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Wie Nahrungsmittelergänzungen die Nerven nachhaltig stärken
Jatros
Autor:
Dr. Gabriele Senti
30
Min. Lesezeit
07.09.2017
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<p class="article-intro">Mit zunehmendem Alter verliert der Mensch die Fähigkeit, Vitalstoffe – z.B. Vitamine oder Spurenelemente – aus der täglichen Nahrung ausreichend aufzunehmen. Die Folge können Beeinträchtigungen der peripheren Nerven oder der Gedächtnisfunktion bis hin zur Demenz sein. Die Experten beim 1. Fachtag Vitalstoffe waren sich einig: Durch die gezielte Aufnahme von Vitalstoffen können Erfolge beim „Kampf gegen das Vergessen“ erzielt und Nervenleiden positiv beeinflusst werden.</p>
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<p class="article-content"><p>Sie sind buchstäblich in aller Munde und werden kontroversiell diskutiert: Nahrungsergänzungsmittel (NEM) und die durch sie verabreichten Vitalstoffe. Im Rahmen des Fachtags wurden die physiologischen Grundlagen der ausreichenden Versorgung mit Vitalstoffen sowohl für das Nervensystem im Besonderen als auch für den älter werdenden Menschen im Allgemeinen erläutert und Mikronährstoff-Mangelerkrankungen im Hinblick auf neuronale Leiden diskutiert.</p> <h2>Warnung vor unselektiver Supplementierung</h2> <p>Unter Vitalstoffen versteht man allgemein Mikronährstoffe und organische Verbindungen, die der menschliche Körper nicht oder nur unzureichend selbst synthetisieren kann. Sie erfüllen im Organismus wichtige physiologische Funktionen, sind essenziell und müssen daher mit der Nahrung zugeführt werden. Auch wenn NEM in der heutigen Zeit häufig und gerne eingesetzt werden, um dem Körper Vitalstoffe zuzuführen, sind sie für einen gesunden Menschen bei abwechslungsreicher, obst- und gemüsereicher Mischkost aus ernährungsphysiologischer Sicht nicht notwendig. Dazu meint Prof. Dr. Kurt Widhalm, Präsident des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin: „Nahrungsergänzungsmittel können bei bestimmten Zuständen indiziert sein, sie können aber auch schaden.“ NEM seien in erster Linie sinnvoll, wenn nachweislich Nährstoffdefizite bestünden, bzw. bei Risikogruppen und in bestimmten Lebensphasen mit erhöhtem Nährstoffbedarf (Schwangerschaft und Stillzeit, ältere Personen, chronische Erkrankungen etc.). Von einer Selbstmedikation – die auch bei älteren Personen weit verbreitet ist – und unselektiven Supplementierung ohne detaillierte Diagnostik sei auf jeden Fall abzuraten. Eine Langzeitstudie aus dem Jahr 2011 zeigte, dass eine Supplementierung nicht immer nur positive Auswirkungen hat und es damit verbunden auch zu einer Erhöhung der Gesamtmortalität kommen kann.<sup>1</sup></p> <h2>Polyneuropathie (PNP) – wenn die Nerven „verrückt“ spielen</h2> <p>Die ausreichende Versorgung mit Vitalstoffen spielt auch bei der Polyneuropathie (PNP) eine entscheidende Rolle. Typische Symptome der Polyneuropathie sind Taubheitsgefühle an den Füßen und Händen. Polyneuropathie hat über 500 verschiedene Ursachen: Bestimmte Medikamente, nachteiliger Lebensstil, ungesunde Ernährungsgewohnheiten, Operationen, Alkoholkrankheit oder Diabetes fallen beispielsweise darunter. Polyneuropathien sind oft medikamentös nur schwer zu behandeln und erfordern in den meisten Fällen eine lang andauernde symptomatische Therapie. Daher ist die gezielte Zusatztherapie mit Vitaminen und Vitalstoffen für eine verbesserte Nervenfunktion besonders wichtig.</p> <h2>Therapeutische Aspekte bei PNP</h2> <p>Durchblutungsförderung und die Versorgung mit Antioxidanzien, Aminosäuren, Elektrolyten und den entsprechenden Vitaminen sind wichtige funktionelle Aspekte von Muskeln und Nerven, die durch verschiedene NEM unterstützt werden können. Ginkgo Biloba zeichnet sich durch nachgewiesene protektive Faktoren und eine antioxidative und durchblutungsfördernde Wirkung aus. „Sein Einsatz in der Behandlung der Neuropathie macht daher großen Sinn“, so Prim. Univ.