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Möglichkeiten der physikalischen Medizin in der Rehabilitation peripherer Nervenschäden
Jatros
Autor:
Dr. Michael Schegula
Klinikum Theresienhof, Frohnleiten<br> E-Mail: schegula@theresienhof.at
30
Min. Lesezeit
13.07.2017
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<p class="article-intro">In der orthopädischen Rehabilitation ist man immer wieder mit funktionellen Defiziten und Bewegungsstörungen aufgrund peripherer neurologischer Krankheitsbilder konfrontiert. Wichtig ist hierbei ein strukturiertes Vorgehen, um die Ursache zu identifizieren und die Patienten einer geeigneten Behandlung zuzuführen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Nervenschäden nach Trauma oder Operation werden oft sehr spät erkannt und können je nach Ausprägung den Rehabilitationsfortschritt deutlich erschweren.</li> <li>Eine rasche Abklärung und gezielte Behandlung helfen, den Therapieverlauf positiv zu beeinflussen.</li> <li>Die Möglichkeiten der physikalischen Medizin sind breit gefächert und sollten ausgenutzt werden, um eine optimale Nachbehandlung zu gewährleisten und etwaige funktionelle Defizite zu kompensieren.</li> </ul> </div> <p>Nervenschäden verursachen in der Rehabilitation des Stütz- und Bewegungsapparates meist eine deutliche Behinderung der Rehabilitationsfortschritte. Aufgrund postoperativer Schonung oder Ruhigstellung kommt es oftmals zu einer Verschleierung der Symptome und Verzögerung der Abklärung. Der zusätzliche Funktionsverlust durch den neurogenen Schaden fällt erst später auf, wenn die Patienten wieder körperlich aktiv werden und sich bereits in der Rehabilitationsphase 2 befinden.</p> <h2>Ursachen</h2> <p>Prinzipiell werden traumatische von iatrogenen Nervenschäden unterschieden, welche vielfältige Ursachen haben können. Sie können durch direkte Manipulation intraoperativ, durch ein Hämatom oder einen Tourniquet, durch Anlage eines Verbandes oder Gipses, Injektion, lokale Anästhesieverfahren, neurotoxische Medikamente oder als Druck-, Lagerungs- oder Dehnungsschaden entstanden sein. Weiters ist eine erhöhte Nervensensibilität durch Vorerkrankungen (z.B. Polyneuropathie) zu beobachten.<br /> Die Prävalenz für einen Nervenschaden bei einem Trauma wird in der Literatur unterschiedlich angegeben. In einer Langzeitbeobachtung über 10 Jahre betreffend periphere traumatische Nervenverletzungen betrug sie 2,8 % .<sup>1</sup> Dabei waren am häufigsten der N. radialis und der N. peroneus betroffen. Als Ursache dominierte der Verkehrsunfall mit 46 % der Fälle. <br /> Iatrogene Nervenverletzungen treten oft infolge einer Operation auf, am häufigsten ist dabei der N. accessorius betroffen, gefolgt von N. medianus, N. peroneus communis, N. radialis, N. genitofemoralis, N. peroneus superficialis und N. tibialis.<sup>2</sup></p> <h2>Diagnostik</h2> <p>Wegweisend ist die klinische neurologische Untersuchung mit besonderem Augenmerk auf das sensomotorische Ausfallsmuster und eine begleitende vegetative Störung. Eine neuropathische Schmerzkomponente ist relativ häufig,<sup>3</sup> sie sollte als solche erkannt und der Patient einer gezielten weiteren Abklärung zugeführt werden. <br /> Zur orientierenden Untersuchung eignet sich eine Reizstromdiagnostik. Diese ist mit den meisten Elektrotherapiegeräten durchführbar und kann schon erste Hinweise auf die Denervierung einzelner Muskeln geben. Es wird hierbei das Ansprechverhalten des Muskels gegenüber verschiedenen Stromarten getestet.<br /> Eine weiterführende Diagnostik erfolgt mit Elektroneurografie (ENG) und Elektromyografie (EMG). Mit der ENG lassen sich einzelne Nerven mit dem Zustand der Nervenhülle und dem Axon darstellen, die Läsionshöhe bei den langen Extremitätennerven kann eingegrenzt werden, bestimmte Ausfallsmuster lassen sich bei kombinierten Schäden zuordnen. Auch der Allgemeinzustand des peripheren Nervensystems und eine eventuell vorhandene Polyneuropathie lassen sich erkennen. Die EMG stellt die elektrische Muskeleigenaktivität in Ruhe und bei Willküraktivität (falls vorhanden) dar. Es kann die neurogene von einer myogenen Muskelschwäche unterschieden werden. Auch mit dieser Untersuchungsmethode werden bestimmte Ausfallsmuster erkannt und so einem Krankheitsbild zugeordnet.