
Ein autismusspezifisches Training der sozialen Kompetenzen für Erwachsene
Autorin:
Dr. med. Alessia Schinardi
Oberärztin
Psychiatrisch-Psychotherapeutisches Ambulatorium IKP
CG Jung Ambulatorium
Zürich
E-Mail: alessia.schinardi@hin.ch
Während Online-Angebote für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sich mehren, fehlen sowohl Gruppentherapien als auch Freizeitaktivitäten. Der Zürcher Sozial Treff ist ein wirksames Originalkonzept, mit welchem ASS-Betroffene durch einen begleiteten Sprung in das Leben der «Normalen» nachhaltig soziale Kompetenzen erwerben und gleichzeitig Spass haben.
Keypoints
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Wirksame Gruppenangebote für Sozialtraining für Personen mit ASS fehlen.
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Personen mit ASS wollen sich im «real life», in einer von neurotypischen Personen beherrschten Welt, orientieren.
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Der Zürcher Sozial Treff garantiert einen guten Erfolg für Personen mit ASS und NT, nach dem Motto: Try again, fail again, fail better.
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Cave: Bisher ist eine Integration und keine Inklusion erfolgt.
Soziale Kompetenzen, häufig auch Soft Skills genannt, umfassen eine Vielzahl von Fertigkeiten, die für die soziale Interaktion notwendig sind. Soziale Kompetenzen sind kontextabhängig und nicht diagnosespezifisch. In Anlehnung an das Konzept des Spektrums (dimensional statt kategorial), das in der Psychiatrie nicht nur in Bezug auf Autismusstörungen vorherrscht, kann man vom Spektrum der sozialen Kompetenzen reden. In Anlehnung an die üblichen Klassifikationssysteme kann man dieses Spektrum der sozialen Kompetenzen in seinem jeweiligen Ausmass in Übermass versus Defizit oder in qualitativ schlecht versus ausreichend einteilen (Tab. 1).
Jeder Mensch ist sozial inkompetent, wenn er völlig neuen Umständen ausgesetzt ist. Sobald wir mit den Kompetenzen auf unserem Sozialniveau vertraut sind, fordert uns das Leben erneut heraus und wir müssen neue Sozialkompetenzen aufbauen. Bei ASS sind bekannterweise folgende Probleme vorhanden, die die soziale Interaktion beeinträchtigen können:
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Probleme der sozialen Kognition (Hineinversetzen, Inerpretion des Gesichtsausdrucks, soziale Handlungsschemata)
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schwache zentrale Kohärenz (Fokus auf Details, fehlende Berücksichtigung des spontanen sozialen Kontextes)
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Probleme der exekutiven Funktionen (Impulshemmung, Impulshandlung)
Das Mentalisieren (Theory of Mind) erlaubt neurotypischen Menschen ein unmittelbares Verstehen des Verhaltens anderer Personen durch implizites Zuschreiben von Gedanken, Wünschen, Gefühlen, Überzeugungen usw. Obwohl Autismus eine komplexe Auffälligkeit ist, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann, müssen diesbezüglich neben den Defiziten bei zwischenmenschlichen Skills auch die übrigen Besonderheiten, die individuell von unterschiedlicher Bedeutung sein können, wie Sprachauffälligkeiten, Körperpflege, sensorische Überempfindlichkeiten etc., berücksichtigt werden.
Die Liste der zwischenmenschlichen Skills ist lang und umfasst sowohl gesellschaftlich erwünschte, konstruktive Fertigkeiten, wie z.B. Sympathie zeigen, humorvoll sein, als auch Fertigkeiten, die sich in Bezug auf unangenehmere Aspekte des Lebens nützlich erweisen, wie verhandeln, Angriffe ignorieren etc.
