
Menschen mit Demenz: Was beeinflusst deren Überleben nach Diagnosestellung?
Autor:
Burak Doganyigit, MMSc
Department Psychiatrie, Psychotherapie Psychosomatik und Medizinische Psychologie
Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck
Medizinische Universität Innsbruck
Verschiedenste Faktoren beeinflussen die Überlebenszeit nach einer Demenzdiagnose. Das Wissen um Risikofaktoren zum Zeitpunkt der Diagnose einer Demenzerkrankung oder in deren Verlauf kann dazu genutzt werden, um die postdiagnostische Versorgung von Menschen mit Demenz zu optimieren.
Keypoints
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Eine höhere Anzahl jährlicher stationärer Aufnahmen wegen somatischer und psychiatrischer Erkrankungen im Verlauf einer Demenzerkrankung geht mit einem höheren Risiko für eine niedrigere Lebenserwartung einher.
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BPSD sind neben Delir die häufigste Ursache für stationäre Aufnahmen aus psychiatrischen Gründen.
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Menschen mit Demenz aus ländlichen Regionen haben ein 1,4-mal höheres Risiko für ein kürzeres Überleben als jene aus der Stadt.
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Menschen aus ländlichen Regionen haben eine kürzere Überlebenszeit nach einer Demenzdiagnose – eine geringere gerontopsychiatrische Versorgung könnte der Grund hierfür sein.
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Eine frühe Diagnose und Behandlung der Demenz und ihrer Komorbiditäten sind essenziell für die Verbesserung der Versorgung und der Lebensqualität von Menschen mit Demenz.
Schätzungsweise leben in Österreich derzeit rund 147000 Menschen mit Demenz (MmD), wobei laut dem österreichischen Demenzbericht 2014 ein Anstieg auf 262000 Menschen bis 2050 zu erwarten ist. Innerhalb der Demenzen ist die Alzheimerdemenz mit einem Anteil von 60–75% die häufigste Form mit derzeit etwa 93000 Betroffenen in Österreich und einem prognostizierten Anstieg auf 183000 bis 2050.1
Eine Demenzerkrankung stellt eine psychosoziale Belastung für die Patient:innen und deren Angehörige dar und bringt außerdem hohe Anforderungen für unser Gesundheitssystem mit sich. Schätzungsweise beliefen sich medizinische Kosten aufgrund von demenzassoziierten somatischen Folgeerkrankungen (z.B. Stürze, Dekubitus) im Jahr 2019 auf ca. 1,4 Milliarden Euro.2
Dabei wäre es möglich, bis zu 40% der Demenzerkrankungen zu vermeiden oder zu verzögern, wenn Risikofaktoren wie z.B. Bluthochdruck, Diabetes mellitus oder Rauchen reduziert werden würden.3 Auch bei bestehender Demenzerkrankung gibt es Risikofaktoren, die den Verlauf ungünstig beeinflussen können. So verringern demenzassoziierte Verhaltenssymptome („behavioral and psychological symptoms of dementia“, BPSD), zerebrovaskuläre Erkrankungen oder ein geringeres kognitives Ausgangsniveau zum Zeitpunkt der Diagnosestellung einer Alzheimerdemenz die Überlebenszeit.4 Besonders konsistent zeigt sich eine kürzere Überlebenszeit bei der Alzheimerdemenz bei männlichen Patienten und bei Patient:innen im höheren Lebensalter.5
Ein Blick zurück: Ergebnisse aus der Gedächtnissprechstunde in Innsbruck
Zur Identifikation von Faktoren, die die Überlebenszeit nach der Diagnosestellung einer Demenz beeinflussen, wurden retrospektiv Daten von Patient:innen untersucht, die zur Demenzabklärung (Baseline-Zeitpunkt) zwischen 2006 und 2011 an der Gedächtnissprechstunde der Psychiatrie Innsbruck vorstellig waren (Gesamtpopulation, n=518). 168 Patient:innen (Studienpopulation) erhielten eine Demenzdiagnose bei dieser Erstuntersuchung, die eine neuropsychologische Untersuchung, eine klinische Anamnese, eine Bildgebung (CCT oder cMRT) sowie ein Routinelabor umfasste. Ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung wurden „patient journeys“ anhand von verfügbaren Krankengeschichten der ELGA und des regionalen klinischen Informationssystems (KIS) ausgewertet. Die Überlebensdauer wurde über eine Abfrage des österreichischen Sterberegisters erhoben. Dabei wurden vor allem Verlaufsdaten zu Interaktionen zwischen dem Versorgungsystem und Patient:innen (z.B. stationäre Behandlungen) bis zu deren Ableben erfasst.
