
Kommentar von Prof. Dr. med. Tobias Derfuss
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Autor:
Prof. Dr. med. T. Derfuss
Neurologische Klinik und Poliklinik,<br> Universitätsspital Basel
30
Min. Lesezeit
24.05.2018
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<p class="article-intro">Bei der Behandlung der Multiplen Sklerose gab es in den letzten Jahren deutliche Fortschritte. Besonders für die schubförmige Verlaufsform konnten viele neue und sehr effektive Therapien etabliert werden. Im letzten Jahr konnte auch die erste Therapie für die primär progrediente MS zugelassen werden. Diese Therapien eröffnen Patienten und behandelnden Neurologen neue Möglichkeiten, die entzündliche Komponente der Erkrankung langfristig zu kontrollieren. Erste Analysen aus Patientenregistern zeigen bereits, dass diese Kontrolle der entzündlichen Aktivität mit einer reduzierten Behinderungsprogression und einem verminderten Übergang in die sekundär progrediente Verlaufsform einhergeht.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Mit diesen neuen Therapien kam es aber auch zu neuen und teilweise schweren Nebenwirkungen, die den Einsatz der Medikamente teilweise einschränken. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der monoklonale Antikörper Daclizumab (Zinbryta<sup>®</sup>), der aufgrund autoimmuner Nebenwirkungen im Bereich der Haut, der Leber, des Darms und des Gehirns vom Markt genommen wurde. Es ist deshalb essenziell, bei der Wahl einer Therapie eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Analyse für den individuellen Patienten durchzuführen und einem klar definierten Risk-Management- Plan zu folgen, der den verschiedenen Therapien angepasst ist. Neben diesen medizinischen Faktoren sind aufgrund der hohen Kosten der MS-Therapien aber auch gesundheitsökonomische Aspekte zu beachten. Der europäische Raum ist sehr heterogen hinsichtlich der verschiedenen Gesundheitssysteme in den unterschiedlichen Ländern. Auch wenn es mit der EMA und der Swissmedic in Europa nur zwei gibt, ist die Umsetzung der Medikamentenzulassung in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Hauptsächlich getrieben durch ökonomische Aspekte haben Patienten in vielen europäischen Ländern nicht den Zugang zu MS-Medikamenten, wie er in den Zulassungsrichtlinien festgelegt wurde. Nationale Gesundheitsbehörden haben zusätzliche Hürden sowohl für den Beginn als auch für die Fortsetzung von Therapien festgelegt, die weder evidenzbasiert sind noch allgemeiner medizinischer Praxis entsprechen. <br />Bisher fehlte eine gemeinsame europäische Richtlinie für den Einsatz von MSTherapien, die nationalen Patientenvereinigungen und Neurologenverbänden die Basis für eine Argumentation mit den Gesundheitsbehörden liefert. Die beiden europäischen Vereinigungen ECTRIMS und EAN haben es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, eine solche allgemein gültige und evidenzbasierte Richtlinie zu erstellen. ECTRIMS (European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis) ist eine europäische Vereinigung, die den weltweit grössten wissenschaftlichen Kongress zur MS veranstaltet, daneben aber auch Weiterbildungen für Neurologen und Forscher auf dem Gebiet der MS organisiert und Stipendien für Neurologen und Forscher vergibt. Die EAN (European Academy of Neurology) ist die europäische Vereinigung von Neurologen, die alle Spezialdisziplinen der Neurologie vertritt. Ein Panel von 27 europäischen Experten, die gemeinsam von ECTRIMS und EAN ausgewählt wurden, und auch Vertreter der MS International Federation (MSIF) und der europäischen Patientenvereinigung European Multiple Sclerosis Platform (EMSP) kamen im Rahmen des ECTRIMS-Kongresses zusammen, um diese Richtlinie zu erstellen. <br />Eine umfangreiche Literaturrecherche hat, basierend auf dem GRADE-System, die verschiedenen Empfehlungen der Richtlinie anhand ihrer wissenschaftlichen Evidenz gewichtet. Basierend auf 10 praxisrelevanten Fragen wurden 20 Empfehlungen mit unterschiedlichen Graden an Evidenz abgegeben. Die Fragen behandeln die Themenkomplexe früher Beginn der Behandlung im Stadium des klinisch isolierten Syndroms, Behandlung von Patienten mit schubförmiger und progredienter MS, Therapiestrategien bei inadäquatem Therapieansprechen sowie Therapieumstellungen und Therapievorschläge für besondere Situationen wie z.B. Schwangerschaft. Auch wenn nicht für alle Empfehlungen – aufgrund fehlender Studien – ein hoher Evidenzgrad erreicht wurde, spiegelt die Richtlinie doch aufgrund des Konsensus von vielen europäischen MS-Zentren den aktuellen Therapiestandard wider, der Grundlage der MSBehandlung in allen europäischen Ländern sein sollte. <br />Mit dieser Richtlinie ist die Hoffnung verbunden, dass Neurologen MS-Patienten eine optimale Therapie anbieten, die an die individuellen Patientencharakteristika angepasst ist und in Abhängigkeit von möglichen Nebenwirkungen und vom Therapieansprechen konsequent optimiert wird. Dafür ist es notwendig, dass Patienten sowohl klinisch als auch mit MRI und Blutuntersuchungen adäquat monitoriert werden. Zudem sollte diese Therapierichtlinie dabei helfen, Patienten in allen Regionen Europas den Zugang zu den zugelassenen Therapien zu erleichtern. Nur dadurch kann gewährleistet werden, dass Patienten von dem medizinischen Fortschritt auf dem Gebiet der MS auch wirklich profitieren.</p> <p>Lesen sie auch: <a href="1000000215">Umfangreiche Richtlinie für MS-Therapie veröffentlicht</a></p></p>
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