<br /> Bei der Reizstromdiagnostik und der EMG ist eine zeitliche Latenz zum Ereignis von 2–3 Wochen zu erwarten, bis ein pathologisches Befundergebnis im Sinne eines neurogenen Schädigungsmusters erhältlich ist.<br /> Steht eine plastisch-chirurgische Versorgung der Nervenläsion im Raum, so besteht die Möglichkeit einer weiteren Abklärung mittels Neurosonografie<sup>4</sup> und Magnetresonanzneurografie<sup>5</sup>. Diese Methoden sind sehr hilfreich, um den Zustand eines Nervs zu beschreiben und die genaue Läsionshöhe zu lokalisieren.<br /> Es bestehen bedeutende funktionelle Unterschiede in Abhängigkeit davon, ob eine isolierte oder kombinierte Nervenschädigung, eine Plexus- oder Wurzelläsion vorliegt. Aus dem Ergebnis der Diagnostik resultieren das Therapieregime und das zu erwartende Outcome bzw. die Prognose des Heilungsverlaufes. Das Fach Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation nimmt eine wichtige Schnittstelle in dieser Fragestellung ein, da sowohl die elektrophysiologische Untersuchung als auch die Steuerung der Rehabilitationsmaßnahmen aus einer Hand erfolgen können.</p> <h2>Möglichkeiten der physikalischen Medizin</h2> <h2>Medikamentöse Schmerzbehandlung</h2> <p>Diese richtet sich nach dem klinischen Beschwerdebild. Es finden herkömmliche NSAR, Tramadol und Opioide Verwendung, weiters Gabapentin und Pregabalin bei neuropathischer Schmerzkomponente sowie Psychopharmaka, wie z.B. SNRI, als Begleitmedikation bei chronischem Verlauf. Die peripheren neuropathischen Schmerzen können vor allem bei Vorhandensein einer Hyperalgesie oder Allodynie auch topisch mit Capsaicin- oder Lidocain-hältigen Pflastern behandelt werden.</p> <h2>Entstauungsmaßnahmen bei Ödembildung</h2> <p>Durch die Bewegungsstörung aufgrund der beeinträchtigten Muskelaktivität und fehlender Vasomotorik wird eine Ödembildung in der betroffenen Extremität begünstigt. Als abschwellende Maßnahmen finden die manuelle Lymphdrainage nach Vodder mit nachfolgender Kompression und Hochlagerung der betroffenen Extremität Anwendung.</p> <h2>Heilmassage</h2> <p>Die klassische Heilmassage wird zur Normalisierung des Muskeltonus, zur Durchblutungsförderung und zur Regulation der Gewebetrophik unter Einsatz verschiedener Grifftechniken (Knetung, Drückung, Walkung, Friktion, Klopfung, Streichung) eingesetzt. Zusätzlich kann eine manuelle Narbenbehandlung durchgeführt werden.</p> <h2>Bewegungstherapie</h2> <p>Die Bewegungstherapie verfolgt verschiedene Ziele. Einerseits dient sie dem Erhalt der Gelenksbeweglichkeit und Gewebetrophik, andererseits auch der Muskelkräftigung und dem gezielten Einsatz der Willkürmotorik. Es kommen hierbei passive Bewegungsübungen, geführt durch einen Therapeuten oder eine Bewegungsschiene mit Elektromotor, zum Einsatz. Weiters nutzt man aktiv/assistiv ausgeführte Übungen, wieder mit Therapeutenunterstützung oder Trainingshilfen, wie z.B. mithilfe eines Schlingentischs. Bei ausreichender Muskelkraft können auch aktive Bewegungsübungen ohne jegliche Unterstützung bzw. Widerstandsübungen durchgeführt werden. Als Übungsform kann ein direktes Training der betroffenen Muskulatur und synergistischer Muskelgruppen oder ein indirektes Training über die kontralaterale Seite zur Bahnung der paretischen Seite (z.B. propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation, Spiegeltherapie) eingesetzt werden. Auch die Unterwasserbewegungstherapie stellt eine gute Ergänzung dar, da durch den hydrostatischen Auftrieb eine Reduktion des Gewichtes bei eingeschränkter Muskelkraft ausgenutzt wird.<sup>6</sup></p> <h2>Sensibilitätstraining bzw. desensibilisierende Maßnahmen</h2> <p>Bei sensiblen Defiziten werden spezifische Reize gesetzt, um das noch vorhandene Potenzial voll auszuschöpfen bzw. neu zu bahnen. Dies betrifft gezielt alle sensiblen Qualitäten, wie Schmerz und Temperatur (protopathische Sensibilität) sowie Wahrnehmung von Druck, Berührung und Vibration (epikritische Sensibilität) und haptische Wahrnehmung (taktiles Erkennen von Objekten). Sind allerdings eher schmerzhafte Sensationen im Vordergrund, wird mit wiederholter Reizsetzung versucht, die Schmerzschwelle anzuheben.