Die Schlacht der Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren – Tolebrutinib im Ziel?
Autor:
Prim. Ao. Univ.-Prof. Dr.
Johann Sellner, MBA, FAAN, FEAN
Abteilung für Neurologie
Landesklinikum Mistelbach-Gänserndorf
Karl Landsteiner Universität für Gesundheitswissenschaften, Krems
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Der orale liquorgängige Bruton-Tyrosinkinase(BTK)-Inhibitor Tolebrutinib erreichte in der Phase-III-Studie HERCULES den primären Endpunkt. Die Studienergebnisse wurden erstmals beim ECTRIMS 2024 in Kopenhagen vorgestellt, hierbei wurde in der Verumgruppe eine Verlangsamung der Behinderungsprogression gegenüber Placebo bei Teilnehmer:innen mit nichtschubförmiger sekundär progredienter Multipler Sklerose (nrSPMS) bestätigt. Stehen wir somit nun endlich vor der Möglichkeit, auch die fortgeschrittene Multiple Sklerose aufzuhalten?
Akute und chronische Immunprozesse im ZNS
Die Multiple Sklerose (MS) ist sowohl durch akute als auch chronische Entzündungsprozesse im zentralen Nervensystem (ZNS) charakterisiert.1 Die akuten Entzündungsprozesse werden durch pathogene Immunzellen, wie T- und B-Zellen, nach Übertritt aus dem Blut und Transmigration über die Blut-Liquor-Schranke (BLS) vermittelt. Hierdurch entstehen die charakteristischen akut entzündlichen Läsionen, die in der Magnetresonanztomografie (MRT) durch Kontrastmittelanreicherung gekennzeichnet sind und häufig mit dem klinischen Korrelat eines Schubes verbunden sind. Chronische Entzündungsprozesse im ZNS bei an MS-Erkrankten hingegen werden mit der stetig fortschreitenden Behinderungszunahme bei MS in Einklang gebracht und sind vergleichsweise schwerer zu visualisieren. Im wissenschaftlichen Setting wird hierfür eine Positronen-Emissions-Tomografie (PET) mit Tracer für aktivierte Mikroglia eingesetzt. Es wird eine Schlüsselrolle von chronisch aktivierten ZNS-ansässigen Zellen wie Mikroglia und im ZNS eingeschlossenen hämatopoetischen Immunzellen im Sinne einer kompartimentierten ZNS-Entzündung angenommen.
Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren
Die BTK ist eine Nicht-Rezeptor-Tyrosinkinase, die insbesondere in B-Zellen, Mastzellen und Makrophagen exprimiert wird. In T-Zellen, natürlichen Killer(NK)-Zellen und Plasmazellen ist sie dagegen nicht vorhanden. Als grundlegender Bestandteil verschiedener B-Zell-Rezeptoren (BCR) ist die BTK ein entscheidendes Molekül bei der intrazellulären Signalübertragung. In dieser Funktion spielt die BTK nicht nur bei der B-Zell-Entwicklung und -Vermehrung eine wesentliche Rolle, sondern ist auch für das Überleben und die Aktivierung der B-Zellen selbst von zentraler Bedeutung. Neben der Zellreifung und -aktivierung spielt die BTK eine wichtige Rolle für die Antikörperproduktion, Zytokinsekretion sowie für die Aktivierung des Inflammasoms. Darüber hinaus vermittelt die BTK auch die Aktivität von Makrophagen und Mikroglia. BTK-Inhibitoren wirken somit gleichzeitig auf das adaptive und das angeborene Immunsystem.2
BTK-Inhibitoren (BTKI) werden bereits seit vielen Jahren als Therapieoption eingesetzt.3 Im Jahr 2014 wurde Ibrutinib, ein irreversibler BTK-Inhibitor, von der Europäischen Arzneimittelbehörde für das Mantelzelllymphom (MCL) und die chronische lymphatische Leukämie (CLL) zugelassen und später auch für die Waldenström-Makroglobulinämie. Der Erfolg von Ibrutinib und die umfangreichen therapeutischen Möglichkeiten für Krankheiten, bei denen B-Zellen eine pathogenetische Rolle spielen, förderten die Entwicklung neuer und besser verträglicher BTK-Inhibitoren. Auf dieser Basis wurden in den letzten Jahren mehrere große klinische Phase-III-Studien zur Wirksamkeit von BTK-Inhibitoren bei schubförmigen und progredienten Verlaufsformen der MS initiiert.4
Eine innovative Therapiestrategie bei MS?
