<p class="article-intro">Keine Frage – eine Quarantäne ist in Einzelfällen wichtig und richtig. Doch bei der Diskussion um eine Ausgangssperre für die gesamte Bevölkerung wird oft vergessen, was für psychische Folgen Quarantäne haben kann. Ein aktueller Review gibt einen Überblick.</p>
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<p class="article-content"><p>Je mehr sich die Coronavirus-Epidemie ausbreitete, desto mehr wurde unsere Freiheit eingeschränkt. Tausende Menschen wurden in Quarantäne geschickt, Gemeinden, Städte, ganze Gebiete abgeriegelt und in vielen Ländern dürfen die Menschen nur noch mit Auflagen hinaus. Keine Frage: Eine Quarantäne ist im Einzelfall wichtig, um die Ausbreitung der Infektion zu stoppen. Aber wenn kein Mensch mehr ohne triftigen Grund vor die Tür darf, kann das die Psyche enorm belasten. «Wenn Politiker über eine komplette Ausgangssperre diskutieren, kommt dieser Aspekt viel zu kurz», sagt Prof. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz. «Die psychischen Folgen könnten verheerend sein.»</p> <h2>Spuren in der Psyche</h2> <p>Wie sich das äussert, haben kürzlich Wissenschafter vom King’s College in London in einer Übersichtsarbeit beschrieben.<sup>1</sup> Samantha Brooks und ihre Kollegen haben 24 Studien ausgewertet, in denen die psychologischen Auswirkungen verschiedener Virusepidemien in zehn Ländern untersucht worden waren, und zwar von SARS, MERS, Schweinegrippe, Ebola und Pferdegrippe. Liest man sich die Beschreibungen durch, fragt man sich, ob die Politiker wirklich eine so drastische Ausgangssperre verhängt hätten, wenn sie den Review gekannt hätten. Das Fazit: Menschen, die in Quarantäne waren, litten öfter unter psychischen Beschwerden, die bei manchen noch Monate andauerten. Ein paar Beispiele aus den Studien: Von 398 befragten Familien, die isoliert oder in Quarantäne waren, erfüllte jedes dritte Kind und jeder vierte Erwachsene die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung.<sup>2</sup> «Es ist völlig normal, dass ein für uns als furchtbar erlebtes Ereignis Spuren in unserer Psyche hinterlässt», sagt Prof. Birgit Kleim, Trauma-Psychologin an der Universität Zürich und Präsidentin der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie. «Das ist ein Zeichen, dass unser Gehirn versucht, das Erlebte zu verarbeiten.» Nach einem schweren Autounfall oder einer Vergewaltigung haben die Betroffenen danach zum Beispiel ein latentes Angstgefühl, sie können nicht schlafen, sind unruhig und schreckhaft. Zum Glück verschwinden diese Beschwerden meist nach einer Weile von selbst. Im Falle einer posttraumatischen Belastungsstörung treten aber weiterhin Symptome auf, auch wenn das schreckliche Ereignis schon Wochen her ist. Die Betroffenen erleben das Trauma wie in einem Film immer wieder. Die Frau sieht und spürt beispielsweise immer wieder den Vergewaltiger, und der Verunfallte sieht sich immer wieder mit dem Auto gegen die Leitplanke rasen. Die Betroffenen schlafen schlecht, können sich nicht gut konzentrieren, sind leicht reizbar und impulsiv. Manche haben körperliche Symptome wie Herzklopfen, Zittern, Atemnot oder ein Engegefühl in der Brust. Klassisch ist ein Vermeidungsverhalten: Damit man ja nicht noch einmal in diese Situation kommt, geht die Frau abends nicht mehr aus dem Haus und der Mann fährt kein Auto mehr.</p> <h2>Mehr Depressionen</h2> <p>Von 2760 Australiern, die 2007 wegen einer damals grassierenden Pferdegrippe in Quarantäne gesetzt wurden, hatte jeder Dritte deutlich erhöhte Stresswerte, die auf eine psychische Krankheit weisen.<sup>3</sup> In der Normalbevölkerung hat nur jeder Achte so hohe Werte. 