
Der Umgang mit Angstpatienten
Autoren: Prof. Dr. med. Katja Cattapan1, 2
Dr. med. Tobias Ballweg1
Prof. Dr. med. Ulrich T. Egle1
1 Sanatorium Kilchberg – Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Kilchberg
2 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Bern
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Angststörungen gehören mit einer Lebensprävalenz von ca. 20% zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Häufig wenden sich Angstpatienten primär an ihren Hausarzt oder einen anderen somatischen Arzt. Eine klar strukturierte Abklärung und Behandlung sowie die Förderung von Autonomie und Selbstwirksamkeit des Patienten, wie sie im Folgenden detailliert beschrieben werden, sind entscheidend für den Krankheitsverlauf und die Prognose.
Keypoints
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Allgemeinmediziner und Internisten sind häufig die ersten professionellen Ansprechpersonen für Patienten mit Angststörungen.
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Ein Erkennen der Angststörung und das Einleiten diagnostischer und therapeutischer Massnahmen sind wesentlich für den Krankheitsverlauf.
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Der Patient profitiert von einem klar strukturierten Behandlungssetting und einer Arzt-Patienten-Beziehung, in welcher die Autonomie und Selbstwirksamkeit des Patienten gefördert werden.
Bei Angststörungen liegt der Erkrankungsbeginn bei den meisten Patienten im frühen Erwachsenenalter. Die Angststörungen werden in diagnostischen Manualen unterschieden in Panikstörung und Agoraphobie, soziale Phobie, generalisierte Angststörung und spezifische Phobien (Tab. 1).
Angstpatienten in der somatischen Medizin
Angstpatienten wenden sich häufig primär an einen somatischen Arzt; dieser Kontakt ist in Bezug auf die Prognose des Erkrankungsverlaufs von grosser Bedeutung.
Ein Teil der ärztlichen Kontakte sind Notfallkontakte, insbesondere bei dem akuten Auftreten von Panikattacken, deren Symptomatik von den Patienten häufig als die eines Herzinfarktes (oder einer anderen akut bedrohlichen körperlichen Erkrankung) gedeutet wird.
Andere Patienten, vor allem Patienten mit einer generalisierten Angststörung oder einer sozialen Phobie, wenden sich mit primär körperlichen Beschwerden, die oft Folgen ihrer chronischen Ängste sind, an den Arzt. Durch eine sorgfältige körperliche Untersuchung und eine psychosoziale Exploration können bei diesen Patienten die Zusammenhänge ihrer körperlichen Symptome (z.B. Schulter-Nacken-Beschwerden, Kopf- oder Gesichtsschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden oder Schlafstörungen) mit einer unbehandelten Angststörung aufgedeckt werden.
Es werden nach der ersten Kontaktaufnahme, welche bereits von hoher therapeutischer Relevanz ist, grob orientierend die folgenden ärztlichen Handlungsbereiche unterschieden:
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Klärung (somatische und psychosoziale Diagnostik; Entwicklung eines Erklärungsmodells unter Einbeziehung biografischer Prägungen; Aufklärung über die Diagnose und Behandlungsempfehlungen)
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Bewältigung (Psychoedukation, Therapie im engeren Sinne mit Ressourcenaktivierung, Schemabearbeitung, Exposition, Notfallplan)
Klärung
Die somatische Abklärung
Angstsymptome können rein psychischer Natur sein, aber auch eine somatische Ursache haben (insbesondere Herz-Kreislauf-, neurologische oder endokrine Erkrankungen), auch Mischformen sind möglich. Eine sorgfältige somatische Anamnese und eine körperliche Untersuchung sind notwendig. Empfohlen wird zudem eine Blutuntersuchung (Mindeststandard: Blutbild, Blutzucker, Elektrolyte, Schilddrüsenstatus). Abhängig von der Symptomatik und der Anamnese können ein EKG und ggf. eine Lungenfunktionsuntersuchung, eine kranielle Bildgebung und ein EEG sinnvoll sein. Wichtig ist es hierbei, Vorbefunde aktiv beim Patienten zu erfragen, da Angstpatienten oft wegen der gleichen Beschwerden unterschiedliche Ärzte aufsuchen.
