«Mit Fingerspitzengefühl und klinischer Erfahrung auf Warnsignale achten»
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Tobias Renkawitz
Ärztlicher Direkor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Heidelberg
Leiter der Arbeitsgemeinschaft „Evidenzbasierte Medizin in Orthopädie und Unfallchirurgie“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU)
Das Interview führte
Dr. med. Felicitas Witte
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Orthopäden und Unfallchirurgen sollten zuallererst rasch beurteilen können, wie schwer ein Trauma ist, und den Patienten vor einer körperlichen Verschlechterung durch Traumafolgen schützen. Die neue Leitlinie «Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule» der Deutschen Gesellschaft für Neurologie fordert, nach psychischen Belastungsreaktionen frühzeitig zu suchen und sie einzuschätzen.1 Das soll Chronifizierungen vermeiden. Wie man die Suche nach psychischen Aspekten in den Alltag einbaut, warum Halskrawatten kontraproduktiv sind und wie man den Patienten nach dem Unfall am besten begleitet, erklärt Prof. Renkawitz aus Heidelberg.
Hat es die neue Leitlinie gebraucht?
T. Renkawitz: Die Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule nach Unfällen ist noch immer einer der häufigsten Beschwerdekomplexe in Europa. Gleichzeitig verdoppelt sich das medizinische Wissen alle fünf Jahre. Es ist deshalb richtig, Leitlinien regelmässig zu überprüfen und gemäss den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen. Insofern: Ja, eine Aktualisierung war angebracht.
Was ist neu für Sie?
T. Renkawitz: Die Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie hat sich bereits in der Vergangenheit mit entsprechenden Konsensuspapieren aktiv in die Diskussion zu einer wissenschaftlich basierten Behandlungsstrategie bei Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule eingebracht. Einige Aspekte sind gleich geblieben, einige hinzugekommen. Es bleibt bei dem zentralen Leitgedanken, dass die Erkennung und Beurteilung des Verletzungsschweregrades das weitere Vorgehen bestimmen – was in der Unfallchirurgie selbstverständlich sein sollte. Dabei arbeiten, je nach Verletzungsmuster, unterschiedliche Fachdisziplinen zusammen. Die Leitlinie betont nochmals, dass leichte bis mässige Beschleunigungsverletzungen einer frühzeitig aktivierend-konservativen Behandlung zugeführt werden sollen.
Kam der konservative Ansatz in früheren Leitlinien-Versionen zu kurz?
T. Renkawitz: Nein, das würde ich nicht so sehen. Die Stärken der konservativen Orthopädie in der Therapie der Folgezustände nach dieser Verletzung sind nicht neu. Dieses Vorgehen ist immer Teamarbeit, verlangt also nach einer guten Abstimmung zwischen Ärzten, Physio- und Schmerztherapeuten.
Es heisst in der Leitlinie: «Ebenso wichtig ist eine gründliche körperliche Untersuchung unter Berücksichtigung psychischer Aspekte des Verletzungserlebens.» Wie soll das gehen in der Notaufnahme? Wie soll sich der Arzt dort Zeit nehmen für eine psychische Anamnese?
T. Renkawitz: Ich halte es für grundsätzlich richtig, dass Mechanismen der Schmerzchronifizierung nach einem Beschleunigungstrauma berücksichtigt werden. Allerdings wird der Notarzt in der Notaufnahme seinen ersten Fokus auf den Ausschluss struktureller Schäden und potenziell lebensbedrohlicher Komplikationen legen. Richtigerweise wird in der Leitlinie darauf hingewiesen, dass man bei Zeichen einer beginnenden Schmerzchronifizierung bereits im frühen Heilungsprozess die Expertise von Schmerztherapeuten, Psychologen und Psychosomatiker einholen sollte.
Ein Schleudertrauma verläuft ja glücklicherweise häufig ohne Komplikationen und der Patient geht rasch wieder nach Hause. Wer soll dann wann die Zeichen einer beginnenden Schmerzchronifizierung erkennen?