338 Mitarbeiter eines Krankenhauses in Taiwan,<sup>4</sup> die wegen SARS in Quarantäne mussten, wurden nach der Rückkehr an ihren Arbeitsort zu ihrem psychischen Befinden befragt. Jeder 20. zeigte Symptome einer akuten Stressreaktion, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Quarantäne zu tun hatte. Jeder Fünfte sagte, er fühle sich stigmatisiert und zurückgewiesen in der Nachbarschaft, weil er im Krankenhaus gearbeitet habe. In einer anderen Studie<sup>5</sup> wurden 549 Angestellte eines Krankenhauses in Peking, die dort während der SARS-Epidemie 2003 gearbeitet hatten, drei Jahre später nach depressiven Symptomen befragt. Von denjenigen mit deutlichen Zeichen für eine Major Depression waren mehr als jeder Zweite in Quarantäne gewesen.<br /> Immer wieder berichteten Menschen nach der Quarantäne über Wutgefühle, Angst, Unruhe, emotionale Erschöpfung, niedergeschlagene Stimmung, Reizbarkeit und Schlafstörungen – alles Zeichen für psychischen Stress. Unter Angst und Wut litten manche Betroffenen noch Monate später. Ausserdem scheint eine Quarantäne das Risiko für Alkohol- oder andere Abhängigkeitskrankheiten zu erhöhen.<sup>6</sup> Viele Betroffene zeigten ein typisches Vermeidungsverhalten. So mied beispielsweise jeder zweite von 1057 Menschen in Kanada,<sup>7</sup> die wegen SARS in Quarantäne gewesen waren, noch Wochen danach Personen, die husteten oder niesten, und mehr als jeder Fünfte ging nicht in überfüllte oder generell in öffentliche Räume. In einer anderen kanadischen Studie<sup>8</sup> berichteten einige Befragte, sie hätten noch monatelang penibel ihre Hände gewaschen und Menschenmengen gemieden.</p> <h2>Psychiatrie als Machtinstrument</h2> <p>Die Ursprünge der Quarantäne finden sich im 14. und 15. Jahrhundert. Damals grassierte die Pest in Europa und die Behörden versuchten alles Erdenkliche, um sich vor der Seuche zu schützen. Man wusste: Die Pest kam mit den Schiffen an. So mussten Reisende und Kaufleute, die nach Venedig, Marseille oder Ragusa kamen, sich dreissig, später vierzig («quaranta ») Tage isoliert in speziellen Lazaretten aufhalten, bevor sie in die Städte einreisen konnten. Dieses Konzept wurde von anderen Ländern und später für andere Krankheiten übernommen, etwa Gelbfieber, Pocken, Cholera oder die Spanische Grippe. Menschen, die Kontakt zu Infizierten hatten oder von einem Ort kamen, wo die Seuche grassierte, wurden in Quarantäne gesteckt. «Quarantäne war immer schon ein Zeichen von Macht und musste oft gegen den Willen der betroffenen Menschen durchgesetzt werden», sagt Prof. Flurin Condrau, Medizinhistoriker an der Universität Zürich. «Einige haben sicherlich unter dieser Macht gelitten, vielleicht sogar unter Gewalt.» Psychiatrie sei ja selbst lange Zeit auch ein Machtinstrument gegen andere gewesen. «Wer in einer Anstalt zwangsversorgt wurde, litt unter ähnlichen Problemen wie Menschen in Quarantäne », sagt Condrau. «Dass wir uns heute um psychische Probleme kümmern können, ist ein Zeichen der Entwicklung in Psychiatrie und Psychologie.»<br /> Welche Personen nach einer Quarantäne eher psychische Probleme bekommen, ist nicht gut untersucht. Das Risiko war in den Studien höher, wenn Betroffene schon vorher eine psychische Krankheit hatten und wenn sie sich nicht genügend informiert fühlten über Sinn und Dauer der Quarantäne. Ein weiterer Stressor waren finanzielle Sorgen: Kanadier, die 2004 wegen SARS in Quarantäne waren und weniger als umgerechnet 25 000 Euro pro Jahr verdienten, litten häufiger unter posttraumatischem Stress und Depressionen.<sup>9</sup> Nicht verwunderlich: Auch eine längere Dauer der Quarantäne wirkte sich negativ auf die Psyche aus.