Es besteht die Gefahr, dass gerade bei diesen Patienten zu viel Zeit auf die körperliche Diagnostik verwendet wird. Vor allem apparative Untersuchungen sollten nicht zur Beruhigung eingesetzt werden, sondern nur bei einer rationalen Indikation. Es empfiehlt sich, die somatische Untersuchung gründlich zu machen und den Endpunkt der Diagnostik partizipativ festzulegen. Zu diesem Zeitpunkt sollten auch die diagnostische Einschätzung, Informationen über die Krankheit und der Beginn einer Therapie erfolgen.
Aufgrund der Neigung der Patienten zum Katastrophisieren mit nachfolgenden gedanklichen Sorgenschleifen ist es wichtig, sich genügend Zeit für die Befundmitteilung zu geben und kleinere Normabweichungen ohne wesentlichen Krankheitswert nicht überzuinterpretieren. Unsicherheitsintoleranz ist typisch für viele Angstpatienten, v.a. bei Patienten mit einer generalisierten Angststörung. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, sich sowohl vor der somatischen Diagnostik als auch bei der Befundmitteilung genügend Zeit für das Gespräch zu nehmen und auch das Nachfragen des Patienten aktiv zu fördern. Ein «Face to face»-Kontakt ist auch bei der Mitteilung von Befunden einem Telefongespräch deutlich überlegen. Da die Situation aufgrund der gesundheitsbezogenen Ängste und den Katastrophisierungen des Patienten oft zu einem situationsbezogenen Hyperarousal mit kognitiven Einengungen und Verzerrungen führt, hilft ein ruhiges und klares Auftreten von ärztlicher Seite, um den Sorgen des Patienten entgegenzuwirken. Demgegenüber können ein übertriebener diagnostischer Aufwand und eine unsensible Befundmitteilung («Sie haben nichts», aber auch «Irgendetwas stimmt nicht mit Ihrer Leber») die Angstsymptome iatrogen verstärken und den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen.
Die psychosoziale Diagnostik
Im Rahmen der psychosozialen Diagnostik sollte geprüft werden, ob die Kriterien einer Angststörung (Charakteristika in Tab. 1) erfüllt werden. In der Praxis sind die Panik- und Angstmodule des Gesundheitsfragebogens PHQ-D, die im Internet frei verfügbar sind, als Screeningsinstrumente hilfreich.
In der Diagnostikphase werden weitere für die Pathogenese relevante Faktoren eruiert, welche die Grundlage für die Entwicklung eines ersten Erklärungsmodells im Sinne eines individuellen Fallverständnisses bilden. Insbesondere der Zusammenhang des Beginns oder der Verstärkung von Angstsymptomen mit kritischen, konfliktreichen Lebensereignissen und psychosozialen Belastungen wird für viele Patienten erst durch ein exploratives Gespräch erkennbar. Aufgrund des Umfangs und der Komplexität wird dies meist durch einen Psychiater, Psychologen oder einen Arzt mit psychosomatischer Zusatzausbildung durchgeführt. Zur Exploration gehören:
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Beginn/Dauer, Häufigkeit, Stärke, Charakteristika der Symptome;
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Einfluss auf das Alltagsleben, Vermeidungsverhalten und Funktionseinschränkungen;
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identifizierbare Auslöser/Kontextfaktoren, spezielle Situationen, Stressfaktoren;
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Reaktion auf eine Angstepisode; bisherige Versuche, die Angstsymptome zu reduzieren;
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schwere Belastungen in der Kindheit (z.B. Trennung von Bezugsperson, emotionale Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung) oder traumatische Erlebnisse im Erwachsenenalter.
Wenn Patienten isoliert an gesundheitsbezogenen Ängsten leiden – insbesondere der Angst, lebensbedrohlich krank zu sein – kann auch eine hypochondrische Störung die Ursache sein.