-Doz. Dr. Udo Zifko, Vorstand der Abteilung für Neurologie am Evangelischen Krankenhaus Wien. Ebenso habe die α-Liponsäure einen gewissen Stellenwert in der Behandlung der PNP erlangt. Aus eigenen klinischen Erfahrungen kann Doz. Zifko die Gabe von α-Liponsäure 600 mg i.v. empfehlen. Er habe häufig sehr gute Erfolge bei der Behandlung der diabetischen Neuropathie, aber auch bei PNP mit Dysästhesien beobachtet. Wichtig sei die Kombination mit Vasoaktiva, aber auch anderen Therapien (z.B. physikalische Therapie) und einer in weiterer Folge längerfristigen oralen α-Liponsäure-Therapie. Schließlich spielen auch noch Magnesium und Zink eine wesentliche Rolle bei der Therapie der PNP. Isoliert verabreicht bleibt die Supplementation mit Zink oder Magnesium meist ohne Effekt, eine Kombination mit Antioxidanzien sei deutlich effektiver. Die Höhe der Dosis – speziell bei Magnesium – sei dabei abhängig von der Symptomausprägung</p> <h2>PNP: Ursache Mangelernährung</h2> <p>„Viele Neuropathiepatienten kommen für eine Zweitmeinung zu mir und ich konnte feststellen, dass Vitamin-B12- und Vitamin-B6-Spiegel viel zu selten erhoben werden. Dabei ist eine Unterversorgung mit diesen beiden Vitaminen häufige Ursache der idiopathischen PNP“, berichtet Doz. Zifko. Ein Vitamin-B1-Mangel hingegen sei manchmal Ursache einer symmetrischen, distalen, sensomotorischen PNP. Die Ursachen für eine Unterversorgung mit Vitaminen – vor allem dem Vitamin-B-Komplex – können vielfältig sein: Alkohol, Nerven- und Magenschutzpräparate spielen ebenso eine Rolle wie die Auswirkung von Medikamenten, Magenverkleinerungen zur Gewichtsabnahme, chronische Magenerkrankungen, Dünndarmerkrankung oder das Kurzdarmsyndrom. „Darüber hinaus zeigten nationale Verzehrstudien, dass 33 % der 14- bis 24-jährigen Frauen und 10–30 % der Senioren die empfohlene tägliche Vitamin-B12-Zufuhr nicht erreichen, 21 % der Männer und 32 % der Frauen eine Vitamin-B1-Unterversorgung aufweisen und 79 % der Männer und 86 % der Frauen zu geringe Mengen an Folsäure zu sich nehmen“, so Doz. Zifko. <br />Aber auch das Gegenteil hat Doz. Zifko schon gesehen: „Ich hatte zwei Patientinnen, die aufgrund von Selbstmedikation mit Vitamin-B-Präparaten massiv überdosiert waren. Dies führte zu einer schmerzhaften sensiblen Polyneuropathie.“ Ein Jahr nach Absetzen der NEM besserten sich die Beschwerden. Ein Nerv regeneriere sich mit einer Geschwindigkeit von ca. 1mm pro Tag – die Besserung von Nervenschädigungen dauere lange. Das müsse man auch dem Patienten verdeutlichen. Die Frage nach Zusatztherapien – spezifisch nach NEM – sollte Teil jedes Erstgesprächs sein.</p> <h2>Neues Präparat für PNP-Therapie</h2> <p>Ein kürzlich in Österreich zugelassenes Vitalstoffpräparat aus α-Liponsäure, Ginkgo Biloba, Magnesium, Zink, Vitamin B12, Folsäure, Vitamin E, B6, B1 konnte, unter ärztlicher Aufsicht verabreicht, positive Effekte erzielen. „Unsere Erfahrung zeigte, dass eine sinnvolle und im Verlauf meist überraschend gut wirksame Kombination dieser Vitalstoffe zu sehr guten Therapieerfolgen führen kann“, so Doz. Zifko. „Unsere Auswertungen der Beobachtungsstudie zeigten eine sehr gute Verträglichkeit. In Bezug auf Missempfindungen, Überempfindlichkeit und Hautwahrnehmungen profitierten 81 % der PNP-Patienten von diesem NEM. Dabei muss man natürlich noch einen Placeboeffekt von 30 bis 35 % mitkalkulieren“, fasste Doz. Zifko die Ergebnisse zusammen. Dieses NEM könne andere therapeutische Maßnahmen nicht ersetzen, erweitere aber therapeutische Optionen bei vielen Neuropathieformen, bei denen die therapeutischen Maßnahmen begrenzt sind.