Bedrohliche Nähe: Sexualität bei Borderline-Störungen
Autorin:
Prof. Dr. phil. Leonie Kampe
Juniorprofessur für Psychologische Diagnostik
International Psychoanalytic University Berlin
E-Mail: leonie.kampe@ipu-berlin.de
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Für Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ist Sexualität eine besondere Herausforderung, da es in der regressiven Verschmelzung mit einem anderen Menschen zum Verlust von Ich-Grenzen und einer Überflutung von unkontrollierbaren Gefühlen, Impulsen, Scham und Selbsthass kommen kann. Die Vermischung aus bedrohlichen Beziehungserfahrungen und ungestillten Sehnsüchten kann zu Ängsten, Wut und Hilflosigkeit führen und in Hypo-, Hyper- oder Parasexualität resultieren. Daher sollte der Bereich der Sexualität in der Diagnostik und Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung besondere Aufmerksamkeit bekommen.
Keypoints
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Reife Sexualität setzt das Vorhandensein von Ich-Funktionen voraus, die bei Borderline-Patient*innen stark beeinträchtigt sind: die Fähigkeit, eigene Grenzen zu halten, einen stabilen Selbstwert zu entwickeln, Gefühle und Impulse zu regulieren, Nähe zuzulassen und Empathie für die Bedürfnisse anderer zu empfinden.
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Im Rahmen der Sexualität kommt es zu einer zeitweisen Regression, die bei Borderline-Patient*innen ein Zurückversetzen in frühe Beziehungserfahrungen und bedrohliche emotionale und kognitive Zustände bedeuten kann.
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Störungen der Sexualität bei Borderline-Patient*innen können sich in Hyper-, Hypo- und Parasexualität äussern und sind oft das Resultat der Persönlichkeitspathologie.
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Hyposexualität hat meist eine Vermeidungs- und Schutzfunktion, Hypersexualität und Paraphilien haben eine reparative Funktion, indem dadurch abgespaltene Selbstanteile ausgelebt oder innere und interpersonelle Spannungen reguliert werden.
Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung haben sowohl in den Bereichen des Selbst als auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen erhebliche Schwierigkeiten: Die Integration der eigenen Identität ist brüchig, die Ich-Grenzen sind instabil. Der Selbstwert ist chronisch reduziert, Selbsthass und Autoaggression dominieren den Umgang mit sich selbst. Darüber hinaus leiden sie an Schwierigkeiten, ihre Emotionen, Impulse und Aggressionen zu regulieren. Dies führt zu Wutanfällen und Selbstverletzung, leichter Kränkbarkeit, extremen Stimmungsschwankungen, einer Schwarz-Weiss-Sicht auf die Welt und einem chronischen Gefühl von innerer Leere.
Im Bereich der Beziehungen beschreiben Menschen mit Borderline-Störung Schwierigkeiten beim Herstellen und Halten interpersoneller Nähe, da die entstehende Abhängigkeit zu Angst vor dem Verlassenwerden führt und durch manipulative Verhaltensweisen kontrolliert wird. Auch zeigen sich reduzierte Fähigkeiten, die Bedürfnisse anderer Menschen als gleichwertig wahrzunehmen und zu respektieren. So kommt es zu häufigen Konflikten und Beziehungsabbrüchen. Unbewusste Verarbeitungs- und Abwehrmechanismen wie Spaltung und Projektion führen zu innerer und äusserer Instabilität, was sich insbesondere in nahen Beziehungen zeigt. Der Bereich der Sexualität bleibt davon nicht unbetroffen.
Sexualität als Regression in bedrohliche Ich-Zustände
Geteilte Sexualität bedeutet ein leidenschaftliches und emotionales Einlassen auf Nähe zu einem anderen Menschen. Dabei geschieht ein regressiver Prozess, bei dem man ein Stück der eigenen Grenzen aufgibt, sich in einen verletzlichen Zustand begibt und diesen vertrauensvoll mit einem Gegenüber teilt. Menschen mit positiven Beziehungserfahrungen können diesen Zustand geniessen und emotionale Nähe kann mit körperlicher Erregung einhergehen. Dies erfordert allerdings das Vorhandensein basaler Ich-Funktionen wie die Fähigkeit zum Aufrechterhalten eigener Grenzen, der lustvollen und positiven Besetzung der eigenen Person und des eigenen Körpers, die Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen und Triebimpulsen, das Einfühlen in die Bedürfnisse anderer Menschen sowie die Fähigkeit zum Herstellen und Geniessen von Nähe.
