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Neue Aspekte in der Behandlung mit Botulinumtoxin
Jatros
Autor:
Prof. Dr. Wolfgang Jost
Parkinson-Klinik Ortenau, Wolfach,<br> Deutschland<br> E-Mail: jost@botulinumtoxin.de
30
Min. Lesezeit
09.05.2019
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<p class="article-intro">Seit Ende der 1980er-Jahre wird Botulinumtoxin (BoNT) in Österreich und Deutschland mit großem Erfolg eingesetzt. Das Indikationsspektrum konnte stetig erweitert werden und es gibt viele erfahrene Anwender aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Kam in den letzten Jahren das Gefühl auf, dass die Innovationen erschöpft seien und es nur noch die etablierte Anwendung gebe, sind mittlerweile erfreulich viele neue Entwicklungen zu registrieren, die sehr spannend und innovativ sind.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Botulinumtoxin ist bei vielen Indikationen zugelassen und bei etlichen auch Therapie der Wahl.</li> <li>Eine flächendeckende Versorgung ist gewährleistet, gerät aber aktuell in Gefahr, da die Zahl der Patienten seitens der Ärzteschaft nicht mehr bewältigt werden kann.</li> <li>Neue Botulinumtoxine werden aktuell entwickelt und erweitern den therapeutischen Einsatz.</li> <li>Mit neuen Indikationen und Zulassungen darf gerechnet werden.</li> </ul> </div> <h2>Botulinumtoxin-Anwender</h2> <p>Eigentlich sollte es in Österreich und Deutschland ausreichend Anwender und auch genügend Ambulanzen geben. Die Österreichische Dystonie- und Botulinumtoxin- Arbeitsgruppe und der Arbeitskreis Botulinumtoxin der DGN haben jeweils sehr viele aktive Mitglieder. Es fällt in letzter Zeit aber auf, dass trotzdem viele Patienten nicht mehr versorgt werden können oder teilweise lange Wartezeiten akzeptieren müssen. Dies hat viele Gründe, wobei der wichtigste Grund die unzureichende Erstattung sein dürfte. Das zweite Problem könnte sein, dass mittlerweile eine gewisse Infrastruktur erforderlich ist, die man einerseits in einer Praxis nicht vorhalten kann, für die es andererseits aber auch keine finanzielle Gegenleistung gibt.</p> <h2>Problem der technischen Ausstattung</h2> <p>Mittlerweile erfolgt die Injektion von Botulinumtoxin vielerorts unter Ultraschallkontrolle. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen und die Patienten werden dies auch einfordern. Die Anschaffung eines Geräts und/oder einer Sonde ist sehr kostspielig und wird sich selten amortisieren, aber auch das Erlernen der Methode ist aufwendig. Diese neue Hürde führt dazu, dass sich einige Anwender zurückziehen oder erst gar nicht beginnen. Die Forderung, zusätzlich auch ein EMG einzusetzen, hält wiederum einige jüngere Kollegen davon ab, mit der Injektion zu beginnen, da es einen zusätzlichen apparativen und zeitlichen Aufwand darstellt. In der Spastiktherapie wird dieses Problem besonders deutlich. Man benötigt viel Zeit, ein Ultraschallgerät sowie ein EMG mit Stimulation. Darüber hinaus ist bei der Injektion häufig eine Assistenz notwendig und die anschließende Weiterbehandlung durch Physiotherapeuten ist unverzichtbar.</p> <h2>Wissenschaftliche Aktivitäten</h2> <p>Es zeichnet sich deutlich ab, dass die Therapie mit Botulinumtoxin im universitären Bereich an Bedeutung verliert, was sehr bedauerlich ist. Einerseits, weil ein wesentlicher Anteil der Ausbildung bisher an universitären Einrichtungen geleistet wurde, andererseits, da dort die beste Infrastruktur für wissenschaftliches Arbeiten besteht. Auch eine klinische Evidenz bedarf eines hohen personellen und finanziellen Aufwands. <br />In der Anfangszeit der Botulinumtoxin- Anwendung gingen die Impulse und Ideen von den Anwendern aus und das Medikament wurde bei sehr vielen Indikationen eingesetzt. Heutzutage ist dies kaum noch möglich, da die Anforderungen an Studien dramatisch gestiegen sind. Studien ohne Unterstützung der Industrie sind kaum noch durchführbar. Dabei bedarf es dringend neutraler wissenschaftlicher Untersuchungen, insbesondere auch bei Indikationen, die keinen großen Umsatz versprechen und deswegen in Vergessenheit geraten sind. Aber auch Modifikationen von Therapieschemata bei zugelassenen Indikationen scheitern mittlerweile an den Zulassungstexten und sinnvolle Weiterentwicklungen werden dadurch behindert.