesetzt werden. Ein zusätzlicher therapeutischer Ansatz ergibt sich bei irreversiblen pathomorphologischen Veränderungen, beispielsweise um die Einnahme von höher dosierten Analgetika zu reduzieren und um die Vigilanz, vor allen bei älteren Patienten, zu verbessern.
Gibt es auch Kritiker der Neuraltherapie, die eine mangelnde Evidenz anmahnen? Was würden Sie diesen entgegnen?
H. Liertzer: Wichtiger als die Evidenz ist noch immer die Expertenmeinung. Viele Bereiche der Medizin sind nicht evidenzbasiert. Die Neuraltherapie ist eine individuelle Therapie und daher nur unter bestimmten Voraussetzungen, die individuell zu klären sind, in ein klassisches Studiendesign aufzunehmen. Dennoch gibt es beeindruckende wissenschaftlich publizierte Arbeiten, die ich ergänzend anführen möchte, wie Vinyes D et al., J Clin Med 2023; 12: 7221, oder Engel R et al., Complement Med Res 2022; 29(3): 257-67.
Vielen Dank Herr Dr. Liertzer, wir freuen uns auf den Kongress!
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