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Off-label-Therapie beim akuten Schlaganfall ist sinnvoll und sicher
Leading Opinions
Autor:
PD Dr. med. Susanne Wegener
Oberärztin mit Schwerpunkt Schlaganfall/Neuroangiologie, Universitätsspital Zürich<br> E-Mail: susanne.wegener@usz.ch
30
Min. Lesezeit
04.05.2017
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<p class="article-intro">Die systemische Thrombolysetherapie kann Gewebeschaden durch Schlaganfall effizient verhindern und die Aussicht auf Erholung verbessern. Seit Einführung der Thrombolyse in den 90er-Jahren hat sich die Akutbehandlung des Schlaganfalls weiterentwickelt; die Fachinformationen zur Therapie sind aber nur zum Teil angepasst worden. Heute werden in grösseren Schlaganfallzentren bis zu 50 % der Patienten «off-label» lysiert. Daten aus Studien und Schlaganfallregistern belegen, dass eine Off-label-Thrombolyse beim akuten Schlaganfall sinnvoll und sicher ist. </p>
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<p class="article-content"><h2>Was ist eine Off-label-Therapie?</h2> <p>Wenn ein Medikament zwar zugelassen ist, seine Anwendung aber von der genehmigten Fachinformation abweicht, spricht man von einer Off-label-Therapie. Diese ist rechtlich zulässig, wenn der Arzt die Abweichung begründen kann und den Patienten über den Off-label-Einsatz aufklärt. Off-label-Anwendungen von Medikamenten sind häufig, weil viele Medikamente für bestimmte Patientengruppen nicht explizit untersucht und zugelassen worden sind und nicht jede neue wissenschaftliche Erkenntnis zur Anwendung eines Medikamentes von den pharmazeutischen Unternehmen registriert wird.</p> <h2>Kontraindikationen für systemische Lyse bei Schlaganfall</h2> <p>Die intravenöse (= systemische) Thrombolysetherapie mit gewebespezifischem Plasminogenaktivator (rt-PA) ist eine seit über 20 Jahren zugelassene und etablierte Behandlung des akuten ischämischen Schlaganfalles.<sup>1</sup> In der Anwendung dieser effizienten Therapie müssen allerdings bei jedem Patienten Nutzen und Risiko, insbesondere die Gefahr lebensbedrohlicher intrazerebraler Blutungen, abgewogen werden. Dies wird beim Schlaganfall dadurch verkompliziert, dass viele Patienten ein fortgeschrittenes Alter und Komorbiditäten haben, die potenzielle Kontraindikationen für die Therapie darstellen können (Abb. 1). Ein weiteres Problem ist, dass Therapieentscheidungen in kurzer Zeit getroffen werden müssen: «Time is brain.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1702_Weblinks_s10.jpg" alt="" width="1418" height="1225" /></p> <p>Kontraindikationen für eine Behandlung mit rt-PA sind überwiegend solche Patientencharakteristika, von denen man annimmt, dass sie das Blutungsrisiko unter Therapie erhöhen. Dies sind vor allem: unklarer Zeitpunkt des Symptombeginns oder längeres (>4,5h) Bestehen der Symptomatik, Tumorleiden, Einnahme oraler Antikoagulanzien, Thrombopenie, kürzlich erfolgte Operationen, unkontrollierbare arterielle Hypertonie und sehr schwere klinische Symptomatik, die auf einen grossen Schlaganfall rückschliessen lässt. Bei Patienten im Alter von über 80 Jahren soll besonders sorgsam abgewogen werden, ob eine Thrombolysetherapie sinnvoll ist; die Behandlung in diesem Patientenkollektiv stellt in der Schweiz aktuell keine absolute Kontraindikation mehr dar. Aufgrund von diesen Kriterien erhalten zurzeit nur ca. 30 % der an spezialisierte Zentren zugewiesenen Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall eine Lysetherapie.</p> <h2>Systemische Lyse: Welche Kriterien haben sich verändert?</h2> <p>Viele der oben erwähnten Anwendungsbeschränkungen für systemische Lyse stammen aus der Zeit der Zulassung von rt-PA. Damals hatte man in der Behandlung des akuten Schlaganfalls noch deutlich weniger Erfahrungen als heute, da Tausende Patienten mit rt-PA behandelt worden sind.