</p> <h2>Etablierte Indikationen</h2> <p>Der Spasmus hemifacialis und der Blepharospasmus sind zugelassene und international anerkannte Indikationen. Aber auch hier finden Entwicklungen und Modifikationen statt, die teilweise noch nicht überall etabliert wurden. Zu nennen wäre beispielsweise die Differenzialdiagnose eines Blepharospasmus:</p> <ul> <li>Orbitaler Typ</li> <li>Palpebraler Typ</li> <li>Lidöffnungs-Inhibitionstyp</li> <li>Apraxie der Lidöffnung (keine Dystonie, keine Indikation für BoNT)</li> </ul> <p>Bei der zervikalen Dystonie dürften die Einführung des Col-Cap-Konzepts<sup>1</sup>, aber auch der Einsatz des Ultraschalls zu einem wesentlichen Fortschritt geführt haben. Bedauerlicherweise sind diese beiden Entwicklungen international noch nicht überall akzeptiert. <br />Die größten Aktivitäten finden derzeit im Bereich der Spastik statt. Wir setzen BoNT früher ein, lernen, die richtigen Ziele („Goals“) zu definieren sowie auch die optimale Dosis und Intervalle zu wählen. Außerdem streben wir einen Funktionsgewinn statt einer reinen Tonusreduktion an.</p> <h2>Arbeitsgruppen</h2> <p>Damit wir uns weiterentwickeln, benötigen wir Zentren mit hoher Expertise, wir brauchen regelmäßigen Austausch, ein gutes nationales und internationales Netzwerk und natürlich auch die nationalen Arbeitsgruppen, die alles bündeln könnten. Ideal wäre auch, wenn die Arbeitsgruppen der deutschsprachigen Länder verstärkt zusammenarbeiten, wie dies stellenweise auch schon geschieht. Auf internationaler Ebene hat mittlerweile die INA (International Neurotoxin Association) die Rolle einer Dachgesellschaft eingenommen.</p> <h2>Was ist zu tun?</h2> <p>Die Therapie mit Botulinumtoxin findet mittlerweile auf einem sehr hohen Niveau statt. So hat insbesondere die Sonografie unsere Therapie wesentlich weiterentwickelt. Aktuell finden die meisten Entwicklungen in den Grundlagenwissenschaften statt,<sup>2</sup> jedoch dürfen wir die Patientenversorgung nicht vergessen. Es nützt wenig, wenn wir unsere Therapie immer weiter optimieren, die Therapie aber nur noch wenigen Patienten zugutekommt. Die Kostenträger sind aufgefordert, gemeinsam mit den Behandlern tragfähige Konzepte zu entwickeln, damit eine flächendeckende Versorgung erfolgen kann. Die Kliniken sind aufgefordert, das therapeutische Spektrum anzubieten, auch wenn es sich im Einzelfall finanziell nicht rechnet. Die Fachgesellschaften sind aufgerufen, die positiven Prozesse zu unterstützen und Fehlentwicklungen zu verhindern.</p> <h2>Neue Entwicklungen</h2> <p>Aktuell werden Phase-II-Studien bei postoperativem Vorhofflimmern, Depression, Schmerz, Tremor und der Ästhetik durchgeführt. Es wird an neuen Botulinumtoxinen geforscht, die schneller und kürzer, aber auch länger wirken. Zu nennen sind auch die Entwicklungen von BoNT D, E und X. Weiterhin wird an BoNT in fertiger Lösung und rekombinanten BoNT gearbeitet, erste Studien sind bereits publiziert. Mit der Markteinführung von Daxibotulinumtoxin A darf mittelfristig gerechnet werden.<sup>3</sup><br /> Nicht ganz unproblematisch ist das vielfältige Angebot unterschiedlicher Botulinumtoxine, z. B. in Asien. Mittlerweile sind über 10 Produkte am Markt. Hier müssen die Verantwortlichen dafür sorgen, dass die Qualitätsstandards eingehalten werden.</p> <h2>Perspektive</h2> <p>Die Erfolgsgeschichte der Botulinumtoxin- Therapie hat noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Wir werden neue therapeutische Ansätze entwickeln, von denen wir vor 20 Jahren nicht zu träumen wagten. Daneben werden neue Botulinumtoxine eine individuellere Therapie ermöglichen. Wir sind aufgerufen, diese Entwicklungen aktiv mitzugestalten, zum Wohle unserer Patienten. Hierfür müssen wir unseren klinischen und wissenschaftlichen Nachwuchs motivieren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1902_Weblinks_s15_tab1.jpg" alt="" width="779" height="710" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1902_Weblinks_s15_tab2.jpg" alt="" width="650" height="742" /></p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Reichel G: Cervical dystonia: a new phenomenological classification for botulinum toxin therapy. Basal Ganglia 2011; 1: 5-12 <strong>2</strong> Dong M et al.: SV2 is the protein receptor for botulinum neurotoxin A. Science 2006; 312: 592-6 <strong>3</strong> Jankovic J et al.: Injectable daxibotulinumtoxinA in cervical dystonia: a phase 2 dose-escalation multicenter study. Mov Disord Clin Pract 2018; 5: 273-82</p>
</div>
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