
Ist ein Cut-off bei BMI 40 ethisch und fachlich vertretbar?
Bericht:
Dr. med. Felicitas Witte
Vielfach gilt ein Body-Mass-Index (BMI) von 40 und mehr als Kontraindikation für einen Gelenkersatz. Ob das gerechtfertigt ist, kritisieren Orthopäden aus den USA und plädieren für ein risikoadaptiertes Vorgehen statt eines strengen Cut-offs.
Adipositas ist ein zunehmendes Gesundheitsproblem, das die Behandlung von Menschen mit orthopädischen Krankheiten verkomplizieren kann. Gemäss World Obesity Federation lebten im Jahr 2020 weltweit schätzungsweise 770 Millionen adipöse Erwachsene, im Jahr 2030 soll es eine Milliarde sein. Das bedeutet: Eine von fünf Frauen und einer von sieben Männern wird übergewichtig sein.1 Besonders gross ist das Problem in den USA: Dort sind 4 von 10 Erwachsenen adipös und 1 von 10 ist schwer adipös.2
Adipositas erhöht das Risiko für eine Reihe von Krankheiten, unter anderem Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, Bluthochdruck, bestimmte Krebsarten, Asthma und Arthrose. Dieses erhöhte Risiko wird auf eine chronische, niedriggradige Entzündung zurückgeführt, die durch proinflammatorische Zytokine und Adipokine entsteht, die aus den Fettgewebszellen freigesetzt werden. Dass adipöse Menschen häufiger Arthrose bekommen, liegt zum einen am höheren Gewicht, das auf den Gelenken lastet, zum anderen werden hier ebenfalls die proinflammatorischen Substanzen verantwortlich gemacht, die zur Zerstörung des Knorpels und zu arthrotischen Veränderungen führen. In einer Studie mit 1,8 Millionen Teilnehmern, die im Schnitt über 4,45 Jahre beobachtet wurden, hatten Übergewichtige ein deutlich erhöhtes Risiko für Knie-, Hüft- und Handarthrose.3 Am grössten war der Einfluss des Gewichts am Knie (Abb. 1). «Normales» Übergewicht (BMI 25–29,9) erhöhte das Risiko für Kniearthrose um das Zweifache, Adipositas GradI (BMI 30–34,9) um das 3,1-Fache und Adipositas Grad II (BMI ≥35) um das 4,7-Fache. Das durch Adipositas bedingte Risiko für eine Arthrose stieg bei Kniearthrose mit dem Alter, während es bei Hüftarthrose konstanter blieb.
Problem: Infektionen und Dislokationen
Die Prävalenz einer Adipositas bei Patienten, die eine totale Knieendoprothese benötigen, ist höher als in der Allgemeinbevölkerung und stieg in den USA von 2000 bis 2008 stetig.4
Adipositas ist in den USA zur Volkskrankheit geworden. Von 1999/2000 bis 2017 stieg die Prävalenz von 30,5% auf 41,9% und die von Grad-III-Adipositas (BMI ≥40) von 4,7% auf 9,2%.2 Mit 44,3% sind am häufigsten Erwachsene zwischen 40 und 59 Jahren von Adipositas betroffen, knapp gefolgt von Menschen über 60Jahren mit 41,5%. Alarmierend ist, dass mit 39,8% fast genauso viele junge Menschen zwischen 20 und 39 Jahren adipös sind.
Diese zunehmende Zahl von jungen adipösen Menschen sieht der Präsident der American Association of Hip and Knee Surgeons, Dr. med. Bryan Springer vom OrthoCarolina Hip and Knee Center, Charlotte, NC, USA, als Dilemma für Orthopäden, die künstliche Gelenke einsetzen. Denn es sei zu erwarten, dass zum einen die Zahl der adipösen Patienten und zum anderen die Nachfrage nach Gelenkersatz steigen werde und somit auch die Rate an Komplikationen.
