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Leistenschmerz: Neuer Algorithmus hilft bei der schwierigen Diagnose

Klagt ein Sportler über Schmerzen in der Leiste, kann dies die verschiedensten Ursachen haben. Oftmals liegen mehrere Pathologien vor. Experten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich haben nach einem Konsensus-Treffen einen Algorithmus aufgestellt. Das Wichtigste bei der Diagnostik ist: dem Patienten aufmerksam zuhören, ihn sorgfältig untersuchen und bei Verdacht auf eine nichtorthopädische Ursache zeitnah an Kollegen überweisen.

Diagnose und Therapie von Leistenschmerzen sind eine besondere Herausforderung. Im Leistenbereich liegen verschiedene Strukturen eng beeinander, die Schmerzen verusachen können: Hüftgelenk und Schambein, Leistenkanal, aber auch fasziale, muskuläre und nervale Strukturen der Bauchwand. Hinzu kommt erschwerend, dass oft mehrere Pathologien dahinterstecken. Am häufigsten sind Sportler betroffen, die Stop-and-go-Sportarten betreiben, wie Fussball, Basketball, Handball, American Football oder Hockey.

Eine Forschergruppe um den Orthopäden Dr. Darren de Sa von der McMaster University in Hamilton hat in 73 Studien mit insgesamt 4655 Sportlern mit Leistenschmerzen nach den Gründen gesucht, warum diese operiert werden mussten.1 Intra- und extraartikuläre Ursachen hielten sich hierbei die Waage. Mehr als 80% der Ursachen waren fünf Problemen zuzuordnen: femoroacetabuläres Impingement (FAI; 32%), schambeinbezogene Pathologie (24%), adduktorbezogene Pathologie (12%), inguinale Pathologie (10%) und Pathologie am Labrum (5%), wobei ein Drittel der Labrenpathologien zum FAI beitrug. Die übrigen 17% der Ursachen verteilten sich auf viele andere Ursachen, die jeweils weniger als 2% ausmachten. Nur ein paar Beispiele: schnappende Hüfte, Myositis ossificans, intraartikuläre lose Fremdkörper, degenerative Gelenkerkrankung, Acetabulumfraktur, Stressfraktur des Schenkelhalses oder traumatische Hüftdislokation. Abgesehen davon können Leistenschmerzen noch diverse andere, nicht sportbedingte Ursachen haben (Tab.1).

Tab. 1: Nicht sportbedingte Ursachen von Leistenschmerzen (Quelle: Morelli et al. 2005)2

«Die Patienten kommen oft zu spät zum Fachmann», sagt Dr. med. Michael Enenkel, Sportorthopädie-Teamleiter im Orthopädischen Spital Speising in Wien. «Sie lassen sich erst vom Masseur oder von anderen Therapeuten behandeln, ohne ihre Beschwerden vernünftig abklären zu lassen.»

<< Man muss sich Zeit nehmen und dem Patienten genau zuhören.>>
M. Enenkel, Wien

Aufmerksam fragen, gründlich untersuchen

Die Prävalenz der Leistenschmerzen bei Sportlern hängt unter anderem vom Alter, von der Sportart und vom Leistungslevel ab. So klagten beispielsweise in Studien 5–9% der Sportler an Highschools,2,3 3–11% der Sportler, die auf Olympia-Level trainierten,4 und 10–18% der Elite-Fussballspieler5 über Leistenschmerzen.

Obwohl Leistenschmerzen bei Sportlern so häufig vorkommen, gibt es bisher wenige standardisierte Empfehlungen zum diagnostischen Vorgehen und zur Therapie. 2017 haben sich deshalb Experten aus verschiedenen Fachrichtungen in Hamburg getroffen und einen Konsensus erarbeitet.6 Dieser bietet eine gute Orientierung für behandelnde Ärzte, vor allem der darin abgebildete Algorithmus (Abb.1). Am Treffen nahmen Hüftchirurgen, Hüftorthopäden und Hernienchirurgen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich teil. Die Kollegen stammten sowohl aus Universitätskliniken als auch aus kleineren Krankenhäusern und Praxen, damit Erfahrungen aus den unterschiedlichen Versorgungsebenen mit einfliessen konnten. Spesen zahlten die Teilnehmer selbst und es gab keine Unterstützung von der Industrie. «Ich finde dieses und frühere Konsensustreffen gut und wichtig», sagt Dr. med. Stefan Fröhlich, Oberarzt im Universitären Zentrum für Prävention und Sportmedizin in der Universitätsklinik Balgrist in Zürich. «Denn die Diagnostik ist nicht einfach, und mit dem Konsensus haben wir eine einheitliche Vorgehensweise.»