B-Zellen spielen eine zentrale Rolle bei der Pathogenese der MS, wie auch der Erfolg verschiedener B-Zell-depletierender monoklonaler Antikörper zeigt.5 In den letzten Jahrzehnten hat sich die BTK als mögliches Ziel für B-Zell-vermittelte Erkrankungen herausgestellt. Im MS-Spektrum könnten BTK-Inhibitoren zwei unabhängige Wirkmechanismen besitzen: Die BTK-Hemmung könnte effektiv die Funktionsfähigkeit der B-Zellen beeinflussen und damit aktiv den akuten Entzündungsprozessen entgegenwirken, ohne die B-Zell-Population zu dezimieren. Darüber hinaus könnten BTK-Inhibitoren aufgrund ihrer geringen Größe die BLS überwinden und chronische, kompartimentierte Entzündungsprozesse direkt im ZNS beeinflussen, insbesondere auf im Gehirn ansässige B-Zellen und zusätzlich auch Mikroglia abzielen.
Erstmals Ernüchterung: Evobrutinib und Tolebrutinib scheitern bei der schubförmigen MS
Bereits beim ECTRIMS 2023 in Mailand wurden die Ergebnisse der zwei zulassungsrelevanten Phase-3-Studien EVOLUTION RMS 1 und 2 (Fa. Merck, Darmstadt) vorgestellt. Inzwischen liegt auch die Publikation hierzu vor.6 Die Ergebnisse belegen eine Verfehlung des primären Endpunkts in beiden Studien bei Personen mit schubförmiger MS. Es konnte keine Verringerung der annualisierten Schubraten über einen Zeitraum von bis zu 156 Wochen für den BTK-Inhibitor Evobrutinib (oral, 45mg 2x tgl.) im Vergleich zu oralem Teriflunomid (14mg 1x tgl.) erzielt werden. Insgesamt wurden 2290 Patient:innen mit medianem Alter von 37 Jahren und EDSS von 2,8 eingeschlossen. Auch die wesentlichen sekundären Endpunkte waren negativ, insbesondere ergab sich kein statistisch signifikanter Unterschied bei der Behinderungsprogression. Eine Studie bei progredienten Verlaufsformen wurde mit dieser Substanz nicht durchgeführt.
Diese Ergebnisse der EVOLUTION RMS 1 und 2 (Fa. Merck, Darmstadt) decken sich mit den Resultaten der im September 2024 auf dem ECTRIMS-Kongress in Kopenhagen vorgestellten GEMINI-1- und -2-Studien (Fa. Sanofi, Paris).7 Bei letzteren Studien wurde Tolebrutinib (60mg 1x tgl.) mit Teriflunomid (14mg) bei Patient:innen mit schubförmiger MS verglichen. Insgesamt wurden 1873 Patient:innen eingeschlossen. Das mittlere Alter lag bei 36 Jahren, der mittlere EDSS bei 2,3 bzw. 2,4, womit ein ähnliches Studienkollektiv wie in den EVOLUTION-Studien untersucht wurde. Auch die GEMINI-Studien zeigten in Bezug auf den primären Endpunkt „jährliche Schubrate“ keinen Unterschied zwischen mit Tolebrutinib und Teriflunomid behandelten Patient:innen. Ebenso ergaben sich keine signifikanten Unterschiede in der Rate neuer, Gadolinium-aufnehmender T1-Läsionen und neuer bzw. sich vergrößernder T2-Läsionen in der MRT. Allerdings zeigte sich in einer gepoolten Analyse beider GEMINI-Studien eine signifikante Risikoreduktion für Behinderungsprogression, gemessen an der 6-Monate-bestätigten-Behinderungsprogression (29%ige relative Risikoreduktion). Darüber hinaus hatten signifikant mehr Patient:innen eine Behinderungsverbesserung mit Tolebrutinib.