<br /> Die persönliche Einstellung sei essenziell, um mit einer Quarantäne klarzukommen, sagt Psychologin Kleim. «Man kann Betroffene dabei unterstützen, nicht zu katastrophisieren, sondern der Situation etwas Positives abzugewinnen.» Zum Beispiel, dass man jetzt endlich Zeit hat, mal ausführlich Frühjahrsputz zu machen, online Italienisch zu lernen oder einen dicken Roman zu lesen. Helfen kann ein realistischer Optimismus: Dass man jetzt 14 Tage eingesperrt ist, lässt sich nicht ändern und es hilft nichts, sich darüber zu ärgern. Besser ist, sich zu sagen, dass die zwei Wochen schon irgendwie vorbeigehen werden. Teilt man den Tag in kleine Routine-Zeit-Portionen ein für Arbeiten, Essen, Sprache-Lernen, Film-Schauen, Krafttraining, Yoga oder was auch immer, gibt das psychische Stabilität. Man sollte Betroffenen aber auch vermitteln: Es ist völlig normal, dass man manchmal verzweifelt ist und nur noch weinen möchte. «Vielleicht birgt die Quarantäne dann auch die Chance, dass man mit Freunden oder der Familie über seine Gefühle redet», sagt Kleim. «Das kann Beziehungen enorm festigen.»</p> <h2>Online-Sitzungen</h2> <p>Informieren sollte man Menschen in Quarantäne über Warnzeichen: Ist man nicht nur schlecht drauf, sondern fühlt sich richtig niedergeschlagen, schläft schlecht, ist ängstlich und unruhig, könnte das ein Zeichen für eine beginnende psychische Krankheit sein. Eine Anlaufstelle während der Quarantäne könnte die Telefonseelsorge sein, doch wie findet man danach einen Fachmann? «Ich habe Sorge, dass wir mit unseren Kapazitäten an unsere Grenzen kommen», sagt Lieb. «Patienten müssen ja mitunter jetzt schon monatelang auf einen Termin beim Psychologen oder Psychiater warten.» Er und auch Psychologin Kleim setzen vermehrt auf Therapien per Telefon. «Wir kontaktieren aktiv unsere Patienten und schlagen ihnen vor, die Sitzungen vorerst telefonisch oder per Videolink zu machen», sagt sie. «Die Patienten nehmen das gut an.» Schwierig wird es nur, wenn Betroffene noch keinen Kontakt zu einem Psychologen oder Psychiater hatten – vor allem wenn sie psychisch nicht so widerstandsfähig sind. Psychiater Lieb kritisiert schon seit Längerem, dass sich Psychiater im deutschsprachigen Raum zu wenig auf die Prävention psychischer Probleme konzentriert haben. «Es ist viel zu wenig untersucht, wie man resilienter wird», sagt er. Deshalb hat er vor einigen Jahren ein Institut für Resilienz-Forschung mitgegründet, das unter www.lir-mainz. de Informationen bietet, wie man sich in der aktuellen Situation psychisch stabilisieren kann. «Vielleicht sollten wir weniger Geld in monatelange stationäre Aufenthalte investieren als in Angebote, wie man sich in Krisen psychisch gesund halten kann», sagt er. Die jetzige Krise ist nicht nur ein Stresstest für jeden Einzelnen, sondern auch für die Versorgung psychisch kranker Menschen.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Brooks SK et al.: Lancet 2020; 395: 912-20 <strong>2</strong> Sprang G, Silman M: Disaster Med Public Health Prep 2013; 7: 105-10 <strong>3</strong> Taylor MR et al.: BMC Public Health 2008; 8: 347 <strong>4</strong> Bai Y et al.: Psychiatr Serv 2004; 55: 1055-7 <strong>5</strong> Liu X et al.: Compr Psychiatry 2012; 53: 15-23 <strong>6</strong> Wu P et al.: Alcohol Alcohol 2008; 43: 706-12 <strong>7</strong> Reynolds DL et al.: Epidemiol Infect 2008; 136: 997-1007 <strong>8</strong> Robertson E et al.: Can J Psychiatry 2004; 49: 403-7 <strong>9</strong> Hawryluck L et al.: Emerg Infect Dis 2004; 10: 1206-12</p>
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