
Multiple Sklerose, Geschlecht, Hormone und Schwangerschaft
Männer und Frauen unterscheiden sich sowohl im Hinblick auf ihre Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an multipler Sklerose als auch hinsichtlich der MS-Aktivität und Prognose. Ausschlaggebend dürften hormonelle Faktoren und möglicherweise Schwangerschaften sein. Eine aktuelle Studie untersuchte Risikofaktoren für Schübe während der Schwangerschaft.
Beim Geschlechterverhältnis der MS-Erkrankungen fällt ein Paradoxon auf, so Dr. Sandra Vukusic vom Universitätsspital Lyon: Frauen erkranken häufiger als Männer, haben im Falle einer Erkrankung jedoch eine bessere Prognose. Eine naheliegende Erklärung liegt in den Geschlechtshormonen. Dies lege nicht zuletzt der Verlauf einer MS während der Schwangerschaft – mit einer deutlichen Reduktion der Schubaktivität, gefolgt von häufigen Schüben nach der Entbindung – nahe.1 Gänzlich verstanden werden die Zusammenhänge zwischen MS und Geschlecht allerdings noch nicht.
So zeigen epidemiologische Daten eine Verschiebung des Geschlechterverhältnisses.2 War das Risiko, eine MS zu entwickeln, vor 80 Jahren für Frauen rund doppelt so hoch wie für Männer, so liegt das Geschlechterverhältnis aktuell bereits bei 3:1.
Und dieses gehäufte Auftreten bei Frauen betrifft ausschließlich die schubförmige MS (RRMS) und nicht die meist später im Leben auftretende primär progrediente MS (PPMS). Beides sei mittlerweile in zahlreichen Kohorten und Ländern gezeigt worden, so Vukusic. Die Risiken von Jungen und Mädchen beginnen ab der Zeit der Menarche und möglicherweise sogar schon etwas früher voneinander abzuweichen.
Angesichts divergierender Ergebnisse unterschiedlicher Studien ist die Frage, ob eine späte Menarche das MS-Risiko erhöht, in Diskussion. Eine 2019 publizierte Metaanalyse gelangte zu dem Ergebnis, dass bei späterer Menarche das MS-Risiko mit jedem Jahr um 12% abnimmt.3
MS-Risiko von Frauen steigt im Vergleich zu dem von Männern
Wie es zu diesem Auseinanderdriften der Risiken kommt, wird intensiv diskutiert. Eine Hypothese besagt, dass es sich um ein Artefakt aufgrund besserer diagnostischer Möglichkeiten handle, doch dies sei unwahrscheinlich, so Vukusic, da diese diagnostischen Instrumente für Männer und Frauen die gleichen sind. Auch genetische Faktoren können in dieser relativ kurzen Beobachtungszeit keine große Rolle spielen. Bleibt die Umwelt. Und tatsächlich gibt es einige Umweltfaktoren, die heute auch für Frauen relevanter sind als vor 80 Jahren. Das beginnt mit dem Rauchen, das im frühen 20. Jahrhundert unter Frauen weniger verbreitet war als heute. Weitere Möglichkeiten sind die früher einsetzende Pubertät und die immer späteren Schwangerschaften sowie Übergewicht und geänderte Ernährungsgewohnheiten.
