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Neurologische Operationsindikation an der Wirbelsäule und Messmöglichkeiten zur Prognosestellung
Leading Opinions
Autor:
PD Dr. med. Martin Schubert
Facharzt für Neurologie, Universitätsklinik Balgrist<br> Zentrum für Paraplegie, Zürich<br> E-Mail: martin.schubert@balgrist.ch
30
Min. Lesezeit
23.11.2017
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<p class="article-intro">Die klinisch-neurologische und neurophysiologische Untersuchung ist bei der diagnostischen und prognostischen Einschätzung von Wirbelsäulenerkrankungen in vielen Fällen hilfreich. Moderne elektrophysiologische Methoden erlauben im Zusammenhang mit der Bildgebung mittels MRI und Ultraschall eine funktionelle Testung, die über die anatomische Darstellung weit hinausgeht und eine anatomisch-lokalisatorische Zuordnung sowie die Klärung der Pathogenese unterstützt. Die neurologische Mitbeurteilung kann insofern wesentliche Aspekte zur Therapieentscheidung und Prognosestellung beitragen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Neurophysiologische Untersuchungen unterstützen die Evaluation einer Operationsindikation durch Objektivierung und Quantifizierung von neurologischen Defiziten.</li> <li>Sie zeigen eine gestörte Nervenfunktion direkt und mit neurologisch- topischem Bezug an.</li> <li>Neue Entwicklungen modalitätsspezifischer evozierter Potenziale erhöhen die Sensitivität und sind der klinischen Untersuchung teilweise überlegen.</li> </ul> </div> <p>Die klinisch-neurologische und neurophysiologische Untersuchung bei Wirbelsäulenerkrankungen hat entscheidende Bedeutung für das präoperative Assessment und in der Indikationsstellung zur chirurgischen Intervention. Zur Planung der Operation müssen orthopädische, neurologische und radiologische Befunde gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Eine Übereinstimmung von Befunden der drei Fachgebiete ist nicht immer gegeben. Neben konservativ nicht beherrschbaren Schmerzen sind neurologische Ausfälle durch Nerven- oder Rückenmarkskompression ein unabhängiger und somit entscheidender Faktor für die Indikationsstellung. Eine Quantifizierung neurologischer Defizite ist sowohl für die operative Planung des Zugangs und die Lokalisation als auch im Fall erforderlicher Prognoseabschätzung bei bereits entstandenen Nervenschäden relevant. Die dafür verfügbaren Methoden und ihre Wertigkeit werden im folgenden Artikel diskutiert. Die Diskussion der Vorgehensweise erfolgt anhand der häufigsten Krankheitsbilder.</p> <p>Die Anzahl der durchgeführten Wirbelsäulenoperationen steigt und damit verbunden das Risiko für Komplikationen am Nervensystem, namentlich Nervenwurzeloder Caudaschäden, seltener Rückenmarksverletzungen in Form der Myelopathie. Dabei ist neben der Besserung von Schmerzen die Vermeidung progredienter Nervenschäden das Ziel einer Dekompression bei zervikaler Myelopathie. Nicht selten bestehen Defizite bereits seit längerer Zeit und von früheren Schäden oder Eingriffen. Unter diesem Aspekt sind die Operationsindikation und das Abwägen des operativen Risikos gegen die Einschätzung des spontanen Verlaufs nicht trivial. Es müssen neurologische Ausfälle objektiv dokumentiert, quantifiziert sowie zeitlich und anatomisch zugeordnet werden.</p> <p>Die klinisch-neurologische Untersuchung im Hinblick auf traumatische und kompressive Nervenschäden kann verbessert werden durch den Einsatz etablierter neurophysiologischer Methoden und bildgebender Methoden (MRI), die für die jeweilige Lokalisation der vermuteten Schädigung unterschiedlich sensitiv und hilfreich sind.