Frauen leben auch mit Demenz länger
67% der Patient:innen in der Studienpopulation waren Frauen; das Durchschnittsalter bei der Erstdiagnose betrug 77,5 Jahre. Die Alzheimerdemenz machte 95% der vergebenen Demenzdiagnosen aus. Zum Zeitpunkt der Sterberegisterabfrage (1.5.2024) waren 156 Patient:innen nach einer durchschnittlichen Überlebenszeit von 6 Jahren verstorben. Frauen und Männer unterschieden sich nicht bezüglich Bildung, Baseline-MMSE und Alter bei Diagnosestellung. Eine Überlebenszeitanalyse (Kaplan-Meier-Kurve) nach Geschlecht (Abb. 1) macht den signifikanten Unterschied im Überleben – wie in der Literatur beschrieben – zwischen Männern und Frauen nach einer Demenzdiagnose deutlich: So haben Männer eine mediane Überlebenszeit von 62 und Frauen eine von 78,5 Monaten nach Diagnosestellung. Die verschiedenen Überlebenskurven streben besonders 5 bis 7 Jahre nach Diagnosestellung auseinander, bevor sie sich wieder annähern.
Abb. 1: Die Überlebenskurven nach Kaplan-Meier zeigen deutlich eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit im Verlauf einer Demenzerkrankung bei Männern im Vergleich zu Frauen
Risikofaktoren bei und nach Demenzdiagnose
In einem weiteren Schritt konnten Risikofaktoren für eine kürzere Überlebenszeit nach einer Demenzdiagnose mittels einer Cox-Regression in einem gemeinsamen Modell zusammengefasst werden. So kann beispielsweise dem Modell entnommen werden, dass Patient:innen, die zu Baseline am Land wohnen (n=83), ein signifikant höheres Risiko für ein kürzeres Überleben haben (HR: 1,4) als jene aus der Stadt (n=85). Ein weiteres Stadt-Land-Gefälle zeigt ein Mann-Whitney-U-Test bei der Anzahl von Psychopharmaka, die vor der Demenzdiagnose bereits verschrieben waren und die bei Patient:innen aus der Stadt signifikant höher ausfällt: z = –2,03, p=0,043. Patient:innen mit Suchterkrankung (Benzodiazepine oder Alkohol) als Vorerkrankung (n=14) zum Zeitpunkt der Diagnosestellung haben ein signifikant höheres Risiko für ein kürzeres Überleben (HR: 1,88). Die Anzahl an jährlichen stationären Aufnahmen (Mittelwert = 0,7/Jahr) aufgrund somatischer Erkrankungen (HR: 1,81) und vor allem die Anzahl jährlicher Aufnahmen aus psychiatrischen Gründen (Mittelwert = 0,1/Jahr) (HR: 3,43) im Verlauf der Demenzerkrankung erwiesen sich im Modell zusätzlich als signifikante Risikofaktoren. Auch bereits etablierte Risikofaktoren, wie ein geringeres kognitives Niveau, gemessen mit dem MMSE (HR: 1,1), und ein höheres Alter (HR: 1,1) zu Baseline, konnten in dieser Untersuchung repliziert werden.
Fazit für die Versorgung
Aus diesen Ergebnissen lassen sich einige Erkenntnisse für die Versorgung von MmD gewinnen. So zeigen die erhobenen Daten einen Unterschied in der Überlebenszeit nach Diagnosestellung zwischen am Land und in der Stadt lebenden MmD. Ursächlich könnte eine unzureichende gerontopsychiatrische Versorgung in ländlichen Regionen sein. Hinweisend darauf zeigten unsere Ergebnisse eine weniger häufige psychopharmakologische Therapie bei MmD aus ländlichen Regionen. Obwohl eine Therapie mit Antipsychotika bei MmD die Sterblichkeit erhöht, könnte doch auch eine fehlende suffiziente Behandlung von BPSD einen negativen Einfluss haben. Die BPSD sind nämlich – neben dem Delir – die häufigste Ursache für stationäre Aufnahmen wegen psychiatrischer Krankheiten, die in unserer Untersuchung ihrerseits das größte Risiko für ein kürzeres Überleben im Verlauf einer Demenzerkrankung bergen – noch vor stationären Aufnahmen wegen somatischer Krankheiten und Suchtvorerkrankungen. Allgemein gesehen könnten durch eine frühere Diagnose und Behandlung der Demenz und ihrer Komorbiditäten oben genannte Risikofaktoren reduziert werden. Dadurch könnte auch die Anzahl an notwendigen stationären Aufnahmen sinken, wodurch unser Versorgungssystem entlastet und die Lebensqualität von MmD verbessert werden könnte.
Literatur:
1 Wancata JT, Fellinger M: 2011 Aktualisierte Prognosen Demenzerkrankter in Europa. Demenzbericht Österreich 2014 2 Czypionka T et al.: Volkswirtschaftliche Kosten von Demenz in Österreich. 2021: IHS-Report Nov 2021: 1-89 3 Livingston G et al.: Dementia prevention, intervention, and care: 2024 Report of the Lancet Standing Commission. Lancet 2024; 404(10452): 572-628 4 Zheng X et al.: Predictors for survival in patients with Alzheimer’s disease: A large comprehensive meta-analysis. Translational Psychiatry 2024; 14(1): 184 5 Todd S et al.: Survival in dementia and predictors of mortality: a review. Int J Geriatr Psychiatry 2013; 28(11): 1109-24
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