<br />„Wichtig beim Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln sind eine gute ärztliche Beratung und regelmäßige Nachverfolgung. Am Beispiel des Vitamins B6 sieht man, dass ein ärztliches Monitoring und die regelmäßige Erhebung der Laborwerte wichtig sind. Auch sollte immer die Interaktion pflanzlicher Substanzen mit Medikamenten beachtet und geprüft werden“, lautete Doz. Zifkos Appell.</p> <h2>Kampf gegen das Vergessen</h2> <p>Wie wichtig Vitalstoffe zur Sicherung der kognitiven Fähigkeiten im Alter sind, skizzierte Prof. PD Dr. Michael Rainer, Psychiatrische Abteilung des SMZ Ost, Wien, in seinem Vortrag. In Österreich leiden ca. 130 000 Menschen an einer Demenz und ca. 500 000 Personen an leichten kognitiven Beeinträchtigungen (Mild cognitive impairment, MCI). Nach Schätzungen der Gebietskrankenkasse wird sich die Zahl der Demenzkranken bis zum Jahr 2050 auf 270 000 erhöhen. <br />„Mit den zugelassenen Antidementiva behandeln wir nicht die Alzheimerkrankheit, sondern nur die Symptome der Alzheimerdemenz. Wir haben bisher kein Heilmittel für die Alzheimerkrankheit und die besten Antidementiva führen nur zu einer symptomatischen Verbesserung“, so Prof. Rainer. Mit allen Betaamyloid beeinflussenden Strategien konnte bisher in klinischen Studien keine wesentliche Verbesserung erzielt werden. „Da wir wissen, dass eine mediterrane Diät bzw. mediterane Ernährungsfaktoren für die einzelnen Risikofaktoren einer Demenz eine große Bedeutung haben, war der Umkehrschluss, dass eine richtige Nährstoffkombination therapeutisch und präventiv wirksam sein könnte, naheliegend.“</p> <h2>Brainfood: Ginkgo Biloba und Ginseng</h2> <p>Jüngste Metaanalysen aus dem Jahr 2013 demonstrierten signifikant niedrigere Plasmaspiegel von Vitamin A, D, E, Folsäure, Vitamin B12 und Zink bei Alzheimerpatienten gegenüber einer normalen Altersgruppe.<sup>2</sup> Neun Fallkontrollstudien von Alzheimerpatienten zeigten übereinstimmend reduzierte Folsäure (= Vitamin-B9-) und Vitamin-B12-Spiegel, welche mit einem erhöhten Homocysteinspiegel verbunden waren.<sup>3</sup> Erhöhtes Homocystein ist ein Risikofaktor für vaskuläre und neuropsychiatrische Krankheiten, die über eine gestörte Endothelfunktion laufen. Ein erhöhtes Risiko für die Alzheimerdemenz ist nachgewiesen. In der longitudinalen Vienna Transdanube Aging Studie (VITA)<sup>4</sup> war ein reduzierter Folatspiegel im Blut ein eindeutiger Risikofaktor für eine spätere Alzheimerdemenz. Demzufolge sollte eine gezielte Supplementation mit B-Vitaminen zu einer Reduktion des Demenzrisikos führen.<br />„Im frühen Stadium der Alzheimerkrankheit sind bereits bis zu 40 % der zerebralen Synapsen geschädigt. Hier könnten medizinische Nahrungsergänzungsmittel einen günstigen sekundärpräventiven Effekt aufweisen. Zum Erhalt kognitiver Fähigkeiten sind ein gut ausgewogener Ernährungszustand mit einem hohen Anteil an Vitamin B12, Folsäure und Vitamin E ebenso wichtig wie eine gute Durchblutung des Gehirns. Letztere wird durch Ginkgo Biloba und Ginseng stark gefördert. Ginkgo Biloba ist reich an Flavonoiden, wirkt antioxidativ und wird von der deutschen und österreichischen Alzheimer Gesellschaft als Alternativ-Antidementivum empfohlen“, so Prof. Rainer.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 1. Fachtag Vitalstoffe, 20. Jänner 2017, Haus der Ingenieure, Wien
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<p><strong>1</strong> Mursu J et al: Arch Intern Med 2011; 171(18): 1625-33 <strong>2</strong> Lopes Da Silva S et al: Alzheimers Dement 2014; 10(4): 485-502 <strong>3</strong> Van Dam F et al: Arch Gerontol Geriatr 2009; 48(3): 425-30 <strong>4</strong> Grünblatt E et al: J Psychiatr Res 2009; 43(3): 298-308</p>
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