
©
Getty Images/iStockphoto
Nachts aktiv, tagsüber müde
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Felicitas Witte
30
Min. Lesezeit
04.05.2017
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Ältere Menschen leiden häufiger als jüngere unter Schlafstörungen. Vor der Therapie muss man abklären, ob es sich wirklich um «echte» Schlafstörungen handelt. Wir haben Experten gefragt, warum es im Alter zu einer veränderten Schlafarchitektur kommt, warum diese besonders bei Menschen mit Demenz so ausgeprägt sein kann und wie man die Schlafprobleme am besten behandelt.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Das Geschlurfe nervt. Die alte Dame in der Wohnung über einem findet wieder mal keine Ruhe. Hin und her geht es, in die Küche, ins Bad, die Spülung läuft, dann fällt ihr ein Buch herunter – an Schlaf kann man selbst auch kaum noch denken. Präsenile Bettflucht, so sagt man oft, weil ältere Menschen offenbar weniger Schlaf brauchen. «Mit zunehmendem Alter nimmt das Schlafbedürfnis tatsächlich ab, aber nicht so dramatisch, wie der Begriff Bettflucht suggeriert», sagt jedoch Prof. Dr. med. Christian Baumann, Leitender Arzt und Abteilungsleiter des Schlaflabors in der Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich. «Eine Schlafdauer von sieben Stunden ist mit sechzig bis siebzig Jahren durchaus normal.» Die individuelle Schlafdauer sei nicht nur im jungen Alter von Mensch zu Mensch unterschiedlich, sondern auch im Alter, bestätigt PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Hemmeter, Leiter des Fachbereichs Geronto­psychiatrie an den Kantonalen Psychiatrischen Diensten in St. Gallen, Sektor Nord. Manche ältere Menschen kämen mit fünf Stunden Schlaf aus, andere brauchten acht oder gar neun. «Aber etwas am Begriff Bettflucht stimmt schon», sagt Baumann, «Ältere leiden häufiger als Jüngere unter Schlafstörungen.» 57 % der Älteren, so zeigte die US-amerikanische EPESE-Studie, haben mindestens eine chronische Schlafstörung.<sup>1</sup> Die Gründe sind vielfältig: Ältere leiden häufiger unter chronischen Schmerzen, die sie nicht einschlafen oder nachts aufwachen lassen, zum Beispiel wegen diabetischer Neuropathie, Tumoren oder chronischen Arthritiden.<sup>2–4</sup> Auch diverse internistische Krankheiten können bei älteren Menschen häufiger zu Schlafstörungen führen, wie chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen, Schlafapnoe-Syndrom, Asthma, Angina pectoris oder Herzinsuffizienz. «Hinzu kommt die Polymedikation älterer Menschen, die oftmals mit Schlafstörungen einhergeht», sagt Prof. Dr. med. Robert Perneczky, Leiter der Sektion Gerontopsychiatrie und des Alzheimer-Gedächtniszentrums an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Viele neurologische und psychiatrische Krankheiten des älteren Menschen können auch den Schlaf stören, etwa Parkinson, Depressionen, Demenz oder Zustände nach einem Schlaganfall.</p> <h2>Kürzerer REM-Schlaf</h2> <p>Bevor man aber die Diagnose Schlafstörung stellt, muss man abklären, ob der Betroffene wirklich eine Schlafstörung hat. «Häufig haben ältere Menschen das Gefühl, sie würden zu wenig oder nicht so gut schlafen», sagt Prof. Dr. med. Peter Young, Direktor der Klinik für Schlafmedizin und Neuromuskuläre Erkrankungen an der Universität Münster. «Zu einem gewissen Masse ist das aber normal, denn die Schlafarchitektur verändert sich mit dem Alter.» Ältere brauchen länger, um einzuschlafen, schlafen