<sup>2</sup> Aufgrund der wachsenden Anzahl erfolgreicher Anwendungen von rt-PA auch in klinischen «Grenzsituationen» werden viele der in der Fachinformation aufgeführten Kontraindikationen oder Warnhinweise nicht mehr so eingehalten wie noch vor 20 Jahren.</p> <p>Nicht nur das Zeitfenster der Behandlung hat sich erweitert, auch Altersbeschränkungen und Begleiterkrankungen wie Malignome oder kurz zurückliegende Operationen treten als Kontraindikationen weiter in den Hintergrund. In unserer zunehmend älter werdenden Gesellschaft haben viele über 80-Jährige eine gute Lebensqualität und den Wunsch nach Maximaltherapie. Begleiterkrankungen können heute besser kontrolliert und behandelt werden, wodurch das Blutungsrisiko unter Lysetherapie weiter gesenkt wird.</p> <p>In unserem Schlaganfallzentrum würde nur etwa die Hälfte aller Schlaganfallpatienten thrombolysiert werden, wenn die Einschränkungen auf der Fachinformation stringent eingehalten werden würden. Häufigster (relativer) Off-label-Faktor ist ein Alter über 80 Jahre. In vielen Studien zur Thrombolyse wurde eine Alterslimite von 80 oder 85 Jahren eingehalten,<sup>3, 4</sup> daher sind Daten zu dieser Patientengruppe nur eingeschränkt vorhanden. Dabei machen die über 80-Jährigen einen grossen Teil (ca. ein Drittel) der Schlaganfallpatienten aus. Hohes Alter ist per se mit einer schlechteren Prognose bei Schlaganfall assoziiert. Neuere Erhebungen haben allerdings gezeigt, dass eine Thrombolyse bei Patienten im Alter von über 80 Jahren auch effektiv und nicht wie befürchtet mit einem signifikant erhöhten Risiko für Blutungskomplikationen verbunden ist.<sup>5</sup></p> <p>Der zweithäufigste Faktor, der dazu beiträgt, dass viele Schlaganfallpatienten nicht thrombolysiert werden können, ist das sogenannte «verstrichene Zeitfenster». Hiermit ist der Zeitraum von Beginn der Symptomatik bis zur Thrombolyse gemeint, häufig auch als «onset-to-needle time» bezeichnet. Nach Veröffentlichung der ECASS-Studie 2008 wurde das Zeitfenster für die intravenöse Lysetherapie von 3 auf 4,5 Stunden erweitert.<sup>3</sup> Dies führte dazu, dass noch mehr Patienten lysiert wurden und sich durch Verbesserung der Infrastrukturen die «Onset-to-needle»-Zeiten im Mittel sogar verkürzten.<sup>6</sup> Weiterhin gilt: Die Chance für eine gute Erholung ist bei Lyse in den ersten 2 Stunden nach Symptombeginn deutlich besser als danach.<sup>7</sup> Trotzdem profitieren bestimmte Patienten wahrscheinlich noch nach 4,5 Stunden von einer Lysetherapie. Zeitfenster bis 9 Stunden werden zurzeit getestet.<sup>8, 9</sup> Zur Selektion von Patienten, die von einer Lyse im erweiterten Zeitfenster profitieren könnten, macht man sich Bildgebung zunutze. Durch Darstellung des bereits im Untergang begriffenen Gewebes im Infarktkern und des zwar minder durchbluteten, aber noch vitalen Gewebes ausserhalb des Infarktkerns hofft man abzuschätzen, wie viel Risikogewebe («tissue at risk») vorhanden ist. Je mehr Risikogewebe, desto mehr wäre mit Rekanalisation des Gefässes durch Lyse zu gewinnen und desto mehr wäre bei fehlender Rekanalisation zu verlieren. Das Risikogewebe wird auch als «mismatch» bezeichnet und ist Gegenstand zahlreicher Publikationen in der modernen Schlaganfallliteratur. Es kann nämlich durch unterschiedliche Bildgebungsmodalitäten wie Magnetresonanztomografie (MRT) oder Computertomografie (CT) visualisiert werden.<sup>10</sup> Auf der einen Seite ist solch eine durch Bildgebung gestützte Patienten­selektion an unterschiedlichen Institutionen mit verschiedenen Geräten möglich, auf der anderen Seite können unterschiedliche Arten der Bildgebung aber zu potenziellen Fehlern und Standardisierungsproblemen führen, die die Interpretation der Bildgebung erschweren. Trotz dieser Barriere ist schon die qualitative Analyse des «mismatch» aus der Bildgebung durch den Schlaganfallneurologen hilfreich, um zu erkennen, welche Patienten wahrscheinlich besser von der Therapie profitieren als andere.