Zusätzlich sollen Schlafstörungen sowie Symptome einer Depression – dazu eignet sich das Kurzscreening für Depressionen PHQ-9-D, das im Internet frei verfügbar ist – und Suizidalität als häufige Komorbiditäten, welche von direkter therapeutischer Relevanz sind, erfragt werden.
Die Vermittlung der Diagnose und die Entwicklung eines Erklärungsmodells sind zentrale Bausteine der klärungsorientierten Phase, da sie den Kontrollverlustängsten des Patienten entgegenwirken. Dafür ist es besonders wichtig, dass individuelle Faktoren für den Patienten in diesem Modell erkennbar werden.
Abgeleitet aus Diagnose und Erklärungsmodell werden Therapieempfehlungen ausgesprochen. Leitliniengerecht wird beim Vorliegen einer Angststörung empfohlen, entweder eine Psychotherapie oder eine Pharmakotherapie zu beginnen. Als Entscheidungskriterien für eine Psycho- oder Pharmakotherapie sollten die Aspekte Patientenpräferenz, Wirkeintritt, Nachhaltigkeit, unerwünschte Wirkungen und Verfügbarkeit von spezialisierten Psychotherapeuten berücksichtigt werden.
Ein Sonderfall bildet die spezifische Phobie, für deren Behandlung eine medikamentöse Therapie nicht empfohlen wird.
Bewältigung
Die Vermittlung von Informationen über Ängste, insbesondere über die körperlichen Reaktionen bei Angstzuständen, hat eine hohe Relevanz für die Wirksamkeit der Therapie. Durch ein Verständnis der Symptome kann häufig schon eine «Entängstigung» erzielt werden. Dabei können auch diagnosespezifische Informationsbroschüren zur Vertiefung eingesetzt werden (siehe Literatur). Besonders relevant ist die Aufklärung der Patienten darüber, dass Ängste durch Vermeidung aufrechterhalten werden und als Konsequenz ein schrittweiser Verzicht auf Vermeidungs- und Absicherungsverhalten angestrebt wird.
Ziel der Therapie ist die Verminderung der Angst- und der körperlichen Begleitsymptome, des Vermeidungsverhaltens und des sozialen Rückzugs. Neben der Pharmako- oder Psychotherapie werden Entspannungsübungen, regelmässige, aber massvolle körperliche Aktivität und Massnahmen zur Schlafhygiene empfohlen. Eine ressourcenorientierte therapeutische Haltung hilft dem Patienten, positive Aktivitäten wiederaufzunehmen und Selbstvertrauen zurückzugewinnen, das für die Auseinandersetzung mit dysfunktionalen Verhaltensweisen bedeutsam ist.
Die angstspezifische Psychotherapie im engeren Sinne erfolgt durch einen ausgebildeten Psychotherapeuten, in der Regel mit einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Hintergrund. Als Grundlage der Therapie dient eine individuelle Fallkonzeption unter Berücksichtigung der biografischen Prägung, des Persönlichkeitsstils und der motivationalen Schemata. Wichtige Elemente in der Behandlung der Panikstörung sind die Provokation von Körpersymptomen, die Interpretation von Körperwahrnehmungen und die Exposition gegenüber angstauslösenden Situationen. Bei der sozialen Phobie werden negative Selbsteinschätzungen modifiziert und soziale Kompetenzen trainiert. Wesentliche Elemente in der Behandlung der generalisierten Angststörung sind die Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen und der Umgang mit negativen Affekten und Beziehungsproblemen. Die spezifische Phobie wird durch systematische Konfrontationstherapie behandelt.
Wenn sich Patient und Arzt für eine pharmakotherapeutische Behandlung entscheiden oder die Psychotherapie nicht genügend wirksam ist und eine Kombinationstherapie aus Psycho- und Pharmakotherapie angestrebt wird, sind SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) oder SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) Mittel der ersten Wahl; bei der generalisierten Angststörung gilt auch Pregabalin als leitliniengerecht, die Leitlinien der WFSBP (World Federation of Societies of Biological Psychiatry) empfehlen zudem Quetiapin bei der generalisierten Angststörung.