Abb. 1: Algorithmus zur Diagnostik von Leistenschmerzen (nach Schröder JH et al. 2020)6

In dem Konsensusbericht geht es aber lediglich um das Hüftgelenk und den Leistenkanal. Leistenschmerzen, die mit den Adduktoren, dem M. iliopsoas und dem Schambein assoziiert sind, so die Autoren, blieben unberücksichtigt, sollten vom Untersucher jedoch differenzialdiagnostisch nicht ausser Acht gelassen werden.

Viel Wert legt der Konsensus auf die Anamnese. Mit den richtigen Fragen kann man oft schon einen Hinweis bekommen, was hinter den Leistenschmerzen stecken könnte. So sollte man genau nach dem Anlass fragen, der die Schmerzen ausgelöst hat, danach, in welchen Situationen sie auftreten, wie lange sie schon dauern, wie sie sich anfühlen, wo sie am schlimmsten sind und ob und wohin sie ausstrahlen. «Man muss sich Zeit nehmen und dem Patienten genau zuhören», sagt Dr. Enenkel. «Und nicht vergessen, nach früheren Beschwerden und Behandlungen zu fragen, etwa ob man als Baby mit Ultraschall an der Hüfte untersucht wurde und sich dort etwas Auffälliges gezeigt hat.»

Schmerzen, die bei Beugung der Hüfte und tiefem Sitzen am schlimmsten sind und die der Patient im vorderen und seitlichen Bereich lokalisiert, weisen auf eine Pathologie in der Hüfte hin (Abb.1, blauer Bereich). Die Patienten beschreiben häufig zusätzlich zum akuten Schmerz längere, über Stunden anhaltende Symptome, die dann auch unabhängig vom Sport auftreten. Sagt der Patient hingegen, die Schmerzen seien stärker, wenn er niest, und strahlen sie bis in das Skrotum oder in die Innenseite des proximalen Oberschenkels aus, spricht das eher für ein Problem in der Leiste (Abb.1, grüner Bereich). Mit der klinischen Untersuchung lassen sich dann diese beiden «Diagnosepfade» weiter verfolgen. Vermutet man eine Hüftpathologie, erhärtet sich der Verdacht, wenn man beim Untersuchen mechanische Symptome wie Schnappen oder Blockierungen bemerkt. Ebenfalls für ein Problem in der Hüfte spricht, wenn es dem Patienten bei der Innenrotation in Beugeposition wehtut oder bei einer Kombinationsbewegung mit Flexion, Adduktion und Innenrotation (Impingement- oder FADDIR-Test). Für eine Erkrankung in der Leiste spricht, wenn der Patient auf der betroffenen Seite bei Palpation am äusseren Leistenring Schmerzen angibt und man eine Wölbung, Schwellung oder Hernie ertastet.

Bildgebung je nach Verdacht

Vermutet man eine Leistenpathologie, gilt als Goldstandard der Bildgebung zunächst ein Ultraschall. «Bei Verdacht auf eine Hüftpathologie bringt der Ultraschall dagegen aber kaum etwas», sagt Fröhlich. «Man darf nicht blind irgendeine Untersuchung anordnen, sondern muss sich genau überlegen, welche Untersuchung bei welcher Verdachtsdiagnose sinnvoll ist.»

Sprechen Anamnese und klinische Untersuchung eher für eine Pathologie in der Hüfte, empfehlt der Konsensus ein konventionelles Röntgen des Beckens mit Darstellung des Hüftgelenkes in einer zweiten Ebene und eine Magnetresonanztomografie (MRT) oder Arthro-MRT.