</p> <p>Eine Sonderstellung nimmt die Bildgebung bei den Patienten ein, die mit den Symptomen eines Schlaganfalls am Morgen erwachen. Dies betrifft ca. 20 % aller Schlaganfallpatienten. Solchen Patienten musste bisher die Thrombolyse vorenthalten werden, da der Symptombeginn im Schlaf und somit unbekannt war. Für diese Fälle von «wake-up strokes» ist ein spezieller MRT-Bildgebungsparameter entwickelt worden, durch welchen man die Patienten selektieren kann, die wahrscheinlich am Morgen und innerhalb von ca. 6 Stunden vor Bildgebung ihren Schlaganfall erlitten haben: das «DWI-FLAIR mismatch».<sup>11</sup> Zeichnet sich der Schlaganfall im diffusionsgewichteten MRI (DWI) als frühe Läsion ab, aber noch nicht in der «Fluid-attenuated inversion recovery»(FLAIR)-Sequenz, dann ist eine Thrombolyse mit akzeptablem Risiko möglich. Eine prospektive Studie zu diesem Thema läuft, um diese Form der Bildgebungsselektion multizentrisch zu validieren.<sup>12</sup></p> <p>Patientenselektion mit Bildgebung ist auch abseits vom «mismatch» ein spannendes Thema in der klinischen Schlaganfallforschung. Neben den Vorgängen im Gewebe sind auch anlagebedingte und umweltbeeinflusste Gefässstrukturen des Gehirns entscheidend daran beteiligt, wie lange ein Patient trotz eines Gefässverschlusses noch Hirnfunktionen aufrechterhalten oder sich vom Schaden durch Schlaganfall erholen kann. Es wird in der Entscheidung für oder gegen eine Thrombolyse also gerade bei Grenzfällen häufig moderne multimodale Bildgebung eingesetzt.<sup>13</sup></p> <p>Viele Off-label-Lyse-Kriterien, die heute schon in den Behandlungsleitlinien der Schlaganfallzentren als Standards festgesetzt sind, befinden sich aufgrund laufender medizinischer Weiterentwicklung im Fluss. Dies trifft vor allem auf Lyse unter Antikoagulanzientherapie zu. Nimmt ein Patient z.B. aufgrund einer Herzerkrankung oder nach Beinvenenthrombose Marcoumar ein, darf gemäss Fachinformation bei einer INR >1,3 % nicht lysiert werden. Neuere Erhebungen haben aber gezeigt, dass Lyse bis zu einer INR von 1,7 % mit einem vertretbaren Blutungsrisiko möglich ist. Nicht in den Fachinformationen abgebildet sind die im Alltag das Marcoumar immer stärker verdrängenden neuen direkten Thrombin- oder Faktor-X-Inhibitoren (DOAK) Dabigatran, Rivaroxaban, Apixaban oder Edoxaban. Diese lassen sich in Gerinnungsschnelltests nur schwer und teils ungenügend erfassen. Spezifische Tests für die Substanzen sind entwickelt worden und werden zur Abschätzung des Blutungsrisikos angewandt. Eine absolute Kontraindikation für eine Thrombolyse stellt die Einnahme dieser Substanzen also nicht dar; Einnahmezeitpunkt, Nierenfunktion und Gerinnungsparameter müssen berücksichtigt werden. Verbindliche, prospektiv getestete Grenzwerte für die im Serum gemessene Aktivität der Substanzen gibt es allerdings noch nicht. Durch systematisches Erfassen von Patienten, die unter DOAK thrombolysiert worden sind, ist hier in nächster Zeit mit mehr Wissen zu rechnen.<sup>14</sup></p> <h2>Zusammenfassung und Ausblick</h2> <p>Erfahrungen aus der Schlaganfall-Akuttherapie der letzten Jahre haben klar gezeigt, dass Off-label-Thrombolyse mit guter Effektivität und bei vertretbarem Risiko durchgeführt werden kann. Off-label-Therapie beim akuten Schlaganfall eröffnet deutlich mehr Patienten die Möglichkeit, die bestmögliche Behandlung ihrer Erkrankung zu erhalten. Hierbei muss das individuelle Nutzen-Risiko-Verhältnis für den Patienten kritisch abgewogen werden. Wenn die Thrombolyse entsprechend zeitgemässen Leitlinien und Qualitätskritierien appliziert wird, ist das Risiko für Hirnblutungen nicht erhöht. Liegen multiple Off-label-Faktoren vor, ist die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche klinische Erholung nach Schlaganfall erniedrigt.