Die anxiolytische Wirkung von Benzodiazepinen wird von vielen Angstpatienten in der Akutsituation als sehr entlastend erlebt. Aufgrund des Suchtpotenzials sollte auf ihren Einsatz aber verzichtet oder die Abgabe restriktiv gehandhabt werden. Der Einsatz von Benzodiazepinen erschwert zudem die Psychotherapie und fördert die Chronifizierung. Wichtig ist es zudem, Patienten mitzuteilen, dass sie unter der Wirkung von Benzodiazepinen nicht fahrtüchtig sind.
Die Behandlungserfolge sollen regelmässig evaluiert, die Therapie sollte entsprechend angepasst und ein Notfallplan erarbeitet werden.
Herausforderungen in der Arzt-Patienten-Beziehung
Angststörungen sind häufig gut behandelbar und die Patienten sind aufgrund ihres Leidensdruckes meist auch sehr motiviert. In der Beziehung zwischen Arzt/Therapeut und Patient können jedoch dysfunktionale Beziehungsmuster auftreten, welche den Behandlungserfolg erschweren. Autonomie und Selbstwirksamkeit des Patienten sollten gefördert werden, Überfürsorglichkeit bei ängstlich-anklammerndem Verhalten ist zu vermeiden.
Das Setting sollte gut strukturiert, die Haltung des Arztes/Therapeuten durch Ruhe, Klarheit und Transparenz bezüglich des therapeutischen und diagnostischen Vorgehens geprägt sein. Fixe Termine mit hoher Frequenz sind vor allem zu Beginn empfehlenswert.
Angstpatienten neigen dazu, aufgrund ihres Sicherheitsbedürfnisses vom Arzt immer mehr somatische Diagnostik einzufordern. Ihre Sorgen können sich auf den Arzt übertragen, indem er befürchtet, körperliche Einflussfaktoren zu übersehen. Dadurch besteht nicht nur die Gefahr, dass Diagnostik veranlasst wird, die voraussehbar ohne Relevanz ist, sondern auch dass der Patient in seinen eigenen Befürchtungen bestätigt wird.
In der therapeutischen Beziehung entwickelt sich beim Behandler oft die Furcht, den Patienten durch Konfrontation mit seinen dysfunktionalen Verhaltensmustern, v.a. Vermeidungs- und Schonhaltung sowie einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis, zu brüskieren. Häufig werden Angstpatienten dann auch zu lange arbeitsunfähig geschrieben. Auch ein Suchtpotenzial kann iatrogen durch die Verschreibung von Benzodiazepinen gefördert werden.
In der Beziehungsgestaltung kann es helfen, sich die typischen Vermeidungsschemata (Tab. 2) der Angstpatienten zu vergegenwärtigen und in der Interaktion mit dem Patienten zu berücksichtigen.
Literatur:
Behandlungsempfehlungen
• Bandelow B et al.: S3-Leitlinie, Behandlung von Angststörungen. 2014. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/051-028l_S3_Angstst%C3%B6rungen_2014-05-abgelaufen.pdf • Bandelow B et al.: World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) - Guidelines for the pharmacological treatment of anxiety, obsessive-compulsive and post-traumatic stress disorders - first revision. World J Biol Psychiatry 2008; 9: 248-312
https://www.wfsbp.org/fileadmin/user_upload/Treatment_Guidelines/Guidelines_Anxiety_revision.pdf
• DEGAM-Praxisempfehlung. Hausärztliche Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Angst. 2016.
https://www.degam.de/degam-praxisempfehlungen.html
Gesundheitsfragebogen zum diagnostischen Screening:
• Löwe et al.: Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D). Komplettversion und Kurzform. Testmappe mit Manual, Fragebögen, Schablonen. 2. Auflage. Pfizer, Karlsruhe 2002, OCLC 1054398788
Patientenliteratur:
• Craske MG, Barlow DH, Flückiger C: Meistern Sie Angst und Sorgen! – Generalisierte Angststörung bewältigen – ein Patientenmanual. Hogrefe, 2016 • Bandelow B: Das Angstbuch: woher Ängste kommen und wie man sie bekämpfen kann. Rowohlt, 2006
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