
Vorgehen bei peripherer Neuropathie
Autorin:
Dr. med. Ruxandra Iancu Ferfoglia
Spécialiste en Neurologie, éléctroneuromyographie
Consultante du Service de Neurologie
Unité Nerf-Muscle
Hôpitaux Universitaires Genève
Clinique de la Source
Lausanne
E-Mail: cabinet_iancu@lasource.ch
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Periphere Neuropathien umfassen neurologische Erkrankungen, die aufgrund ihres klinischen Bildes und ihres Entstehungsmusters eine komplexe Diagnostik erfordern. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Beurteilung von Patienten mit Neuropathie und hebt dabei wichtige Aspekte der Anamnese und der neurologischen klinischen Untersuchung hervor. Die diagnostischen Untersuchungen sowie der symptomatische therapeutische Ansatz bei schmerzhafter Neuropathie werden diskutiert.
Keypoints
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Die periphere Neuropathie ist eine häufige neurologische Erkrankung. Es gibt eine Vielzahl von Subtypen, bei denen motorische, sensorische oder autonome Fasern betroffen sind.
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Die symmetrische distale Polyneuropathie ist der häufigste Subtyp und manifestiert sich klassischerweise durch längenabhängige sensorische Zeichen und Symptome.
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Klinische Merkmale wie ein akuter bis subakuter Beginn, Asymmetrie, Nicht-Längenabhängigkeit, das Dominieren motorischer Zeichen und begleitende systemische Erkrankungen sollten zu einer dringlichen oder raschen Überweisung zur neuromuskulären Untersuchung führen.
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Die Behandlungsoptionen der ersten Linie für symptomatische schmerzhafte Neuropathien sind Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, Natriumkanalblocker, Gabapentinoide und trizyklische Antidepressiva.
Periphere Neuropathien umfassen neurologische Erkrankungen, die aufgrund ihres klinischen Bildes und ihres Entstehungsmusters eine komplexe Diagnostik erfordern. Die häufigste ist die längenabhängige sensomotorische Polyneuropathie: Ihre Gesamtprävalenz in der Allgemeinbevölkerung liegt bei etwa 1–3% und steigt bei Menschen über 65 Jahre auf etwa 8% an.1
Warum auf periphere Neuropathie untersuchen?
Da Neuropathien eine Vielzahl von Ätiologien haben können, kommen praktisch alle medizinischen Fachrichtungen mit diesem Krankheitsbild in Berührung. Eine Neuropathie kann sich auf unterschiedliche Weise äussern, weshalb ein stimmiger klinischer Ansatz für die Beurteilung, Diagnostik und Behandlung erforderlich ist.
Die Neuropathie kann ein Hinweis auf eine systemische oder auch neoplastische Erkrankung sein oder als Nebenwirkung eines pathologischen oder toxischen Prozesses auftreten. Neuropathien bedürfen besonderer Aufmerksamkeit – nicht nur wegen ihrer Häufigkeit, sondern auch wegen ihrer Schwere und der therapeutischen Möglichkeiten. Einige Neuropathien können behandelbar sein, wenn sie frühzeitig erkannt werden, und andere lassen sich verhindern, wenn aktiv Massnahmen gegen Risikofaktoren ergriffen werden. Eine frühzeitige Erkennung und Behandlung ist wichtig, da eine längere Erkrankungsdauer ohne angemessene Behandlung zu schwerer Morbidität führen kann.
Wann muss an eine periphere Neuropathie gedacht werden und wann ist eine Überweisung an einen Neurologen nötig?
Bei der Definition der Neuropathie werden die Art der betroffenen Fasern, die Verteilung und der zeitliche Verlauf des Auftretens berücksichtigt, d.h., ob sie sich innert Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren entwickelt hat (Abb. 1). Zu den pathophysiologischen Mechanismen der peripheren Neuropathien gehören Schädigungen der Motoneuronen oder der Dorsalganglien durch Schadstoffe sowie Schädigungen, die die Funktion des Axons und der Schwann-Zelle stören. Dabei handelt es sich um Auswirkungen auf die epi- und endoneuralen Blutgefässe, die Ranvier-Schnürringe oder direkt auf die Axone durch Beeinträchtigung des axonalen oder mitochondrialen Transports.2
Abb. 1: Unvollständige Liste von Ätiologien peripherer Neuropathien in Abhängigkeit vom zeitlichen Verlauf des Auftretens und der betroffenen Stelle. Small-Fiber-Neuropathien und dysautonome Neuropathien sind in dieser Grafik nicht enthalten (adaptiert nach Pereon Y et al. 2003)14
Das klinische Vorgehen bei Patienten mit einer möglichen peripheren Neuropathie und die Faktoren, die eine Überweisung an einen Spezialisten notwendig machen, sind in Abbildung 2 dargestellt.