T. Renkawitz:Das ist eine gute Frage, die die Leitlinie nicht beantwortet. Für Orthopäden und Unfallchirurgen geht es darum, nach einem Trauma eine Ersteinschätzung durchzuführen, den Rehabilitationsverlauf bewusst zu begleiten und mit Fingerspitzengefühl und klinischer Erfahrung auf Warnsignale zu achten.
Wie gehen Sie in Ihrer Klinik vor?
T. Renkawitz: Patienten mit einer Distorsion im Bereich der Halswirbelsäule werden in unserer Notaufnahme strukturiert abgeklärt. Im Vordergrund stehen dabei eine genaue Anamnese und körperliche Untersuchung. Auf Symptome einer akuten Belastungsreaktion sollen die Kollegen auch schon in der Notaufnahme achten – also beispielsweise gesteigerte Affekte wie Wut oder Trauer, überschiessende vegetative Reaktionen wie Herzrasen oder Schwitzen. Bei psychoreaktiv auffälligen Patienten können wir unmittelbar oder im weiteren Verlauf auch Spezialisten vom Zentrum für psychosoziale Medizin im Universitätsklinikum Heidelberg hinzuziehen. So gehen wir aber generell bei allen Verletzungen vor – unabhängig von der Leitlinie Schleudertrauma.
Sind Orthopäden und Unfallchirurgen genügend geschult, um psychische Beschwerden zu erkennen?
T. Renkawitz: Das Erlernen einer orientierenden psychosomatischen Ersteinschätzung zur Erkennung einer akuten Belastungsreaktion nach einem Trauma ist Teil der Facharztausbildung. Die genauere Beurteilung der Schwere und die Therapie sind dann natürlich Domäne der Kollegen aus Psychotraumatologie, Psychosomatik und Psychologie. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Natürlich sollten Orthopäden und Unfallchirurgen psychische Belastungsreaktionen erkennen und einschätzen. Aber zu allererst sollen sie rasch beurteilen können, wie schwer ein Trauma ist, und den Patienten vor einer körperlichen Verschlechterung durch Traumafolgen schützen.
Was gehört dazu?
T. Renkawitz: Zunächst muss man Begleitverletzungen und strukturelle Schäden ausschliessen, also Verletzungen an Knochen, Weichteilen, Gefässen und Nerven im Bereich der Halswirbelsäule und des Schädels. Wenn die Indikation zur weiterführenden bildgebenden Diagnostik besteht (Abb.1), wird eine Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule in drei Ebenen durchgeführt. Bei neurologischen Auffälligkeiten oder einer relevanten Weichteilverletzung – also etwa Hämatom, Schwellung oder tastbare Verhärtungen, die auf Einblutungen, knöcherne Verletzungen, Gefässverletzungen oder eine andere tieferliegende Verletzung hinweisen können – ist ergänzend eine spinale MRT oder CT indiziert. Gegebenenfalls kommen noch weitere fachspezifische Abklärungen hinzu, etwa bei den Kollegen aus HNO, Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie, Zahnmedizin, Neurologie oder Psychologie.
Abb. 1: Algorithmus zur Entscheidung, ob eine bildgebende Diagnostik indiziert ist (mod. nach Canadian C-Spine Rule)2,3
In der Leitlinie heisst es: «Über- wie Unterdiagnostik sind gleichermassen zu vermeiden.» Wie gelingt diese schwierige Balance?
T. Renkawitz: Wir Ärzte neigen im Klinikalltag manchmal zur Über- oder Unterdiagnostik. Überdiagnostik sicherlich auch aus einer gewissen Sorge heraus, dass man lieber einmal einen Befund zu viel als zu wenig erhebt, um möglicher Kritik durch Vorgesetzte oder juristischen Konsequenzen vorzubeugen. Es ist deshalb wichtig, dass wir uns in unseren täglichen Therapieentscheidungen tatsächlich streng am Patientennutzen orientieren – ein Konzept, das mir als Leiter der Arbeitsgemeinschaft evidenzbasierte Medizin der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie besonders am Herzen liegt.