<sup>15</sup> Die Aufklärung des Patienten über eine Off-label-Therapie ist im akuten Schlaganfall aufgrund des Zeitdruckes und der neurologischen Symptomatik meist nicht angemessen möglich. Somit bleibt eine grosse Verantwortung beim Behandlungsteam, das die beste und sicherste Therapie gemäss dem vermuteten Willen des Betroffenen auszuwählen hat. Dies ist eine komplexe Aufgabe, die in Zukunft mithilfe von Forschung und Weiterentwicklung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden hoffentlich noch besser bewältigt werden kann.</p></p>
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<p><strong>1</strong> The National Institute of Neurological Disorders and Stroke rt-PA Stroke Study Group: Tissue plasminogen activator for acute ischemic stroke. N Engl J Med 1995; 333(24): 1581-7 <strong>2</strong> Whiteley WN et al: Risk of intracerebral haemorrhage with alteplase after acute ischaemic stroke: a secondary analysis of an individual patient data meta-analysis. Lancet Neurol 2016; 15(9): 925-33 <strong>3</strong> Hacke W et al: Thrombolysis with alteplase 3 to 4.5 hours after acute ischemic stroke. N Engl J Med 2008; 359(13): 1317-29 <strong>4</strong> Hacke W et al: Intravenous desmoteplase in patients with acute ischaemic stroke selected by MRI perfusion-diffusion weighted imaging or perfusion CT (DIAS-2): a prospective, randomised, double-blind, placebo-controlled study. Lancet Neurol 2009; 8(2): 141-50 <strong>5</strong> Pego PMet al: Thrombolysis in patients aged over 80 years is equally effective and safe. J Stroke Cerebrovasc Dis 2016; 25(6): 1532-8 <strong>6</strong> Mihout M et al: Thrombolysis for ischaemic stroke: impact of the extension of the time-window in daily practice. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2012; 83(2): 227-8 <strong>7</strong> Hacke W et al: Association of outcome with early stroke treatment: pooled analysis of ATLANTIS, ECASS, and NINDS rt-PA stroke trials. Lancet 2004; 363(9411): 768-74 <strong>8</strong> IST-3 Collaborative Group, Sandercock P et al: The benefits and harms of intravenous thrombolysis with recombinant tissue plasminogen activator within 6 h of acute ischaemic stroke (the third international stroke trial [IST-3]): a randomised controlled trial. Lancet 2012; 379(9834): 2352-63 <strong>9</strong> Amiri H et al: European Cooperative Acute Stroke Study-4. Extending the time for thrombolysis in emergency neurological deficits ECASS-4: ExTEND. Int J Stroke 2016; 11(2): 260-7 <strong>10</strong> Wardlaw JM et al: Thrombolysis for acute ischaemic stroke. Cochrane Db Syst Rev 2009; (4): CD000213 <strong>11</strong> Thomalla G et al: DWI-FLAIR mismatch for the identification of patients with acute ischaemic stroke within 4-5 h if symptom onset (PRE-FLAIR): a multicentre observational study. Lancet Neurology 2011; 10(11): 978-86 <strong>12</strong> Thomalla G et al: Stroke with unknown time of symptom onset: baseline clinical and magnetic resonance imaging data of the first thousand patients in WAKE-UP (efficacy and safety of MRI-based thrombolysis in wake-up stroke: a randomized, doubleblind, placebo-controlled trial). Stroke 2017; 48(3): 770-3 <strong>13</strong> Liebeskind DS: Collaterals in acute stroke: beyond the clot. Neuroimaging Clin N Am 2005; 15(3): 553-73, x <strong>14</strong> Seiffge DJ et al: Recanalization therapies in acute ischemic stroke patients: impact of prior treatment with novel oral anticoagulants on bleeding complications and outcome. Circulation 2015; 132(13): 1261-9 <strong>15</strong> Breuer L et al: Off-label thrombolysis for acute ischemic stroke: rate, clinical outcome and safety are influenced by the definition of 'minor stroke'. Cerebrovasc Dis 2011; 32(2): 177-85</p>
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