Abb. 2: Klinisches Vorgehen bei Patienten mit Verdacht auf periphere Neuropathie (adaptiert nach Mirian A et al. 2023)11
Betroffene Fasern
Zu den sensorischen Fasern gehören die Fasern mit grossem Durchmesser («large fiber»), die Vibrationsempfindung, Propriozeption und Tastsinn leiten. Fasern mit kleinem Durchmesser («small fiber») gewährleisten das Schmerz- und Temperaturempfinden. Beide Gruppen müssen untersucht werden, da der jeweilige Grad der Funktionseinschränkung einen Hinweis auf die Ätiologie liefert.
Eine sensorische Large-Fiber-Dysfunktion kann aufgrund eines Verlusts der Propriozeption zu Gangstörungen führen (propriozeptive Ataxie). Eine sensorische Small-Fiber-Dysfunktion verursacht meist Schmerzen; bei manchen Patienten kommt es zu Hyperästhesie oder Allodynie. Spontane Schmerzepisoden können mit einer Rötung und Schwellung der Haut einhergehen, weil die Übertragung durch geschädigte sensorische C-Fasern erfolgt, die vasoaktive Substanzen freisetzen und dadurch eine neurogene Entzündung hervorrufen.3
Patienten mit einer Schädigung der motorischen Fasern weisen vor allem eine Schwäche auf, die sich als Gangstörung, Verlust der Geschicklichkeit oder durch beides äussern kann.
Autonome Symptome werden oft unterschätzt, da sie viele verschiedene Ursachen haben können. Zu den häufigen Symptomen gehören orthostatische Intoleranz, Gastroparese, Verstopfung, Diarrhö, neurogene Blase, sexuelle Dysfunktion, Pupillendysregulation (verschwommenes Sehen) und vasomotorische Symptome, die zu trockenen Augen, Mundtrockenheit sowie Hautbrennen und -rötung führen.4
Verteilung
Die distale symmetrische Polyneuropathie, der häufigste Subtyp, zeichnet sich durch eine längenabhängige Schädigung aus, bei der die längeren Nerven zuerst betroffen sind. Sensorische Schädigungen der grossen Fasern gehen mit einer Verminderung oder einem Fehlen der Sehnenreflexe einher und treten vor den motorischen Schädigungen auf.5 Sie können von Schädigungen der kleinen Fasern begleitet werden. Zu den häufigsten Ursachen gehören Diabetes oder chronische Hyperglykämie, Alkohol, Nierenversagen, Mangel an Vitamin B12 oder anderen B-Vitaminen und die arzneimittelinduzierte Neurotoxizität (Abb.1). Etwa 40–50% der Patienten mit Diabetes entwickeln innert 10 Jahren nach dessen Auftreten eine Neuropathie.6 Eine asymmetrische, nichtlängenabhängige, einen Nervenstamm betreffende oder multifokale Schädigung deutet auf eine Vaskulitis, eine entzündliche Erkrankung des peripheren Nervensystems, eine systemische Erkrankung oder eine genetische Ursache wie die hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Drucklähmungen (HNPP) hin. Eine Schwäche sowohl proximal als auch distal kann auf einen entzündlichen, demyelinisierenden Prozess hinweisen. Die lumbosakrale Radikuloplexopathie ist eine weniger häufige Neuropathie, die häufig im Zusammenhang mit Diabetes auftritt. Sie ist asymmetrisch und schmerzhaft, oft rasch progredient und kann zu schwerer Morbidität führen.
Die meisten Ursachen von Neuropathien können durch eine Beurteilung der Krankengeschichte und Komorbiditäten sowie durch Labor-Screeningtests identifiziert werden. Bei der distalen symmetrischen Polyneuropathie wird die Erkrankung jedoch bei etwa einem Drittel der Patienten als idiopathisch eingestuft.