<sup>1–3</sup> Die invasive Elektromyografie (EMG) und Neurografie sind spezifische Untersuchungsmethoden zur Diagnostik des peripheren Nervensystems. Evozierte Potenziale sind in der Regel für die Diagnostik sowohl im peripheren wie auch im zentralen Nervenystem hilfreich. Für die neurophysiologische Untersuchung muss vorausgeschickt werden, dass eine Schädigung zwar neuroanatomisch und bedingt auch hinsichtlich des Alters der Schädigung zugeordnet werden kann, eine ätiologische Zuordnung ist allerdings nicht möglich. Das bedeutet, dass Anamnese, klinische Untersuchung und Bildgebung mitentscheidend sind, um eine ätiologische Zuordnung zu treffen. Die neurophysiologischen Untersuchungen stellen eine unterstützende, keine alternative diagnostische Methode dar. Ihr Schwerpunkt liegt in der Objektivierung und Quantifizierung pathologischer Befunde. Im Unterschied zur Bildgebung besteht ihr Vorzug darin, ein unmittelbares Korrelat gestörter Nervenfunktionen zu geben.</p> <h2>Indikationsstellung zur Operation</h2> <p><strong>Lumbale Diskushernie und klinisch-neurologische Zeichen</strong><br /> Die Indikation zur operativen Dekompression besteht im Falle von signifikanten neurologischen Defiziten auf der betroffenen segmentalen Höhe. In der Regel findet sich der Conus des Rückenmarks auf Höhe der knöchernen Segmente Th12 bis L2. Eine Nervenschädigung bei lumbalen Diskushernien manifestiert sich daher in Form von radikulären Kompressionssyndromen und betrifft somit in der Regel ausschliesslich das periphere Nervensystem, meist auf Höhe der Wurzelsegmente L4, L5 und S1. Uni- oder bilaterale monosegmentale Defizite überwiegen in Form von sensorischen oder sensomotorischen, selten auch rein motorischen radikulären Syndromen. Klinisches Korrelat sind ins Segment ausstrahlender Schmerz, segmentaler Reflexausfall, sensibles Defizit für alle Qualitäten und motorischer Ausfall in Form einer Parese der Kennmuskulatur sowie anderer segmental innervierter Muskulatur.<br /> Für die klinische Untersuchung ist die typische Verteilung von Paresen wegweisend. So kann beispielsweise die Unterscheidung der N.-peroneus-Parese von einer L5-Radikulopathie aufgrund einer Parese des M. glutaeus medius rein klinisch erfolgen. Wegen der überlappenden mehrsegmentalen Innervation der meisten Beinmuskeln ist eine Plegie bei monosegmentalem Schaden nicht zu erwarten, auch wenn eine schwere oder komplette radikuläre Schädigung vorliegt. Bei der sensiblen Untersuchung ist die Testung der Algesie sensitiver als die der Ästhesie, da die dermatomale Innervation der Algesie anatomisch weniger überlappt.<br /> Bei grossen Vorfällen kann es zu mehrsegmentalen Ausfällen bis zum teilweisen oder kompletten Caudasyndrom kommen. Die Caudaschädigung zeigt sich als sensorischer Ausfall im Reithosenareal. Sie muss in der klinischen Untersuchung gezielt durch vergleichende perianale Testung gesucht werden. Eine gezielte Prüfung der Algesie perianal sowie die Testung der Sphinkterfunktion in Form von Willkürmotorik und Analreflex sind daher obligatorisch. Ferner finden sich in unterschiedlicher Ausprägung motorische Paresen der lumbosakral innervierten Muskulatur bilateral symmetrisch oder asymmetrisch, gelegentlich nur in Form von Paresen der Fusssenker oder Zehenbeuger. In der Regel besteht eine Blasen- und Mastdarmstörung, typischerweise als Überlaufinkontinenz mit der Gefahr der Blasenüberdehnung. Bei Massenvorfällen zwischen BWK12 und LWK1 ist eine zusätzliche zentrale neurologische Symptomatik im Sinne einer Conuskompression möglich. In diesem Fall ist neben schlaffen motorischen Paresen, Blasen- und Mastdarmstörung und Reithosenanästhesie auch eine Steigerung der Achillessehnenreflexe möglich (sogenanntes Epiconus- Syndrom). Eine reine Conus-medullaris- Schädigung imponiert ausschliesslich durch Reithosenanästhesie und Blasen- und Mastdarmstörung.