Gemeinsam mit Kollegen hat Springer kürzlich ein Update publiziert, wie bei Patienten mit starker Adipositas vorgegangen werden soll, die einen Hüft- oder Kniegelenkersatz benötigen.5 Eine zentrale Frage seines Berichtes ist, ob ein starrer Grenzwert von einem BMI von 40 als Kontraindikation für einen Gelenkersatz gelten soll. Das Problem ist nämlich, dass die Betroffenen ein erhöhtes Risiko für perioperative Komplikationen haben. Es gibt eine Vielzahl an Studien, die belegen, dass Patienten mit schwerer Adipositas und mehr ein deutlich erhöhtes Risiko für Infektionen und Prothesendislokationen haben. So war beispielsweise das Risiko für eine Infektion bei einem BMI von ≥40 um das 3,2-Fache erhöht im Vergleich zu einem BMI von weniger als 40. Bei einem BMI >50 stieg das Infektionsrisiko auf das 18,3-Fache.6 Das Risiko für eine Dislokation nach Hüftendoprothese ist bei einem BMI ≥35 um das 4,42-Fache erhöht im Vergleich zu einem BMI <25.7
Noch diverse andere Folgen und Komplikationen bei Adipositas wurden beschrieben: längere Operationszeiten, längerer Spitalaufenthalt, höhere Raten von Wiederaufnahmen nach Entlassung, mehr Reoperationen, tiefe Beinvenenthrombosen, Niereninsuffizienz, oberflächliche und tiefe Infektionen sowie Wunddehiszenz.8
2013 gab die American Association of Hip and Knee Surgeons Workgroup eine Stellungnahme heraus. Patienten mit einem BMI von über 30 hätten ein erhöhtes Risiko für perioperative Komplikationen und diejenigen mit einem BMI von über 40 ein deutlich erhöhtes Risiko für Infektionen und Revisionen. Deshalb solle der Patient vor Einbringen der Prothese dringend angehalten werden, abzunehmen und Begleitrisiken zu minimieren, also beispielsweise Diabetes und Bluthochdruck einstellen zu lassen.9
Abb. 2: Knieendoprothetik bei einem Patienten mit BMI 35 (zur Verfügung gestellt von PD Dr. med. Stephan Kirschner)
In der Folge wurde immer wieder diskutiert, einen BMI von 40 als strengen Cut-off für einen Gelenkersatz zu sehen.10 Auch in der AWMF-Leitlinie zur Knieendoprothese gilt ein Body-Mass-Index von ≥40 als relative Kontraindikation für die Knietotalendoprothese.11
Erst einmal abnehmen, dann weitersehen
Statt eines strengen Cut-offs bei einem BMI von 40 schlagen die Autoren des aktuellen Updates ein risikoadaptiertes Vorgehen vor.5 Denn ein strenger Grenzwert sei möglicherweise weder gerechtfertigt noch ethisch vertretbar. Der BMI alleine repräsentiere nicht das wirkliche perioperative Risiko und im Vergleich zu anderen Risikofaktoren sei sein Einfluss relativ schwach. Zwar ist das Körpergewicht prinzipiell modifizierbar, aber vielen Patienten gelingt es nicht abzunehmen und man würde mit einem strengen Cut-off viele Patienten von einem Gelenkersatz ausschliessen, die davon eigentlich profitieren könnten.
Dennoch sagen auch die Autoren des Updates: Jeder Versuch sollte unternommen werden, einen BMI von unter 40 zu erreichen – etwa mit bariatrischer Chirurgie. Gelingt das trotz grosser Anstrengung nicht, sei das ein Zeichen, dass dieser Risikofaktor für den Patienten nicht modifizierbar ist. Chirurg und Patient sollten dann die anderen modifizierbaren Konsequenzen von Adipositas so gut wie möglich behandeln, unter anderem Diabetes, ein metabolisches Syndrom, Bluthochdruck, obstruktive Schlafapnoe, Herzkrankheiten und Fehlernährung. Durch die optimale Einstellung dieser Adipositasfolgen könnte möglicherweise das perioperative Risiko bei der Gelenkersatzoperation etwas verringert werden. Chirurg und Patient sollten Risiken und Benefit eines Gelenkersatzes miteinander diskutieren, bevor man sich dafür entscheidet.
Dazu weiterführend:
«Wir müssen die Patienten mit den Fakten konfrontieren»
Literatur:
1 www.worldobesity.org/resources/resource-library/world-obesity-atlas-2022 2 www.cdc.gov/obesity/data/adult.html 3 Reyes C et al.: Association between overweight and obesity and risk of clinically diagnosed knee, hip, and hand osteoarthritis: a population-based cohort study. Arthritis Rheumatol 2016; 68: 1869-75 4 Odum SM et al.: National obesity trends in total knee arthroplasty. JArthroplasty 2013; 28(8 Suppl): 148-51 5 Jolissaint JE et al.: An update on the management and optimization of the patient with morbid obesity undergoing hip or knee arthroplasty. Orthop Clin North Am 2023; 54: 251-7 6 Malinzak RA et al.: Morbidly obese, diabetic, younger, and unilateral joint arthroplasty patients have elevated total joint arthroplasty infection rates. J Arthroplasty 2009; 24(6 Suppl): 84-8 7 Davis AM et al.: Does body mass index affect clinical outcome post-operatively and at five years after primary unilateral total hip replacement performed for osteoarthritis? A multivariate analysis of prospective data. J Bone Joint Surg Br 2011; 93(9): 1178-82 8 Zusmanovich M et al.: Postoperative complications of total joint arthroplasty in obese patients stratified by BMI. J Arthroplasty 2018; 33(3): 856-64 9 Workgroup of the American Association of Hip and Knee Surgeons Evidence Based Committee: Obesity and total joint arthroplasty: a literature based review. J Arthroplasty 2013; 28(5): 714-21 10 Ricciardi BF et al.: Clinical faceoff: should orthopaedic surgeons have strict BMI cutoffs for performing primary TKA and THA? Clin Orthop Relat Res 2019; 477(12): 2629-34 11 S2k-Leitlinie Indikation Knieendoprothese, AWMF-Registernummer: 187-004 www.awmf.org
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