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Neue Aspekte in der Behandlung mit Botulinumtoxin

<p class="article-intro">Seit Ende der 1980er-Jahre wird Botulinumtoxin (BoNT) in Österreich und Deutschland mit großem Erfolg eingesetzt. Das Indikationsspektrum konnte stetig erweitert werden und es gibt viele erfahrene Anwender aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Kam in den letzten Jahren das Gefühl auf, dass die Innovationen erschöpft seien und es nur noch die etablierte Anwendung gebe, sind mittlerweile erfreulich viele neue Entwicklungen zu registrieren, die sehr spannend und innovativ sind.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Botulinumtoxin ist bei vielen Indikationen zugelassen und bei etlichen auch Therapie der Wahl.</li> <li>Eine fl&auml;chendeckende Versorgung ist gew&auml;hrleistet, ger&auml;t aber aktuell in Gefahr, da die Zahl der Patienten seitens der &Auml;rzteschaft nicht mehr bew&auml;ltigt werden kann.</li> <li>Neue Botulinumtoxine werden aktuell entwickelt und erweitern den therapeutischen Einsatz.</li> <li>Mit neuen Indikationen und Zulassungen darf gerechnet werden.</li> </ul> </div> <h2>Botulinumtoxin-Anwender</h2> <p>Eigentlich sollte es in &Ouml;sterreich und Deutschland ausreichend Anwender und auch gen&uuml;gend Ambulanzen geben. Die &Ouml;sterreichische Dystonie- und Botulinumtoxin- Arbeitsgruppe und der Arbeitskreis Botulinumtoxin der DGN haben jeweils sehr viele aktive Mitglieder. Es f&auml;llt in letzter Zeit aber auf, dass trotzdem viele Patienten nicht mehr versorgt werden k&ouml;nnen oder teilweise lange Wartezeiten akzeptieren m&uuml;ssen. Dies hat viele Gr&uuml;nde, wobei der wichtigste Grund die unzureichende Erstattung sein d&uuml;rfte. Das zweite Problem k&ouml;nnte sein, dass mittlerweile eine gewisse Infrastruktur erforderlich ist, die man einerseits in einer Praxis nicht vorhalten kann, f&uuml;r die es andererseits aber auch keine finanzielle Gegenleistung gibt.</p> <h2>Problem der technischen Ausstattung</h2> <p>Mittlerweile erfolgt die Injektion von Botulinumtoxin vielerorts unter Ultraschallkontrolle. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen und die Patienten werden dies auch einfordern. Die Anschaffung eines Ger&auml;ts und/oder einer Sonde ist sehr kostspielig und wird sich selten amortisieren, aber auch das Erlernen der Methode ist aufwendig. Diese neue H&uuml;rde f&uuml;hrt dazu, dass sich einige Anwender zur&uuml;ckziehen oder erst gar nicht beginnen. Die Forderung, zus&auml;tzlich auch ein EMG einzusetzen, h&auml;lt wiederum einige j&uuml;ngere Kollegen davon ab, mit der Injektion zu beginnen, da es einen zus&auml;tzlichen apparativen und zeitlichen Aufwand darstellt. In der Spastiktherapie wird dieses Problem besonders deutlich. Man ben&ouml;tigt viel Zeit, ein Ultraschallger&auml;t sowie ein EMG mit Stimulation. Dar&uuml;ber hinaus ist bei der Injektion h&auml;ufig eine Assistenz notwendig und die anschlie&szlig;ende Weiterbehandlung durch Physiotherapeuten ist unverzichtbar.</p> <h2>Wissenschaftliche Aktivit&auml;ten</h2> <p>Es zeichnet sich deutlich ab, dass die Therapie mit Botulinumtoxin im universit&auml;ren Bereich an Bedeutung verliert, was sehr bedauerlich ist. Einerseits, weil ein wesentlicher Anteil der Ausbildung bisher an universit&auml;ren Einrichtungen geleistet wurde, andererseits, da dort die beste Infrastruktur f&uuml;r wissenschaftliches Arbeiten besteht. Auch eine klinische Evidenz bedarf eines hohen personellen und finanziellen Aufwands. <br />In der Anfangszeit der Botulinumtoxin- Anwendung gingen die Impulse und Ideen von den Anwendern aus und das Medikament wurde bei sehr vielen Indikationen eingesetzt. Heutzutage ist dies kaum noch m&ouml;glich, da die Anforderungen an Studien dramatisch gestiegen sind. Studien ohne Unterst&uuml;tzung der Industrie sind kaum noch durchf&uuml;hrbar. Dabei bedarf es dringend neutraler wissenschaftlicher Untersuchungen, insbesondere auch bei Indikationen, die keinen gro&szlig;en Umsatz versprechen und deswegen in Vergessenheit geraten sind. Aber auch Modifikationen von Therapieschemata bei zugelassenen Indikationen scheitern mittlerweile an den Zulassungstexten und sinnvolle Weiterentwicklungen werden dadurch behindert.