</p> <p><em>Neurophysiologische Zeichen bei lumbaler Diskushernie mit monoradikulärer Läsion</em><br /> Die neurophysiologische Methode der Wahl zur Unterstützung der klinisch-neurologischen Untersuchung von radikulären Syndromen ist das EMG mit konzentrischer Nadelelektrode. Es handelt sich um eine semiquantitative Methode zur Erfassung typischer elektrischer Zeichen der Denervierung in der segmental betroffenen Muskulatur. Im Bereich der Nadelspitze wird je Insertionsstelle im Einzugsbereich weniger Kubikmillimeter die elektrische Aktivität der Muskulatur aufgezeichnet. Der Vorteil der Methode liegt in ihrer eindeutigen Signifikanz für das Vorliegen von akuten Denervierungszeichen, sogenannten positiven scharfen Wellen oder Fibrillationspotenzialen, welche im nicht neurogen geschädigten Muskel nicht vorkommen. Diese zeigen somit eindeutig eine Nervenschädigung an, auch wenn eine Parese gering erscheint. Somit kann zwischen einer neurapraktischen und einer axonalen Schädigung unterschieden werden. Ein Nachteil der Methode sind die eingeschränkte Quantifizierbarkeit und die Abhängigkeit des Untersuchungsergebnisses von der Zahl der untersuchten Stellen und der zufälligen Lage der EMG-Nadelspitze. Ein weiteres Problem ist, dass akute motorische Schäden nicht unmittelbar zu Denervierungszeichen im Nadel-EMG führen. Aufgrund des langsamen Fortschreitens der Waller’schen Degeneration entlang des Axons kann es wegen der Länge der Motoaxone der Beinnerven bis zu 3 Wochen dauern, bis eine akute Wurzelschädigung zur Degeneration der distalen Axonabschnitte und zur konsekutiven Veränderung der distalen motorischen Einheit an Endplatte und Muskelmembran führt. Ein frühes Zeichen schwerer axonaler Kompromittierung im EMG ist aus den genannten Gründen gegebenenfalls nur die fehlende willkürliche Aktivierbarkeit des Muskels. Im Verlauf von Wochen zeigen sich Muskelatrophie und Denervierungszeichen im EMG entsprechend der Schwere der axonalen Schädigung. Im subakuten Stadium der Denervation erfolgt die semiquantitative Bewertung der Schwere des Befundes als Angabe von betroffenen Insertionen (Nadelpositionen) bezogen auf mindestens 10 Insertionen je untersuchten Muskelabschnitt. Bedingt kann die Methode zwischen alten und frischeren neurogenen Schäden im Muskel unterscheiden. Insofern ist sie geeignet, axonale Schädigungszeichen zeitlich und anatomisch zuzuordnen. In der Regel erholen und reduzieren sich Parese und Denervierungszeichen nach Wurzeldekompression. Allerdings können Denervierungszeichen in Einzelfällen lange über die Dekompression hinaus fortbestehen.</p> <p><em>Neurophysiologische Zeichen bei lumbaler Diskushernie und polyradikulärer Läsion (Caudaund Conusschädigung)</em><br /> Die neurophysiologische Methode der Wahl zur Unterstützung der neurologischen Untersuchung von polyradikulären Syndromen und Caudaschädigungen sind neben dem EMG die motorische Neurografie und somatosensibel evozierte Potenziale (sSEP) mittels Stimulation der Nervi tibialis und pudendus.<br /> Bei der motorischen Neurografie erfolgen die Reizung des gemischten Nervs an verschiedenen Stellen seines peripheren Verlaufes und eine Ableitung über standardisierte Zielmuskeln. Im Falle der Nervus- tibialis-Stimulation erfolgt die Ableitung über den M. abductor hallucis mittels Vermessung seiner Amplitude und Latenzen je Stimulationsort. Die motorische Antwort in Form eines «compound motor action potential» (cMAP) gibt mit ihrer Amplitude quantitativ Aufschluss über die Anzahl erregbarer motorischer Einheiten. Wegen der mehrsegmentalen Innervation der Zielmuskeln ist aber bei Schädigung einer einzelnen motorischen Wurzel nicht sicher ein Defizit zu erwarten. Polyradikuläre Schäden oder Caudaschäden hingegen können bedingt so detektiert und quantifiziert werden. Ein axonaler Schaden zeigt sich in Form einer proportionalen Abnahme der Amplitude des cMAP. Hierbei sind der Seitenvergleich oder der Vergleich mit anderen Beinmuskeln entscheidend.