etwas kürzer und werden öfter nachts wach. Die Tiefschlafphasen und der REM-Schlaf sind kürzer und die Non-REM-Phasen länger. Ältere würden zudem oft früher zu Bett gehen als in jüngerem Lebensalter, erzählt Hemmeter, und würden dann dementsprechend früh aufwachen. «Ist jemand früher um 23 Uhr ins Bett gegangen, war er um 6 Uhr ausgeschlafen. Geht er jetzt schon um 21 Uhr schlafen, wacht er um 3 Uhr auf – das reicht ihm an Schlaf. Diese Menschen benötigen keine Einschlafmittel, sondern brauchen nur ihre Schlaf-wach-Zeiten umzustellen.»</p> <h2>Die Nacht zum Tage machen</h2> <p>Ein besonderes Problem ist die veränderte Schlafarchitektur bei Menschen mit Demenz: Bei ihnen kann sich der Schlaf-wach-Rhythmus komplett umkehren. «Sie sind nachts total aktiv, laufen herum oder räumen im Zimmer herum», erzählt Hemmeter. «Und am Tag sind sie müde, ziehen sich zurück und schlafen.» Das liege unter anderem daran, dass durch die Demenz auch Nervenzellen im Nucleus suprachiasmaticus zugrunde gehen, dem Bereich, der für die innere Uhr zuständig ist. Typisch für die Demenzpatienten sei auch das «Sundowning», erzählt Perneczky. «Die Betroffenen werden vor allem gegen Abend unruhig und verhaltensauffällig.» Sie wandern nachts im Haus umher, was mit einem höheren Risiko für Stürze verbunden ist, und stören den Schlaf der Angehörigen. Hinzu kommt, dass manche Menschen mit Demenz das Ausmass ihrer Schlafstörung bagatellisieren. «Sie erinnern sich nicht, dass sie schlecht schlafen oder nachts unruhig und agitiert sind», sagt Hemmeter. «Das kann Angehörige und Betreuer sehr belasten und bis zum Burnout gehen. Sie brauchen daher ebenfalls Unterstützung und Coaching.»</p> <p>Der Leidensdruck sei für viele Menschen mit Schlafstörungen gross, vor allem auch weil sich einige Kollegen damit nicht richtig auskennen, sagt Young. «Es ist wichtig, sorgfältig nach der Ursache zu suchen. Wir können zwar die Schlafstörung nicht ‹wegmachen›, aber in den meisten Fällen die Situation für den Betroffenen enorm verbessern.» 20 % der älteren Erwachsenen nahmen gemäss einer Umfrage der National Sleep Foundation in den USA<sup>5</sup> zumindest einige Tage in der Woche Schlafmittel, 11 % der Medikamente waren verschreibungspflichtig. 6 % der Befragten konsumierten Alkohol als Einschlafhilfe. «Bevor man Medikamente verschreibt, muss man die Ursache suchen und zu behandeln versuchen, etwa die richtigen Medikamente gegen eine Depression oder gegen das Restless-Legs-Syndrom», sagt Young. «Und vor allem den Betroffenen über das physiologische Schlafverhalten im Alter aufklären und schlafhygienische Massnahmen erklären» (Tab. 1). Man sollte dem Betroffenen vorschlagen, den Tag-Nacht-Rhythmus gut zu strukturieren: Dreimal am Tag, am besten zur gleichen Zeit, essen, sich morgens und am Nachmittag körperlich bewegen, tagsüber mental stimulieren, etwa mit Gesellschaftsspielen, abends nicht zu früh ins Bett gehen und gegebenenfalls eine Lichttherapie am Abend ansetzen, um den Tag zu verlängern.