Sollte man nach jedem Schleudertrauma ein Röntgenbild anordnen?
T. Renkawitz: Die Leitlinie empfiehlt hier ein differenziertes Vorgehen. Gibt es bei jüngeren Patienten beispielsweise keine Hinweise auf einen sogenannten «gefährlichen Unfallmechanismus», wie etwa einen Sturz aus über 1Meter Höhe oder einen Verkehrsunfall mit mehr als 100km/h, und ist der Patient in der klinischen Untersuchung unauffällig, kann auf eine strahlenbelastende Aufnahme im Bereich der Halswirbelsäule vorerst verzichtet werden.
Wann sollte ein Orthopäde dem Patienten empfehlen, einen Kollegen aufzusuchen, etwa einen Psychiater, Psychologen, Schmerzmediziner, Schwindelexperten oder HNO-Arzt?
T. Renkawitz: Akute Hörstörungen, Beeinträchtigung des Gleichgewichts oder der Denkfähigkeit sind grundsätzlich immer abklärungsbedürftig. Wenn sich unmittelbar nach dem Unfall oder in Verlaufskontrollen nach dem Unfall eine Beeinträchtigung der psychosomatischen Situation zeigt oder eine auf den Unfall bezogene psychoreaktive Störung zu erkennen ist, sollten Patienten immer interdisziplinär beurteilt werden. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang zu betonen, dass an erster Stelle eine umfangreiche muskuloskelettale Abklärung erfolgen sollte, um eine strukturelle Ursache für die Beschwerden vorher sicher auszuschliessen. Die klinische Erfahrung zeigt, dass bei einem Grossteil der Beschleunigungsverletzungen die Beschwerden nach spätestens 4 Wochen abgeklungen sind, vorausgesetzt, der Patient hat die empfohlene aktivierend-konservative Behandlung positiv gestaltet.
Wie genau sieht diese Behandlung aus?
T. Renkawitz: Ausreichender, aber befristeter Einsatz entzündungshemmender und schmerzstillender Medikamente, physikalische Therapie (Kaltkompresse, später lokale Wärme oder Massagen, Elektrotherapie), allenfalls Akupunktur, schonende aktive Bewegungs- und Lockerungsübungen, später Kräftigung der halswirbelsäulenstabilisierenden Muskulatur. Helfen können auch Entspannungstherapie, wirbelsäulennahe lokale Infiltrationen und selbstaktivierende Massnahmen in Gruppen- und Einzeltherapie.
Immer noch sieht man Patienten mit Halskrawatte. Ist das noch aktuell?
T. Renkawitz: Die früher manchmal gepflegte wochenlange Immobilisation der Halswirbelsäule in den sogenannten Halskrawatten ist kontraproduktiv. Heute wissen wir, dass auch bestimmte Persönlichkeitsstrukturen das Risiko für eine Schmerzchronifizierung prägen. Schonverhalten, familiäre Stresssituationen, die Situation am Arbeitsplatz, Angst und stressbezogene Symptome können dafür eine zusätzliche Verstärkung sein.
Sollte man den Patienten generell raten, sich mit einem Psychiater/Psychologen über mögliche psychische Folgen des Unfalls zu unterhalten?