<br /> Bei der motorischen Neurografie erscheint als sehr kleines Spätpotenzial in der Ableitung die sogenannte F-Welle als Ausdruck antidromer Propagation und Reflexion des elektrischen Reizes im Vorderhorn, deren Erscheinen, Latenz und stochastische Häufigkeit Aufschluss über die motorische Nervenleitung im proximalen, rückenmarksnahen Abschnitt des Motoaxons gibt. Die F-Welle wurde nach ihrer Erstbeschreibung an der Fussmuskulatur benannt. Die Analyse der F-Wellen ist wertvoll, da sich der proximale Nervenabschnitt im Bereich der Wurzel oder Cauda der direkten neurografischen Untersuchung entzieht. Die Reduktion der F-Wellen- Erregbarkeit oder ihr Ausfall können bereits früh das Auftreten einer Caudaschädigung anzeigen, wenn das EMG oder das cMAP der motorischen Neurografie wegen der noch nicht abgeschlossenen Waller’schen Degeneration noch keine Veränderung zeigen.<br /> Mittels sSEP erfolgt eine Untersuchung der gesamten Afferenz vom Stimulationsort in der Peripherie bis zum sensorischen Cortex. Die Ableitung erfolgt als Summation der auf den peripheren Reiz folgenden synchronisierten elektrischen Hirnstromaktivität an der Skalpoberfläche. Durch eine simultane Ableitung über dem peripheren Nerv und dem Rückenmark an standardisierten Ableiteorten ist eine anatomische Lokalisation der Verzögerung oder des Ausfalls der Potenziale möglich. Eine differenzierte Lokalisationsdiagnostik ist auch durch den Vergleich verschiedener stimulierter Nerven möglich. So ist im Fall einer Conusschädigung lediglich ein pathologisches N.-pudendus-sSEP bei erhaltenem N.-tibialis-sSEP zu erwarten. Das N.-pudendus-sSEP ist insofern eine wichtige Diagnostik bei Verdacht auf Cauda- und Conusschädigung und unterscheidet Conus- von Caudaschäden.</p> <p><strong>Lumbale Spinalkanalstenosen</strong><br /> Da es in der Regel zu einer funktionell bedingten Kompression nervaler Strukturen kommt, finden sich neurologische Ausfälle oder klinische irreversible Zeichen von Nervenschädigung bei lumbalen Spinalkanalstenosen selten. Diese manifestieren sich in Form von funktionell exazerbierenden, ausstrahlenden, parästhetischen Schmerzen, muskulärer Schwäche und vorzeitiger Ermüdung der Beinmuskulatur mit typischer Belastungsabhängigkeit. Typisch ist die Zunahme der Beschwerden bei reklinierenden Bewegungen der LWS. Dieser Zusammenhang muss aber nicht zwingend vorhanden sein. Die klassische Anamnese der Claudicatio spinalis kann in ihrer Ausprägung stark variieren. Eine Seitenbetonung mit ischialgiformer Ausstrahlung im Sinne einer Manifestation als Wurzel-Claudicatio bei zusätzlichen foraminalen Stenosen ist möglich.</p> <p><em>Neurophysiologische Befunde bei lumbaler Spinalkanalstenose</em><br /> Trotz klinischer Zeichen einer polyradikulären Irritation sind axonale Schäden im EMG aus den genannten Gründen in der Regel kaum zu finden. Eine Ausnahme bilden zusätzlich assoziierte foraminale Stenosen (Wurzel-Claudicatio) mit lange bestehender Nervenkompression. Bei Ableitung motorischer Neurografien können ein Ausfall oder eine Verzögerung der F-Wellen imponieren. Bei Ableitung der N.-tibialis-stimulierten sSEP fällt ggf. eine deutliche Laufzeitverlängerung auf, die mit einer durch die Kompression bedingten lumbalen Demyelinisierung der Caudafasern erklärt werden kann. Analog zur Afferenzverzögerung kann bei Ableitung der motorisch evozierten Potenziale mittels transkranieller Magnetstimulation auch eine Efferenzverzögerung gefunden werden. Diese ist durch methodische Analyse mittels fraktionierter Messungen (Stimulation kortikal und lumbal, Subtraktion der lumbalen Laufzeiten von denen nach kortikaler Stimulation) lumbal zu lokalisieren.