Zeitlicher Verlauf
Patienten mit akutem bis subakutem Beginn, bei denen sich die Symptome in weniger als 8 Wochen entwickeln, sollten dringlich an einen neuromuskulären Spezialisten überwiesen werden (Abb.2).7 Bei Verdacht auf Guillain-Barré-Syndrom sollte der Patient wegen des Risikos für Atemversagen und dysautonome und paretische Symptome an den Notfalldienst eines Spitals überwiesen werden. Periphere Neuropathien mit sehr akutem Auftreten, etwa mit Fallhand oder Fallfuss, sollten ebenfalls als Notfall überwiesen werden, da sie einen vaskulitischen Prozess befürchten lassen. Auch Patienten mit chronischer Neuropathie sollten von einem Neurologen beurteilt und elektrophysiologisch untersucht werden, dies jedoch ohne Dringlichkeit.
Welche Untersuchungen sind angezeigt?
Bei Patienten mit distaler längenabhängiger symmetrischer Polyneuropathie werden Labor-Screeningtests eingesetzt, um nach behandelbaren Ursachen zu suchen. Tabelle 1 fasst die Praxisleitlinien der American Academy of Neurology (AAN) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in schweizerisch-österreichischer Zusammenarbeit zusammen.5,8
Tab.1: Laboruntersuchungen der ersten Linie bei Verdacht auf distale symmetrische Polyneuropathie und der zweiten Linie bei Faktoren, die für eine schwere Erkrankung sprechen, oder je nach vermuteter Ätiologie5,8
Elektrophysiologische Untersuchungen können bei der Diagnosestellung helfen und die Behandlung und die klinische Verlaufskontrolle steuern. Mitunter ist es schwierig, zeitnah einen Termin bei einem Spezialisten für neuromuskuläre Erkrankungen zu erhalten. In diesem Fall sollte der Patient an einen Allgemeinneurologen überwiesen werden. Eine elektrophysiologische Beurteilung wird bei den meisten Patienten mit Neuropathie empfohlen, insbesondere wenn die Ursache unklar ist. Das Elektroneuromyogramm ermöglicht eine bessere Klassifizierung der Neuropathie (axonal, demyelinisierend, sensorisch, motorisch), liefert aber auch Informationen zur Chronizität, zur Prognose und in einigen Fällen zum Ansprechen auf die Behandlung. All diese Faktoren sind von wesentlicher Bedeutung für die Bestimmung der Ursache und für die Behandlung.9
Patienten mit Small-Fiber-Neuropathie erzielen bei elektrophysiologischen Untersuchungen normale Ergebnisse, da bei diesen Tests nur die Funktion der motorischen und der grossen sensorischen Fasern beurteilt wird. Die Hautbiopsie mit Messung der Dichte der intraepidermalen Nervenfasern ist für diese Diagnose die Standarduntersuchung mit einer Sensitivität/Spezifität von 94%/92%.10 Untersuchungen des autonomen Nervensystems (z.B. sudomotorische oder kardiovagale Untersuchungen) werden bei der Beurteilung von Patienten mit Verdacht auf autonome Neuropathie oder Small-Fiber-Neuropathie empfohlen.11
Eine Nervenbiopsie ist nur bei Vaskulitis oder malignen Infiltrationen sinnvoll.
Behandlung neuropathischer Schmerzen
Etwa 50% der Neuropathien gehen mit Schmerzen einher.12 Zu den Mechanismen neuropathischer Schmerzen gehören die spontane Aktivität und Sensibilisierung geschädigter Axone, vermittelt durch hyperaktive Natriumkanäle sowie durch die Wirkung von Entzündungsmediatoren. Aufgrund des ständigen Einströmens nozizeptiver Informationen in das Rückenmark und das Gehirn kann es dort schnell zu einer zentralen Sensibilisierung kommen.