Tolebrutinib bei nichtrelapsierender sekundär progredienter MS: der Gamechanger?
In der HERCULES-Studie (Fa. Sanofi, Paris), deren Ergebnisse parallel mit den Ergebnissen der o.g. GEMINI-Studien auf dem ECTRIMS 2024 präsentiert wurden, wurde die Wirkung von Tolebrutinib auf die Behinderungsprogression bei nichtrelapsierender sekundär progredienter MS (nrSPMS) untersucht.8 Es wurden Patient:innen mit SPMS und bestätigter Behinderungsprogression in den letzten 12 Monaten, jedoch Abwesenheit von klinischen Schüben in den letzten 24 Monaten eingeschlossen.
Insgesamt wurden 1131 Patienten randomisiert (754 Tolebrutinib, 377 Placebo). Das mittlere Alter lag bei 49 Jahren, der mittlere EDSS bei 5,5, die MS bestand im Mittel seit 17,3 Jahren und der letzte klinische Schub war im Mittel vor 7,5 Jahren aufgetreten. Der primäre Endpunkt der Studie, die Zeit bis zur 6-Monate-bestätigten-Behinderungsprogression, wurde erreicht (37,2% Placebo vs. 26,9% Tolebrutinib, 31% relative Risikoreduktion, NNT=9,7). Sekundäre Endpunkte, wie die 3-Monate-bestätigte-Behinderungsprogression (24% Risikoreduktion) und die Zeit bis zur bestätigten 6-Monate-Behinderungsverbesserung (NNT=20), waren positiv, ebenso sekundäre Bildgebungsendpunkte wie neue bzw. sich vergrößernde T2-Läsionen, dies allerdings im Vergleich zu Placebo. Es wurde kein signifikanter Unterschied hinsichtlich MRT-Atrophieparametern dokumentiert, die Abnahme des Gesamtgehirnvolumens unterschied sich nicht zwischen Tolebrutinib und Placebo.
Sicherheit der BTKI – ein zulassungsrelevanter Aspekt
Entscheidend für die Akzeptanz eines BTKI bei den Zulassungsbehörden in der Indikation MS wird die Nutzen-Risiko-Abwägung sein. Die Phase-III-Studienprogramme der BTKI mussten vorübergehend aufgrund von Lebertoxizität gestoppt werden. Etwa jeder 20. Patient unter Tolebrutinib wies eine Erhöhung der Transaminasen auf, bei 0,5% der Patient:innen wurde ein Anstieg über das 20-Fache dokumentiert. Im Studiensetting war ein relevanter Anstieg der Leberenzyme ausschließlich in den ersten Behandlungsmonaten zu beobachten. Die Leberwertveränderungen waren bei Aus- oder Absetzen des Präparates reversibel. Es war allerdings ein Todesfall unter Tolebrutinib nach Lebertransplantation bei einem mit Tolebrutinib behandelten Patienten zu beklagen. Als Folge wurde ein rigides Transaminasen-Monitoring in den ersten Monaten nach Beginn des Studienmedikamentes eingeführt. In der HERCULES-Studie zeigte sich eine leichtgradig erhöhte Rate von Nebenwirkungen und schweren Nebenwirkungen in Tolebrutinib- gegenüber Placebo-behandelten Patient:innen, insbesondere für respiratorische Infektionen. In den GEMINI-Studien fanden sich keine relevanten Unterschiede im Sicherheitsprofil zwischen Tolebrutinib und Teriflunomid.