<sup>4</sup></p> <p><strong>Zervikale Spinalkanalstenosen</strong><br /> Die entscheidende Frage bei zervikaler Spinalkanalstenose ist die nach einer Myelopathie. In diesem Falle sind die neurologischen Ausfälle und klinischen Zeichen die einer diskreten spastischen Tetraparese. Es zeigen sich Tonussteigerung sowie Koordinations- und Feinmotorikstörung der Beine, seltener auch der Arme. Im Bereich der Arme und Hände sind durch die kompressionsbedingte Schädigung der grauen Substanz auf Höhe des stenotischen Segments schlaff-atrophe Paresen zu finden. Auch zusätzliche radikuläre Schäden können auf Höhe der Stenose vorliegen. In den darunter liegenden Segmenten imponieren Reflexsteigerung und diskrete Zeichen der Spastizität. Sensibel imponiert oft eine diskrete, segmental begrenzte Störung der Algesie und der Ästhesie. Lokale Schmerzen auf Höhe des betreffenden Segmentes und eine darunter beginnende dissoziierte Störung von Schmerz- und Temperaturwahrnehmung können die einzigen Zeichen sein.<sup>2</sup> Veränderungen und Störungen der Miktionsgewohnheit können bestehen und werden oft nicht spontan berichtet. Die klinische Symptomatik kann sehr gering ausgeprägt sein und nur in Form schleichend zunehmender ausstrahlender parästhetischer Schmerzen an Armen und Beinen bestehen. Auch hierbei finden sich mitunter muskuläre Schwäche und vorzeitige Ermüdung der Beinmuskulatur, aber auch funktionelle Einschränkungen in Form von Stolperstürzen bei Gangunsicherheit und Ataxie.</p> <p><em>Neurophysiologische Befunde bei zervikaler Spinalkanalstenose</em><br /> Zeichen motorisch axonaler Schäden finden sich im EMG bei hochgradiger Stenose aufgrund einer direkten Schädigung spinaler Motoneurone durch Kompression im Bereich der grauen Substanz. Diese sind von eventuell zusätzlich bestehenden radikulären Schäden durch Symmetrie des Befunds und eine zusätzliche Funktionsstörung im Bereich der spinothalamischen Afferenz, klinisch manifest durch Beeinträchtigung der Schmerz- und Temperaturwahrnehmung, zu unterscheiden. Das elektrophysiologische Korrelat dieser Störung lässt sich mittels spezieller Stimulationstechnik und SEP-Untersuchungen darstellen: Kontakthitze-evozierte Potenziale («contact heat evoked potentials», CHEP) führen zu spezifischer Erregung dieses Bahnensystems und können mittels kortikaler SEP-Ableitung bei spezifisch langer Latenz erfasst werden.<sup>5–7</sup><br /> Wegweisend für die zervikale Myelopathie ist auch der unmittelbar benachbarte segmentale Befund von atropher und spastischer Parese. Eine elektrophysiologische Untersuchung der zervikalen Myelopathie umfasst daher in der Regel eine systematische Testung aller spinalen Bahnensysteme mittels MEP und SEP und eine neurografische Untersuchung einschliesslich F-Wellen-Testung.<sup>8</sup> Ein EMG kann zusätzlich hilfreich sein (Abb. 1).<br /> Wegen der klinisch oft geringen Symptomatik<sup>9</sup> hat die Ableitung evozierter Potenziale bei Verdacht auf eine zervikale Myelopathie einen besonderen Stellenwert. Bei radiologischen Befunden einer zervikalen Spinalkanalstenose ohne klinisch eindeutiges Korrelat ist der Nachweis segmentaler axonaler Schäden oder spinaler Leitungsverzögerung anhand neurophysiologischer Messungen als Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für Progredienz und die nachfolgende klinische Symptomatik einer Myelopathie zu werten.<sup>10, 11</sup> Die chronische Kompression der aufund absteigenden Tractus im Bereich der weissen Substanz führt zu lokaler Demyelinisierung und bedingt Verzögerungen der sSEP bei Stimulation sensibler Nerven an der oberen und unteren Extremität. Mithilfe fraktionierter Ableitung auf verschiedenen Höhen kann dabei die Höhe der Stenose lokalisiert werden. Eine genauere somatotopische Lokalisation gelingt durch dermatomale Stimulation der sSEP. Eine Verzögerung der Potenziale zeigt sich ab dem Segment kranial des obersten betroffenen spinalen Segments.<sup>12, 13</sup><br /> Eine durch Demyelinisierung bedingte Laufzeitverlängerung findet sich bei schweren Befunden auch für die Ableitung der motorisch evozierten Potenziale mithilfe der transkraniellen Magnetstimulation. Auch hier zeigen sich typisch verzögerte Potenziale. Verzögert ist spezifisch die zentralmotorische Laufzeit, welche durch Subtraktion der peripheren Laufzeiten anhand der F-Wellen-Latenzen berechnet werden kann.