Diese notwendigen Fähigkeiten des Selbst und der Beziehungen sind bei Menschen mit Borderline-Störung stark beeinträchtigt, sodass Sexualität oft problematisch ist. Der entstehende regressive Zustand bedeutet für sie ein emotionales Zurückkehren in frühe Ich-Zustände, die von Angst, Anspannung, Wut und Überforderung gezeichnet sein können (Abb.1). Viele Menschen mit Borderline-Störung haben emotionale, körperliche oder sexuelle Traumatisierungen erlebt und die Erfahrung von Schutz, Nähe oder Wärme nicht machen können. Ein regressiver Prozess aktiviert daher frühe Ängste, Selbsthass oder Erinnerungen an Täter-Opfer-Beziehungen und wird zu einer inneren und äusseren Bedrohung. Gleichzeitig konfrontiert sie die entstehende Verletzlichkeit mit nie gestillter emotionaler Bedürftigkeit, was ein schwieriges Konglomerat aus Sehnsucht, Angst und Aggression entstehen lässt.
Abb. 1: Regressiver Prozess der Sexualität bei Borderline-Störung
Darüber hinaus fehlen Menschen mit Borderline-Störung wesentliche regulative Fähigkeiten, um mit ihren Affektzuständen umzugehen, was zu einer Angst vor der Intensivierung und Überflutung von Gefühlen, Impulsen und Aggressionen führen kann. Die bereits schwach ausgeprägten eigenen Ich-Grenzen drohen sich im Akt der sexuellen Verschmelzung vollständig aufzulösen, was als unkontrollierbar und bedrohlich erlebt wird. Bereits vorhandene Selbstzweifel werden in der exponierten Situation der Sexualität verstärkt und können zu einem Gefühl von Selbstekel führen.
Auf der Beziehungsebene kann es bei Sexualität zur Reaktivierung impliziter Erinnerungen an frühe ungute Beziehungserfahrungen kommen, was die entstehende Nähe unerträglich macht. Die früher erlebten Macht-Ohnmacht-Dynamiken zeigen sich dabei in unbewussten Wiederholungen ähnlicher Beziehungskonstellationen oder kompensatorischer Rollenumkehr (z.B. Fixierung auf dominant-aggressive Rolle). Auch kann das Abspalten von Gefühlen oder sogenanntes Push-and-pull-Verhalten (= Herstellen von Nähe und dann abruptes Zurückstossen, um die Kontrolle zu behalten) ein maladaptiver Lösungsversuch der darunterliegenden Angst vor Nähe und Abhängigkeit sein (Tab.1).
Tab. 1: Dysfunktionale Nutzung von Sexualität zur Symptomkompensation
Das Symptom zur Kompensation: Hypo-, Hyper- und Parasexualität
Aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten lassen sich bei Menschen mit Borderline-Störung verschiedene Ausprägungen von Störungen der Sexualität feststellen, die sich als von Hyper-, Hypo-, oder Parasexualität zusammenfassen lassen:1
Hyposexualität
Hyposexualität beschreibt ausgeprägte sexuelle Hemmungen, chronische Lustlosigkeit oder sexuelle Aversion. Bei Menschen mit Borderline-Störung sind mildere Formen von sexuellen Hemmungen meist durch Schamgefühle bedingt, die durch den stark reduzierten Selbstwert ausgelöst werden. In schweren Formen können Selbsthass und Körperekel Sexualität vollständig verunmöglichen. Eine Vermeidung von Sexualität schützt davor, sich mit diesen unangenehmen Gefühlen zu konfrontieren. Auch kann es im Rahmen von Selbstverletzung zu Genitalverstümmelungen kommen, was zur Vermeidung von Sexualität führen kann.
Zuletzt schützt die Vermeidung vor dem Entstehen von zu viel angstbesetzter Nähe und vor dem Erleben von weiteren Verlust- und Verletzungsängsten. In schwereren Fällen kann die Vermeidung von Sexualität auch zur Unterdrückung dysregulierter aggressiver Impulse dienen, insbesondere, wenn Täter-Opfer-Verschiebungen vorliegen.
Hypersexualität
Eine Enthemmung bzw. die zwanghafte Suche nach sexueller Befriedigung und chronische Promiskuität wird als Hypersexualität bezeichnet. Dabei findet eine Dissoziation von sexueller Erregung und emotionaler Nähe statt. So kann Sexualität genutzt werden, um zugrunde liegende Defizite zu kompensieren. Oft lässt sich feststellen, dass Menschen mit Borderline-Störung weniger Schwierigkeiten haben, sexuelle Intimität mit Fremden herzustellen, dass dies in einer wichtigen Partnerschaft aber nicht gelingt. Zugrunde liegt oftmals eine Unfähigkeit, zärtliche Gefühle und sexuelle Erregung zu integrieren. Eine ausgeprägte Hypersexualität kann dabei auch Zeichen einer Kompensation von darunterliegenden Selbstwertdefiziten sein: Sexuelles Begehrtwerden kann als Bestätigung erlebt werden, was für manche Menschen dann schnell zur Sucht werden kann. Hypersexualität kann ausserdem das Resultat einer ausgeprägten Impulskontrollstörung sein und mit symptomatischem Risikoverhalten einhergehen: Sexualität kann sowohl zur Selbstverletzung (z.B. Sex mit jemandem, den man nicht mag; mit jemandem, der schmerzhafte Praktiken anwendet) oder Suizidalität (z.B. ungeschützter Sex mit Personen mit gesundheitlichem Risiko; Sexualität mit lebensbedrohlichen Praktiken) genutzt werden. Im Sinne eines Regulationsversuchs kann Sexualität darüber hinaus zum Füllen innerer Leere, zum Abbau von Anspannung und zur Kompensation von Einsamkeit und Langeweile genutzt werden.