Die Praxisleitlinien der AAN zur symptomatischen Behandlung stützen sich auf eine Metaanalyse von randomisierten kontrollierten Studien mit einer Behandlungsdauer von 16 Wochen.13 In den meisten klinischen Studien wurde der Behandlungserfolg als 30-prozentige Schmerzreduktion quantifiziert. Nur wenige Patienten erreichen mit einem einzigen Medikament eine Reduktion um mehr als 50%. Im Rahmen der Analyse wurden vier Klassen oraler Therapeutika identifiziert, die Schmerzen auf vergleichbare Weise reduzieren: trizyklische Antidepressiva, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), Natriumkanalblocker und Gabapentinoide. Topische Therapien wie Lidocain- oder Capsaicin-Pflaster können in gut umschriebenen schmerzhaften Bereichen hilfreich sein. In schweren Fällen sind mitunter intravenöse Anästhetika sowie der Einsatz von Opiaten erforderlich. Dabei ist auf die verschiedenen Indikationen und das Nebenwirkungsprofil zu achten.
Physiotherapie, Ergotherapie
Die Wahl der Physiotherapie bei Neuropathien richtet sich nach den Symptomen und funktionellen Defiziten. Sie umfasst Übungen, die die Stabilität im Stand und den Gang verbessern, sowie das Training des Gleichgewichts, der Koordination und der Propriozeption. Bei Paresen besteht das Ziel darin, die Kraft zu stärken und Deformationen und Kontrakturen zu verhindern. Wenn die Hände betroffen sind, ist eine Ergotherapie in Verbindung mit geeigneten Hilfsmitteln zu Hause angezeigt.
Fazit
Die Diagnostik und Behandlung von Patienten mit Neuropathie erfordert einen systematischen Ansatz. Die Neuropathie ist durch eine Kombination verschiedener Symptome und Zeichen gekennzeichnet und wird durch elektrophysiologische Untersuchungen bestätigt. Patienten mit neuropathischen Schmerzen sollten symptomatische medikamentöse Therapien erhalten, die die Schmerzen wirksam lindern. Jüngste Forschungserfolge haben neue Therapien im Bereich der entzündlichen Neuropathien hervorgebracht. Es sind jedoch noch weitere Forschungsanstrengungen nötig, um unsere Wissenslücken bei der symptomatischen Behandlung zu schliessen.
Literatur:
1Hanewinckel R et al.: Prevalence of polyneuropathy in the general middle-aged and elderly population. Neurology 2016; 87: 1892-8 2 Prior R et al.: Defective axonal transport: a common pathological mechanism in inherited and acquired peripheral neuropathies. Neurobiol Dis 2017; 105: 300-20 3 Sousa-Valente J et al.: A historical perspective on the role of sensory nerves in neurogenic inflammation. Semin Immunopathol 2018; 40: 229-36 4 Novak V et al.: Autonomic impairment in painful neuropathy. Neurology 2001; 56: 861-8 5 England JD et al.: Practice parameter: evaluation of distal symmetric polyneuropathy: role of laboratory and genetic testing (an evidence- based review): report of the American Academy of Neurology, American Association of Neuromuscular and Electrodiagnostic Medicine, and American Academy of Physical Medicine and Rehabilitation. Neurology 2009; 72: 185-92 6 Bril V et al.: Neuropathy. Can J Diabetes 2018; 42: 217-21 7 Karam C et al.: Rapid screening for inflammatory neuropathies by standardized clinical criteria. Neurol Clin Pract 2016; 6: 384-8 8 Deutsche Gesellschaft für Neurologie: Erkrankungen peripherer Nerven. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie: http://www.dgn.org/leitlinien 9 Siao P et al.: A clinician’s approach to peripheral neuropathy. Semin Neurol 2019; 39: 519-30 10 Devigili G et al.: Diagnostic criteria for small fibre neuropathy in clinical practice and research. Brain 2019; 142: 3728-36 11 Mirian A et al.: Diagnosis and management of patients with polyneuropathy. CMAJ 2023; 195: E227-33 12 Sommer C et al.: Polyneuropathies etiology, diagnosis, and treatment options. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 83-90 13 Price R et al.: Oral and topical treatment of painful diabetic polyneuropathy: practice guideline update summary: report of the AAN Guideline Subcommittee. Neurology 2022; 98: 31-43 14 Pereon Y et al.: Peripheral neuropathy: a picture is worth a thousand words. Neurophysiol Clin 2003; 33: 31-2
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