<sup>4</sup> Dies kann an der oberen und unteren Extremität für unterschiedliche Myotome erfolgen und dient ebenfalls der Höhenlokalisation. Als besonders sensitiv für die Erfassung auch sehr geringer spinaler Schädigungen im Bereich des anterioren zervikalen Rückenmarks haben sich CHEP erwiesen, deren spinale Weiterleitung nach Kreuzung in der anterioren Kommissur ein bis zwei Segmente oberhalb der Eintrittszone im spinothalamischen Trakt erfolgt (Abb. 2).<sup>6</sup></p> <h2>Prognose bei Nervenverletzungen</h2> <p><strong>Periphere Nervenverletzungen</strong><br /> Verletzungen mit peripherem Nerventrauma betreffen vorwiegend jüngere Patienten. Entscheidend für die Prognose sind Schweregrad und Lokalisation.<sup>3</sup> Eine Erholung ist nur bei inkompletter Nervenoder Wurzelschädigung zu erwarten. Wichtigstes Kriterium sind klinische und elektromyografische Kontinuitätsnachweise. Die Prognose ist ferner abhängig von der Lokalisation und folgt generell der Regel, dass die Erholungschancen bei distaler gelegenem Schaden besser sind als bei proximalen. Wurzelavulsionen haben trotz Fortschritten in den chirurgischen Möglichkeiten der Nervenrekonstruktion nach wie vor eine sehr schlechte Prognose.<sup>14</sup> Für die Differenzierung von Schwere und Lokalisation stehen heute neben den etablierten elektrophysiologischen in zunehmendem Masse bildgebende Methoden zur Verfügung.<sup>3</sup> Kernspintomografie mit speziellen Algorithmen zur Diagnostik mittels Traktografie sowie Ultraschalldiagnostik von Nerv und Muskel sind vielversprechende und sich rasch entwickelnde Methoden, die in den nächsten Jahren entscheidend zur Diagnostik, Triage und Verlaufsbeurteilung beitragen werden.</p> <p><strong>Zervikale Myelopathie</strong><br /> Die Prognose der Myelopathie bei zervikaler Spinalkanalstenose ist bislang nicht gut verstanden. Insbesondere die Progression einer symptomatischen zervikalen Myelopathie ist hinsichtlich prädiktiver Zeichen und Charakteristika ungeklärt.<sup>10</sup> Eine operative Dekompression sollte mit dem Ziel der Begrenzung der Progression, nicht unter der Vorstellung der Verbesserung bereits bestehender neurologischer Ausfälle erfolgen. Gleichwohl kann in vielen Fällen eine gewisse Verbesserung neurologischer Defizite beobachtet werden.<sup>15</sup></p> <p><strong>Traumatische Rückenmarkschädigung</strong><br /> Die Prognose der traumatischen Rückenmarkschädigung ist gut beschrieben. Sie ist durch die Verletzungshöhe und -schwere bestimmt.<sup>16</sup> Die zugrunde liegenden Mechanismen können unterschiedlichen Mechanismen der Kompensation, neuronalen Plastizität und Regeneration zugeordnet werden. Neurophysiologische Methoden sind bei dieser Zuordnung für die Prognose und zum Verständnis des differenzierten Schädigungsbildes hilfreich.<sup>17</sup> Sie können insbesondere auch bei wissenschaftlichen Fragestellungen und zur syndromalen Charakterisierung der spinalen Läsion dienlich sein. Eine entsprechende Untersuchung aller wichtigen spinalen Tractus ist heute mittels entsprechender Technik möglich und erlaubt eine systematische Funktionstestung und Quantifizierung des klinischen Defizits.<sup>8</sup> Insbesondere für die Prognose der Gangund der Handfunktion können – basierend auf den Ergebnissen der Untersuchung mit neurophysiologischen Methoden der sensorischen und motorischen evozierten Potenziale – objektive und differenzierte Vorhersagen getroffen werden.<sup>18–21</sup></p> <p> <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Ortho_1704_Weblinks_lo_ortho_1704__s20_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="816" /></p> <p> <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Ortho_1704_Weblinks_lo_ortho_1704__s21_abb2.jpg" alt="" width="1417" height="1569" /></p></p>
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