Auf der Beziehungsebene kann eine übersteigerte Sexualität zur Vermeidung von Nähe bzw. zum vermeintlichen Herstellen von schneller Nähe genutzt werden, da Borderline-Patient*innen häufig keine anderen Wege gelernt haben, Nähe herzustellen. Dabei geht es jedoch nicht wirklich um den anderen, sondern primär um die eigene Bedürfnisbefriedigung. Auch kann Sexualität unbewusst zum Herstellen von Macht-Ohnmacht-Dynamiken genutzt werden, wobei die latente Angst, abgelehnt zu werden, durch aggressives dominant-entwertendes Verhalten abgebaut werden kann.
Parasexualität (Paraphilien, Perversionen)
Bei der Parasexualität ist die sexuelle Erregung an ein nicht menschliches Objekt oder eine spezifische Praktik gebunden, ohne die Erregung nicht möglich ist. Dies kann auch extreme Formen von Perversion oder sadomasochistische Praktiken beinhalten, die häufig stark aggressiv getönt sind. Hierbei ist zu beachten, dass das lustvolle Spiel mit Dominanz-Unterwerfungs-Szenarien sowie das Hinzuziehen von luststeigernden Objekten nicht per se pathologisch sind, es aber dann werden, wenn Erregung und Sexualität ohne sie nicht mehr möglich ist. Durch diese Abspaltung von Lust aus dem Beziehungsgeschehen hin zu einem isolierten Objekt können extreme Affektzustände wie Selbsthass, Rache und Aggression durch externalisiertes Sexualverhalten auf neutrale Objekte projiziert und ausgelebt werden.
Bei ausgeprägten Paraphilien werden häufig alte Beziehungserfahrungen und Täter-Opfer-Verschiebungen kompensatorisch und abgespalten (im Sinne einer Fixierung auf getrennte Objekte zwischen Gut und Böse) verarbeitet. Ein weiteres Merkmal pathologischer Paraphilie ist das Fehlen von Empathie und Einfühlung in die Bedürfnisse des Gegenübers, da dieses nur noch als Teil der inneren Inszenierung genutzt werden kann und nicht mehr als Subjekt mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen auftaucht.
Fazit für die therapeutische Praxis
Es ist wichtig, das Sexualverhalten bei Menschen mit Borderline Störung frühzeitig im diagnostischen Prozess zu erfassen und dessen Funktion zu verstehen. Der Psychoanalytiker Kernberg empfiehlt daher bei jeder Anamnese eine explizite Sexualanamnese, insbesondere bei Patient*innen mit Persönlichkeitsstörungen. Störungen der Sexualität können Hinweise auf abgespaltene Objekt- und Selbstrepräsentanzen geben und sind zur strukturellen Diagnostik nutzbar. Auch darf die selbstschädigende Komponente der Sexualität nicht übersehen werden, da diese zu langfristigen Konsequenzen (Erkrankungen, Risikoverhalten, häufige ungewollte Schwangerschaften etc.) führen kann. Sexualität kann sowohl diagnostische Hinweise auf mangelnde regulative Fähigkeiten als auch auf abgewehrte Beziehungswünsche und -fantasien geben. Auch im therapeutischen Prozess kann Sexualität eine Rolle spielen, z.B. durch Ablenkung von anderen Themen oder eine sexuelle Fixierung auf den Therapeuten/die Therapeutin zur Vermeidung von Aussenbeziehungen oder zum Ausleben unbewusster Wünsche und Fantasien.
Empfohlene Literatur:
● Benecke C, Hörz S: Sexualität als Symptom bei Borderline-Störungen. Persönlichkeitsstörungen 2010; 14: 169-79 ● Dulz B et al.: Borderline-Störungen und Sexualität. Stuttgart: Schattauer 2009 ● Kernberg, OF: Liebe und Aggression. Eine unzertrennliche Beziehung. Stuttgart: Schattauer 2014
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