Ob gezielte Infiltrationen bei der Diagnose eines Problems des Leistenkanals helfen, ist aufgrund des derzeitigen Wissenstandes unklar. Einzelne Studien weisen darauf hin, dass man die Diagnose einer Sportlerleiste durch eine gezielte Infiltration der Leistennerven (N. iliohypogastricus, N. ilioinguinalis und N. genitofemoralis) stellen kann. Zur Definition: Die Sportlerleiste sollte nicht als klassische Hernie gesehen werden, sondern als eigene Entität, die sich durch ihren typischen Schmerzcharakter auszeichnet. Während mehrere Experten eine «inguinal disruption» als Ursache einer Sportlerleiste vermuten, verstehen andere Autoren darunter eher eine Protrusion der Leistenkanalhinterwand mit lokaler Nervenkompression.

Zu diagnostischen Infiltrationen in den Hüftbereich gibt es dagegen mehr Evidenz.9,10 Die Experten kamen auf dem Konsensustreffen überein, dass man eine diagnostische Infiltration fakultativ durchführen könne. Sie könnte helfen, in unklaren Fällen die Ursache des Schmerzes leichter zu finden – vor allem wenn man eine Pathologie im Hüftgelenk vermutet, aber sich nicht sicher ist. Angezeigt ist eine diagnostische Infiltration gemäss Konsensus dann, wenn Anamnese und klinische Untersuchung für ein Problem in der Hüfte sprechen, sich dies aber weder im Röntgenbild noch in der MRT nachweisen lässt. Das Ergebnis der Infiltration entscheide dann über das weitere Prozedere.

Die Therapie von Leistenschmerzen ist ähnlich mannigfaltig wie die Ursachen und richtet sich natürlich nach der zugrunde liegenden Pathologie. Sie reicht von konservativen Massnahmen mit Physiotherapie, manueller Therapie oder Infiltrationen bis zu operativen Eingriffen im Falle einer Leistenhernie oder bei einem Impingementsyndrom. Sprechen Anamnese, Untersuchung und Bildgebung für eine Hüftpathologie, ist zunächst ein konservatives Vorgehen empfohlen. Hilft diese Behandlung nicht, ist über eine Operation zu diskutieren – etwa im Falle eines Impingementsyndroms oder einer Hüftdysplasie. Diagnostiziert man eine Leistenhernie, ist die Indikation zur Operation viel eher gegeben. Ein Problem sind Leistenschmerzen ohne nachweisbare strukturelle Veränderungen. Dann seien gemäss Konsensus diagnostische Infiltrationen der Leistennerven indiziert, denn es könnte eine Neuralgie dahinter stecken. Lindern Infiltrationen die Schmerzen nicht, muss man an andere Ursachen denken, etwa Krankheiten des M. iliopsoas oder des Schambeinkomplexes. Man solle aber nicht zu lange warten, den Patienten an einen Kollegen zu überweisen, sagt Michael Enenkel. «Auch wenn es selten ist: Leistenschmerzen können auch durch urologische, gynäkologische oder abdominelle Probleme bedingt sein und ein Therapieverzug kann sich unter Umständen ziemlich negativ auswirken.»

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1 de Sa D et al.: Br J Sports Med 2016; 50: 1181-6 2 Morelli V, Weaver V: Prim Care Clin Office Pract 2005; 32: 163-83 3 Morelli V, Espinoza L. Prim Care Clin Office Pract 2005; 32: 185-200 4 Fricker PA: Br J Sports Med 1997; 31: 97-101 5 Nicholas SJ, Tyler TF: Sports Med 2002; 32: 339-44 6 Schröder JH et al.: Orthopäde 2020; 49: 211-7 7 Shanthanna H: Case Rep Anesthesiol 2014; 371703 8 Krüger J: Sports Orthop Traumatol 2017; 33: 113-9 9 Payne JM: Phys Med Rehabil Clin N Am 2016; 27: 607-29 10 Lynch TS et al.: Arthroscopy 2016; 32: 1702-11

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