Was den Einfluss oraler Kontrazeptiva angeht, liegen inkongruente Studienergebnisse vor. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2018 identifizierte fünf Studien zu dieser Fragestellung, von denen vier keinen Einfluss oraler Kontrazeptiva auf das MS-Risiko zeigten, während die fünfte eine Risikoerhöhung bei Frauen, die orale Kontrazeptiva einnahmen, fand.4
Divergierende Studiendaten liegen auch zum Einfluss oraler Kontrazeptiva bei bereits bestehender MS vor. In einer kleinen Phase-III-Studie konnte eine Reduktion der Krankheitsaktivität durch die Einnahme dieser Hormonpräparate gezeigt werden5, während epidemiologische Studien keinen Einfluss der Pille auf die annualisierte Schubrate fanden.6
Assistierte Reproduktion hat sich in mehreren Studien als Risikofaktor für Schübe erwiesen. Mittlerweile brachten jedoch auch mehrere Arbeiten Licht in die Zusammenhänge. Das Schubrisiko steigt nämlich nur, wenn es nicht zu einer Schwangerschaft kommt und wenn im Rahmen der Stimulation GnRH-Agonisten eingesetzt werden. Wird ein IVF-Protokoll mit GnRH-Antagonisten eingesetzt, so bleibt der Effekt auf das Schubrisiko aus.7
Da die Diagnose einer MS häufig bei jungen Frauen gestellt wird, stellt sich für viele Betroffene die Frage nach einer verantwortungsvollen Familienplanung. Dies betrifft einerseits den zu erwartenden Anstieg der Schubaktivität post partum, aber auch die Frage nach der Kompatibilität von krankheitsmodifizierender Therapie und Kinderwunsch. Generell ist die Auswirkung von Schwangerschaften auf die langfristige Prognose der MS nicht geklärt. Die Ergebnisse mancher Studien legen einen günstigen Effekt nahe8, während andere keinen Einfluss von Schwangerschaften auf die MS zeigen.9 Die günstigen Daten seien allerdings mit Vorsicht zu interpretieren, so Vukusic, da Patientinnen mit einem aggressiven Krankheitsverlauf und rascher Behinderungsprogression eher dazu tendieren, auf den Kinderwunsch zu verzichten. Es liege hier also ein klassisches Beispiel von „indication bias“ vor.
Weitgehend ungeklärt ist die Frage, wie sich bestimmte Therapien auf das Schubrisiko während oder nach der Schwangerschaft auswirken, so Dr. Wei Zhen Yeh von der Monash University in Taiwan. Diese Frage werde mit der in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Zahl an krankheitsmodifizierenden Therapien (DMT) immer wichtiger. Studiendaten sind rar. Yeh verweist auf eine kleine Zahl an Studien, deren Follow-up zumindest Spekulationen zu dieser Frage zulässt. Diese Daten weisen in Richtung eines erhöhten Schubrisikos während der Schwangerschaft bei Frauen, die zuvor Fingolimod oder Natalizumab erhalten hatten. Als Ursache wird die lange Auswaschphase vor der Konzeption vermutet.10
Eine aktuelle Studie untersuchte die Auswirkungen bestimmter Therapien auf das Schubrisiko während oder nach einer Schwangerschaft
DMT und Schubrisiko während der Schwangerschaft
Yeh betont allerdings, dass die verfügbare Evidenz sehr viele Fragen offenlässt. Seine Gruppe versuchte daher, die Krankheitsaktivität in einer Schwangerschaftskohorte, gruppiert nach Klasse der vor der Konzeption verwendeten DMT, zu beschreiben und Prädiktoren für einen Schub während der Schwangerschaft zu definieren.
Dazu wurden Daten aus dem MSBase-Register verwendet. Eingeschlossen wurden Schwangerschaften der Jahre 2011 bis 2019, die DMT wurden nach niedriger, moderater oder hoher Aktivität klassifiziert. Dabei fielen Interferon, Glatirameracetat, Teriflunomid und Azathioprin in die Gruppe mit der niedrigen Aktivität, Fingolimod, Dimethylfumarat und Daclizumab wurden als moderat aktiv eingestuft. Die Gruppe der hoch aktiven DMT bildeten Natalizumab, Alemtuzumab, Rituximab und Mitoxantron. Die annualisierten Schubraten wurden für jedes Trimester dieser Schwangerschaften sowie für die 12 Monate vor und nach der Schwangerschaft berechnet.