T. Renkawitz: Gemäss Leitlinie ist die Mehrzahl aller Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule nicht schwerwiegend. Es erschiene mir deshalb zu weit gegriffen, jeden ambulant geführten Patienten aus dieser doch häufigen Verletzungskohorte grundsätzlich in psychiatrische/psychologische Abklärung zu übergeben. In der muskuloskelettalen Medizin ist es unsere prinzipielle Aufgabe, psychosomatische Warnsignale zu erkennen und gegebenenfalls Hilfe durch Kollegen der Psychotraumatologie, Psychosomatik und Psychologie zu vermitteln. Dies gilt aber im Übrigen nicht nur für die Beschleunigungsverletzung, sondern ganz generell für alle Verletzungen, z.B. auch im Spitzensport. Da wir an der Universitätsklinik Heidelberg Nationalmannschaften und den Olympiastützpunkt Rhein-Neckar betreuen, arbeiten wir auch in diesem Bereich routinemässig mit Sportpsychologen zusammen.
Was sind für Sie die wichtigsten Bausteine der multimodalen Therapie?
T. Renkawitz: Der Erfolg jeder multimodalen Therapie ist der Teamansatz. Der wichtigste Parameter dabei ist natürlich, zuerst die Ursache der Beschwerden zu identifizieren. In Heidelberg arbeiten bei diesen Verletzungen beispielsweise die Sektion Wirbelsäule und die Sektion konservative Orthopädie und Schmerztherapie mit neurologischen Fachärzten eng zusammen. Unsere besondere Stärke ist, dass wir auf einem gemeinsamen Campus kooperieren und dadurch kurze Wege haben. Dadurch können wir Patienten abgestimmt untersuchen. Dann ist zumeist ein stufenweises multimodales Therapiekonzept angezeigt. Die Bandbreite reicht von aktivierend-schmerzbewältigenden Massnahmen in unserer schmerztherapeutischen Tagesklinik bis hin zu minimalinvasiven lokal schmerzstillenden Injektionen im Bereich der Halswirbelsäulennerven oder neurologisch-medikamentösen Therapieverfahren. Sollten psychoreaktive Beschwerden zu erkennen sein, dann setzen wir in Heidelberg auf die enge Zusammenarbeit mit unseren Kollegen der Schmerztherapie, Psychologie und Psychosomatik.
Wäre eine psychische Anamnese auch bei anderen Unfällen wichtig?Wenn ja, bei welchen?
T. Renkawitz: Die Beurteilung der psychischen Situation von unfallverletzten Patienten ist ein grundsätzlich wichtiger Bestandteil der Therapie und Rehabilitation. Es ist ja mehr als gut nachvollziehbar, dass jedes Trauma in irgendeiner Art und Weise Spuren hinterlässt. Persönlich wünsche ich mir natürlich, dass wir als Ärzte im Bereich der universitären Hochleistungsmedizin auch Zeit für derartige Abklärungen erhalten. Ich halte die Kombination aus Hightech-Präzisionsmedizin und Präventionsmedizin in der Orthopädie und Unfallchirurgie für eine wichtige Aufgabe. Deshalb ist es wichtig, das Wissen über eine ganzheitliche Behandlung von Patienten auch weiterhin in der Ausbildung unsere zukünftigen Fachärzte zu stärken. In Heidelberg rotieren alle Ärzte in Weiterbildung nicht nur durch sämtliche Hochleistungsbereiche der operativen Orthopädie und Unfallchirurgie unserer Klinik, sondern auch in einen eigenen Bereich für „konservative Orthopädie und spezielle Schmerztherapie“. Es geht darum, Patienten genau zuzuhören. Bei Schmerzen in Gelenken und am Bewegungssystem ist nicht immer automatisch eine Operation notwendig. Viele Probleme lassen sich auch ohne den Griff zum Skalpell lösen.
Weitere Informationen finden Sie hier: „
Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule
" und "
Mit Fingerspitzengefühl und klinischer Erfahrung auf Warnsignale achten
"
Literatur:
1 Tegenthoff M et al.: Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule, S1-Leitlinie, 2020. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 18.4.2021) 2 Schleicher P et al.: Z Orthop Unfall 2017; 155(05): 556-66 3 Stiell IG et al.: N Engl J Med 2003; 349: 2510-8
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