</p> <h2>Etablierte Indikationen</h2> <p>Der Spasmus hemifacialis und der Blepharospasmus sind zugelassene und international anerkannte Indikationen. Aber auch hier finden Entwicklungen und Modifikationen statt, die teilweise noch nicht &uuml;berall etabliert wurden. Zu nennen w&auml;re beispielsweise die Differenzialdiagnose eines Blepharospasmus:</p> <ul> <li>Orbitaler Typ</li> <li>Palpebraler Typ</li> <li>Lid&ouml;ffnungs-Inhibitionstyp</li> <li>Apraxie der Lid&ouml;ffnung (keine Dystonie, keine Indikation f&uuml;r BoNT)</li> </ul> <p>Bei der zervikalen Dystonie d&uuml;rften die Einf&uuml;hrung des Col-Cap-Konzepts<sup>1</sup>, aber auch der Einsatz des Ultraschalls zu einem wesentlichen Fortschritt gef&uuml;hrt haben. Bedauerlicherweise sind diese beiden Entwicklungen international noch nicht &uuml;berall akzeptiert. <br />Die gr&ouml;&szlig;ten Aktivit&auml;ten finden derzeit im Bereich der Spastik statt. Wir setzen BoNT fr&uuml;her ein, lernen, die richtigen Ziele (&bdquo;Goals&ldquo;) zu definieren sowie auch die optimale Dosis und Intervalle zu w&auml;hlen. Au&szlig;erdem streben wir einen Funktionsgewinn statt einer reinen Tonusreduktion an.</p> <h2>Arbeitsgruppen</h2> <p>Damit wir uns weiterentwickeln, ben&ouml;tigen wir Zentren mit hoher Expertise, wir brauchen regelm&auml;&szlig;igen Austausch, ein gutes nationales und internationales Netzwerk und nat&uuml;rlich auch die nationalen Arbeitsgruppen, die alles b&uuml;ndeln k&ouml;nnten. Ideal w&auml;re auch, wenn die Arbeitsgruppen der deutschsprachigen L&auml;nder verst&auml;rkt zusammenarbeiten, wie dies stellenweise auch schon geschieht. Auf internationaler Ebene hat mittlerweile die INA (International Neurotoxin Association) die Rolle einer Dachgesellschaft eingenommen.</p> <h2>Was ist zu tun?</h2> <p>Die Therapie mit Botulinumtoxin findet mittlerweile auf einem sehr hohen Niveau statt. So hat insbesondere die Sonografie unsere Therapie wesentlich weiterentwickelt. Aktuell finden die meisten Entwicklungen in den Grundlagenwissenschaften statt,<sup>2</sup> jedoch d&uuml;rfen wir die Patientenversorgung nicht vergessen. Es n&uuml;tzt wenig, wenn wir unsere Therapie immer weiter optimieren, die Therapie aber nur noch wenigen Patienten zugutekommt. Die Kostentr&auml;ger sind aufgefordert, gemeinsam mit den Behandlern tragf&auml;hige Konzepte zu entwickeln, damit eine fl&auml;chendeckende Versorgung erfolgen kann. Die Kliniken sind aufgefordert, das therapeutische Spektrum anzubieten, auch wenn es sich im Einzelfall finanziell nicht rechnet. Die Fachgesellschaften sind aufgerufen, die positiven Prozesse zu unterst&uuml;tzen und Fehlentwicklungen zu verhindern.</p> <h2>Neue Entwicklungen</h2> <p>Aktuell werden Phase-II-Studien bei postoperativem Vorhofflimmern, Depression, Schmerz, Tremor und der &Auml;sthetik durchgef&uuml;hrt. Es wird an neuen Botulinumtoxinen geforscht, die schneller und k&uuml;rzer, aber auch l&auml;nger wirken. Zu nennen sind auch die Entwicklungen von BoNT D, E und X. Weiterhin wird an BoNT in fertiger L&ouml;sung und rekombinanten BoNT gearbeitet, erste Studien sind bereits publiziert. Mit der Markteinf&uuml;hrung von Daxibotulinumtoxin A darf mittelfristig gerechnet werden.<sup>3</sup><br /> Nicht ganz unproblematisch ist das vielf&auml;ltige Angebot unterschiedlicher Botulinumtoxine, z. B. in Asien. Mittlerweile sind &uuml;ber 10 Produkte am Markt. Hier m&uuml;ssen die Verantwortlichen daf&uuml;r sorgen, dass die Qualit&auml;tsstandards eingehalten werden.</p> <h2>Perspektive</h2> <p>Die Erfolgsgeschichte der Botulinumtoxin- Therapie hat noch nicht ihren H&ouml;hepunkt erreicht. Wir werden neue therapeutische Ans&auml;tze entwickeln, von denen wir vor 20 Jahren nicht zu tr&auml;umen wagten. Daneben werden neue Botulinumtoxine eine individuellere Therapie erm&ouml;glichen. Wir sind aufgerufen, diese Entwicklungen aktiv mitzugestalten, zum Wohle unserer Patienten. Hierf&uuml;r m&uuml;ssen wir unseren klinischen und wissenschaftlichen Nachwuchs motivieren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1902_Weblinks_s15_tab1.jpg" alt="" width="779" height="710" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1902_Weblinks_s15_tab2.jpg" alt="" width="650" height="742" /></p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Reichel G: Cervical dystonia: a new phenomenological classification for botulinum toxin therapy. Basal Ganglia 2011; 1: 5-12 <strong>2</strong> Dong M et al.: SV2 is the protein receptor for botulinum neurotoxin A. Science 2006; 312: 592-6 <strong>3</strong> Jankovic J et al.: Injectable daxibotulinumtoxinA in cervical dystonia: a phase 2 dose-escalation multicenter study. Mov Disord Clin Pract 2018; 5: 273-82</p> </div> </p>
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