Die eingeschlossenen Patientinnen mussten vor der Schwangerschaft eine RRMS- oder CIS-Diagnose haben und es musste im Jahr vor sowie im Jahr nach der Schwangerschaft zumindest eine Kontrolle stattgefunden haben. Eingeschlossen wurden letztlich 1640 Schwangerschaften von 1452 Frauen. Davon hatten im Jahr vor der Schwangerschaft 346 keine DMT, 845 DMT mit niedriger Aktivität, 207 DMT mit moderater und 242 DMT mit hoher Aktivität erhalten. Die verbreitetsten DMT in ihren jeweiligen Klassen waren Interferon beta (n=597), Fingolimod (n=147) und Natalizumab (n=219). Eine Konzeption mit einem EDSS ≥2 war häufiger bei Frauen, die DMT mit hoher Aktivität erhielten (hoch: 41,3%; moderat: 28,5%; niedrig: 22,4%; keines: 20,2%). Auch die Schubraten während der Schwangerschaft waren mit der DMT-Gruppe assoziiert. Bei Patientinnen, die keine oder eine wenig aktive DMT erhielten, ging die ARR während der Schwangerschaft zurück. Wurden DMT mit moderater Wirksamkeit eingenommen, so stieg die Schubrate im ersten Trimester an, ging dann jedoch zurück und erreichte im dritten Trimester ihren Nadir. Im Gegensatz dazu stieg die Schubrate bei den Patientinnen, die mit DMT mit hoher Wirksamkeit behandelt worden waren, kontinuierlich an. Stärker sowie moderat wirksame DMT waren auch assoziiert mit einer höheren Schubrate in der frühen postpartalen Periode. Neben der Verwendung hochaktiver DMT vor der Konzeption wurde auch eine hohe annualisierte Schubrate vor der Konzeption als Risikofaktor für Schübe während der Schwangerschaft identifiziert. Auf der anderen Seite erwies sich die Fortsetzung einer hochwirksamen Therapie in der Schwangerschaft als protektiv gegenüber Schubaktivität (OR: 0,80 [95% CI: 0,68–0,94]). Als weiterer protektiver Faktor wurde ein Alter von mindestens 35 Jahren bei Konzeption identifiziert. Die Autoren schließen aus diesen Daten, dass besonders bei Frauen, die mit DMT mit hoher Aktivität behandelt werden, eine sorgfältige Schwangerschaftsplanung erforderlich ist. Die Anwendung lang wirksamer, hochaktiver DMT vor der Konzeption oder die Fortführung von Natalizumab in der Schwangerschaft könnten Schübe während der Schwangerschaft verhindern.11
Bericht: Reno Barth
Quelle:
Wissenschaftliche Sitzung PS12 „Sex-related factors in pathogenesis and management“, ACTRIMS/ECTRIMS-Kongress am 10. September 2020
Literatur:
1 Confavreux C et al.: Rate of pregnancy-related relapse in multiple sclerosis. Pregnancy in Multiple Sclerosis Group. N Engl J Med 1998; 339(5): 285-91 2 Orton SM et al.: Sex ratio of multiple sclerosis in Canada: a longitudinal study. Lancet Neurol 2006; 5(11): 932-6 3 Azimi A et al.: Age at menarche and risk of multiple sclerosis (MS): a systematic review and meta-analysis. BMC Neurol 2019; 19(1): 286 4 Yong HY et al.: Drug exposure and the risk of multiple sclerosis: a systematic review. Pharmacoepidemiol Drug Saf 2018; 27(2): 133-9 5 Pozzilli C et al.: Oral contraceptives combined with interferon β in multiple sclerosis. Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2015; 2(4): e120 6 Bove R et al.: Oral contraceptives and MS disease activity in a contemporary real-world cohort. Mult Scler 2018; 24(2): 227-30 7 Michel L et al.: Increased risk of multiple sclerosis relapse after in vitro fertilisation. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2012; 83(8): 796-802 8 Dʼhooghe MB et al.: Long-term effects of childbirth in MS. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2010; 81(1): 38-41 9 Zuluaga MI et al.: Menarche, pregnancies, and breastfeeding do not modify long-term prognosis in multiple sclerosis. Neurology 2019; 92(13): e1507-16 10 Alroughani R et al.: Relapse occurrence in women with multiple sclerosis during pregnancy in the new treatment era. Neurology 2018; 90(10): e840-6 11 Pregnancy in a modern day multiple sclerosis cohort: predictors of relapse during pregnancy. ACTRIMS/ECTRIMS 2020, Abstract PS12.04
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