Ausblick
Die HERCULES-Studiendaten sind wegweisend und stützen das Konzept, dass durch Behandlung mit einem BTKI eine klinische Behinderungsprogression gebremst werden kann. Es dürfte sich um jene Behinderungsprogression handeln, die nicht wesentlich durch messbare entzündliche Schubaktivität getrieben ist. Tolebrutinib könnte somit eine therapeutische Lücke füllen, zumal für die Behandlung der nichtfokalen klinischen Progression im Sinne der nrSPMS bislang keine Therapieoptionen zur Verfügung standen. Erwähnt sei, dass Siponimod für die aktive SPMS und Ocrelizumab für die primär progrediente MS zugelassen sind. Viele Punkte sind allerdings auch für Tolebrutinib offen, diese könnten durch Subgruppenanalysen und Veröffentlichung der Originalarbeit beantwortet werden. Insbesondere besteht die Frage, ob der Effekt auf die Behinderungsprogression überwiegend bei denjenigen Patient:innen aufgetreten ist, die noch Entzündungsaktivität, also Gadolinium-aufnehmende oder neue MRT-Läsionen, hatten, was bei 13% der Patient:innen bei Baseline der Fall war. Von Interesse ist auch die PERSEUS-Studie, in der Tolebrutinib bei der PPMS untersucht wird und deren Ergebnisse frühestens im Jahr 2025 erwartet werden können. Diese werden weiter verdeutlichen, bei welchen Stadien der Progredienz das Wirkprinzip die besten Effekte zeigt. Zu beachten ist auch, dass Tolebrutinib bei schubförmiger MS mit einem Effekt auf die Behinderungsprogression wie in der Studie für nrSPMS aufwarten konnte. Dies stützt die Hypothese, dass klinische Schübe als Indikator für akute Inflammation und die diffuse, nichtfokale Neuroinflammation bei MS zwei unterschiedliche biologische Prozesse sind. Auch werden die diskordanten Effekte auf die Gehirnatrophie einer genaueren Analyse unterzogen werden.
Derzeit ist der zukünftige Anwendungsbereich von Tolebrutinib und der weiteren in Entwicklung befindlichen BTKI Fenebrutinib (Fa. Roche, Basel) und Remibrutinib (Fa. Novartis, Basel), vorbehaltlich positiver Studien für die beiden letztgenannten Substanzen, noch ungeklärt. Fenebrutinib wird neben der schubförmigen MS auch bei der primär progredienten MS in Studien getestet. Es scheint somit zeitnahe durch gezielten und sequenzierten Einsatz von BTKI ein neues Therapieszenario in greifbare Nähe zu rücken.
Literatur:
1 Bierhansl L et al.: Thinking outside the box: non-canonical targets in multiple sclerosis. Nat Rev Drug Discov 2022; 21(8): 578-600 2 Steinmaurer A et al.: Bruton’s tyrosine kinase inhibition in the treatment of preclinical models and multiple sclerosis. Curr Pharm Des 2022; 28(6): 437-44 3 Cool A et al.: BTK inhibitors: past, present, and future. Trends Pharmacol Sci 2024; 45(8): 691-707 4 Saberi D et al.: Bruton’s tyrosine kinase as a promising therapeutic target for multiple sclerosis. Expert Opin Ther Targets 2023; 27(4-5): 347-59 5 Findling O, Sellner J: Second-generation immunotherapeutics in multiple sclerosis: can we discard their precursors? Drug Discov Today 2021; 26(2): 416-28 6 Montalban X et al.: Safety and efficacy of evobrutinib in relapsing multiple sclerosis (evolutionRMS1 and evolutionRMS2): two multicentre, randomised, double-blind, active-controlled, phase 3 trials. Lancet Neurol 2024; 23(11): 1119-32 7 Oh J et al.: ECTRIMS 2024; O135/4026 8 Fox RJ et al.: ECTRIMS 2024; O136/4027
Das könnte Sie auch interessieren:
Real-World-Daten: CGRP-Antikörper in der Langzeitprophylaxe bei Migräne
Antikörper gegen «calcitonin gene-related peptide» (CGRP) oder seinen Rezeptor haben die Migräneprophylaxe auf ein neues Niveau gehoben. Wir geben hier einen Überblick über die Datenlage ...
Sprache im Fokus der Diagnostik der Alzheimerdemenz
Gängige neuropsychologische Tests erfassen in der Alzheimerdiagnostik die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten der Betroffenen nur unzureichend. Insbesondere komplexe sprachliche ...
Resilienz und kognitive Reserve
Bereits 1998 wurde in einer Studie festgehalten, dass eine Verzögerung des Ausbruchs von Demenz um nur fünf Jahre einen Rückgang der Demenzprävalenz von 50% bewirken könnte.1 Die ...