</p> <p> <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1702_Weblinks_s15.jpg" alt="" width="1418" height="784" /></p> <h2>Schlafmittel: niedrig dosiert, maximal 4 Wochen</h2> <p>Klassische Schlafmittel wie Benzodiazepine oder Benzodiazepinanaloga sind nur für einen kurzzeitigen Einsatz indiziert, also maximal vier Wochen. «Sie wirken zwar gut, haben aber ein hohes Abhängigkeitspotential und die Wirkung lässt wegen des Gewöhnungseffektes rasch nach», erklärt Hemmeter. Ist eine längerfristige medikamentöse Therapie notwendig, können schlafanstossende Antidepressiva und Antipsychotika eingesetzt werden. «Man muss aber immer Nutzen und Risiko abwägen.» So könne es sich zum Beispiel bei manchen Demenzpatienten durchaus lohnen, Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen, wenn sie dadurch besser schlafen und noch zu Hause betreut werden können. Trimipramin, Amitriptylin und Doxepin verursachen typischerweise starke anticholinerge Nebenwirkungen, während Trazodon und Mirtazapin weniger anticholinerg wirken. Letztere unterdrücken den REM-Schlaf im Gegensatz zu Amitriptylin und Doxepin kaum oder gar nicht, sodass man ein physiologisches Schlaf-EEG-Muster mit der natürlichen Abfolge von Non-REM/REM-Phasen erreichen kann. Gute klinische Erfahrungen werden auch mit atypischen Neuroleptika mit hypnotischer Wirkung wie Risperdal, Olanzapin oder Quetiapin gemacht, doch auch hier kann es zu therapielimitierenden Nebenwirkungen kommen. Manche Patienten profitieren von Melatonin-agonistisch wirksamen Substanzen wie Agomelatin und retardiertem Melatonin, wobei es hierzu noch nicht so viele Daten gibt. Bei Schlafstörungen und Schmerzen können Antikonvulsiva wie Pregabalin oder Gabapentin helfen. «Für alle Mittel gilt: Man sollte sie möglichst niedrig dosieren und nur so lange wie nötig geben», rät Pernecky, «das heisst, man muss regelmässig prüfen, ob sie noch indiziert sind.» Bei leichteren Schlafstörungen können pflanzliche Präparate eingesetzt werden, obwohl es hierzu nur wenige evidenzbasierte Daten gibt. Am besten untersucht sind Melisse, Hopfen, Passionsblume und Baldrian. «Lehnt ein Patient klassische Medikamente ab oder verträgt sie nicht, kann man das durchaus versuchen», so Hemmeter. «Man muss aber wissen, dass der hypnotische Effekt geringer ist.» Auch bei älteren Menschen könnten Schlafstörungen ganz gut behandelt werden, sagt der Psychiater. «Man braucht aber Geduld und muss sich mehr Zeit nehmen als bei Jüngeren.»</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>1 Foley DJ et al: Sleep 1995; 18: 425-32 2 O’Donnell JF: Clin Cornerstone 2004; 6(Suppl 1D): S6-14 3 Stiefel F, Stagno D: CNS Drugs 2004; 18(5): 285-96 4 Theobald DE: Clin Cornerstone 2004; 6(Suppl 1D): S15-21 5 National Sleep Foundation. 2003 Sleep in America Poll. March 10, 2003 download unter: https://sleepfoundation.org/sleep-polls-data/sleep-in-america-poll/2003-sleep-and-aging. Letzter Aufruf 24.2.2017 6 S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM): Somnologie 2009; 13: 4-160</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Alzheimer: Was gibt es Neues in der Biomarker-Entwicklung?
Schätzungen zufolge leben in Österreich 115000 bis 130000 Menschen mit einer Form der Demenz. Eine Zahl, die sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln wird.1 Antikörper-Wirkstoffe könnten in der ...
Kappa-FLC zur Prognoseabschätzung
Der Kappa-freie-Leichtketten-Index korreliert nicht nur mit der kurzfristigen Krankheitsaktivität bei Multipler Sklerose, sodass er auch als Marker zur Langzeitprognose der ...
Fachperson für neurophysiologische Diagnostik – Zukunftsperspektiven eines (noch) unterschätzten Berufes
Die Aufgaben der Fachperson für neurophysiologische Diagnostik (FND) haben sich in den letzten Jahren verändert. Dies geht zum einen mit den erweiterten Diagnostikmöglichkeiten und zum ...