</p> <h2>Sensomotoriktraining</h2> <p>Es erfolgt eine therapeutische Schulung der Wahrnehmung von Lage, Spannungs- und Bewegungszustand des muskuloskelettalen Systems, um koordinierte, zielgerichtete und in der Kraft dosierte Bewegungen zu erreichen.</p> <h2>Funktionstraining</h2> <p>Es werden komplexe Bewegungsabläufe mit Relevanz für den Alltag und Beruf geübt. Dies kann auf viele Arten durchgeführt werden, wie z.B. als Wasch- und Anziehtraining, aber durchaus auch als Training handwerklicher oder haushaltsüblicher Tätigkeiten. Weiters ist ein ergonomisches Verhalten bei funktionellen Defiziten zu erlernen, um eine weitgehende Körpersymmetrie zu erhalten.</p> <h2>Elektrotherapie</h2> <p>Diese kann zur Schmerzreduktion eingesetzt werden. Besonders geeignet ist hierfür die Anwendung von TENS (transkutaner elektrischer Nervenstimulation), Impulsgalvanisation oder Hochvoltstrom.</p> <h2>Reedukation des Ausfallsmusters mit Elektrotherapie<sup>7</sup></h2> <p>Die denervierte Muskulatur kann mit einem Exponentialstrom aufgrund der begleitenden Akkomodationsstörung der Zellmembran selektiv stimuliert werden. Geeignet sind hierfür Muskeln mit einer Aktivität vom Kraftgrad 0 bis 3 (Muskelfunktionstest nach Janda). Bei einer Teilparese mit zumindest Kraftgrad 2 kann auch eine Myofeedback-Behandlung eingesetzt werden. Im Sinne eines Biofeedback mit Oberflächen-EMG wird die Muskelaktivität für den Patienten dargestellt, zusätzlich kann eine EMG-getriggerte Elektrostimulation durchgeführt werden. Diese Methode wird auch zur Bahnung eines physiologischen Bewegungsmusters verwendet.</p> <h2>Ultraschallbehandlung</h2> <p>Der therapeutische Ultraschall wird vorrangig zur Lokalbehandlung angrenzender Gelenke und Weichteile eingesetzt. Bezüglich des Nervengewebes ist ein Nutzen nur bei einem Karpaltunnelsyndrom belegt.<sup>8</sup></p> <h2>Thermotherapie</h2> <p>Bei ödematöser Schwellung oder Hämatom kann eine Kältebehandlung angezeigt sein. Eine Wärmebehandlung wird ebenso wie der Ultraschall eher zur Lokalbehandlung der angrenzenden Gewebe verwendet.</p> <h2>Hydrotherapie</h2> <p>Zellenbäder mit galvanischem Gleichstrom bewirken eine Schmerzreduktion und Förderung der Durchblutung im durchströmten Gebiet.</p> <h2>Orthesenversorgung</h2> <p>Bei der Schienenversorgung wird prinzipiell die Lagerungs- von der Funktionsschiene unterschieden. Somit erstreckt sich der Orthesengebrauch von der Kontrakturprophylaxe mit Erhalt einer physiologischen Grundstellung der Gelenke bis hin zur funktionellen Unterstützung bei Ausfall einzelner Muskeln oder Muskelgruppen.</p> <h2>Hilfsmittelversorgung</h2> <p>Die Versorgung mit Hilfsmitteln dient dem Erhalt bzw. der Verbesserung der Selbstständigkeit bei körperlichen Einschränkungen aufgrund der Nervenschädigung. Die Einsatzmöglichkeiten reichen von einer einfachen Griffverdickung über elektrische Haushaltsgeräte (elektrisches Brotmesser, Dosenöffner etc.) bis zu Anziehhilfen, Sitzerhöhung, Treppenlift usw.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Noble J et al: J Trauma 1998; 45(1): 116-22 <strong>2</strong> Kretschmer T et al: J Neurosurg 2001; 94(6): 905-12 <strong>3</strong> Ciaramitaro P et al: J Peripher Nerv Syst 2010; 15(2): 120-7 <strong>4</strong> Karabay N et al: Eur J Radiol 2010; 73(2): 234-40 <strong>5</strong> Kuntz C et al: Neurosurgery 1996; 39(4): 750-7 <strong>6</strong> Fialka-Moser V (Ed.): Kompendium der physikalischen Medizin und Rehabilitation. Springer Verlag 2013, Kapitel 4.2, S. 222 <strong>7</strong> Fialka-Moser V et al: Elektrotherapie. Pflaum Verlag 2005; Kapitel 3.4, S. 109-19 <strong>8</strong> Ebenbichler GR et al: BMJ 1998; 316: 731-5</p>
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</p>
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