Die Liste der sozialen Kompetenzen ist unendlich, umso mehr, wenn man die kulturellen Unterschiede verschiedener Bevölkerungsgruppen berücksichtigt. Die hergeleiteten Ziele eines sozialen Kompetenztrainings sind in der Konsequenz ebenfalls unzählig; man könnte sie in Bezug auf Verhaltensebene, kommunikative Ebene und emotionale Ebene unterteilen. Einige Prinzipien der autismusspezifischen Gruppentherapie gleichen denen allgemeiner Gruppentherapien, andere sind autismusspezifisch, wie z.B.: hochstrukturierter Rahmen, Einsatz von Visualisierungshilfen, Einbezug der Familie.
«Zürcher Sozial Treff 3x15’» –Konzept und Ablauf
Der Zürcher Sozial Treff 3x15’ ist eine monatliche Trainingsgruppe für Personen mit ASS, in der soziale Kompetenzen geübt werden. Menschen mit sonstigen Defiziten bei den sozialen Kompetenzen können ebenfalls davon profitieren.
Personen mit Defiziten bei sozialen Kompetenzen (Klienten genannt) reden in einem öffentlichen Lokal in Zweiersituationen mit Gesprächspartnern, die über gute soziale Kompetenzen verfügen (Freiwillige genannt). Diese Gespräche dauern jeweils 15 Minuten.
Nach 15 Minuten unterbricht die Leiterin die Gespräche und veranlasst den Wechsel der Gesprächspartner (nach Galimbertis Formel: 4 Runden = 4 Konversationen à 15 Minuten). Nach diesen Gesprächen bleibt bis zum Ende des Treffs genügend freie Zeit ohne Aufgabenstellung, um sich von der Anstrengung der Gespräche zu erholen und sich im lockeren Rahmen kennenzulernen.
An jedem Treff werden drei Gesprächsthemen schriftlich vorgeschlagen. Jeder Klient kann aber auch ein Thema selbst wählen, eine Aufgabe mit der Therapeutin vorbesprechen bzw. spontan Small Talk betreiben, wie es sich gerade ergibt.
Motto des Treffs: «No drugs, no alcohol, no test! Just talk and fun!»
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Die Gruppe soll sowohl bezüglich der Klienten als auch der Freiwilligen halboffen sein. Somit werden Situationen angestrebt, die realitätsnah sind (keine Stammtischgespräche!). Die Klienten sind entweder Patienten der Leiterin des Treffs oder ihr von Kollegen zugewiesene Klienten. Ein eigenständiges Anmelden ist ebenfalls möglich, jedoch keine unangemeldete Teilnahme an den Treffen!
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Für die Klienten sind mehrere Durchgänge zu empfehlen, bevor sie die sozialen Kompetenzen erlernt und so weit gefestigt haben, dass sie diese in ihr Alltagsleben übertragen können.
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Die Freiwilligen sind der Therapeutin vertraute Personen, die der Schweigepflicht unterstehen, wie Therapeuten oder Personen aus Berufsgruppen, die mit Autismus zu tun haben, beispielsweise Psychologiestudenten.
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Ein alkoholfreies Getränk wird allen Teilnehmern offeriert.
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Nach einer Stunde verabschieden sich die Freiwilligen von den Klienten (wird als Gruppentherapie verrechnet).
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Die Klienten dürfen im Lokal im «Klientenkränzchen» verweilen (fakultativer Teil). Es wird noch einmal ein alkoholfreies Getränk spendiert.
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Die Freiwilligen gehen mit der Leiterin in ein nahes Lokal zur Supervision und Intervision (fakultativer Ausklang). Auch hierbei werden Getränke spendiert.
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Entlohnung für die Freiwilligen: Eine kleine Entlohnung der Freiwilligen wird in Zukunft angestrebt, möglichst in Form von Credits. Im Moment beruht die Arbeit aber auf Freiwilligkeit.
Die Freiwilligen melden sich via Mail jeweils für die Treffs an, für welche sie Zeit haben. Eine Abmeldung ist nicht nötig (die Teilnahme ist nicht verpflichtend!). Das Vorgespräch der Kandidaten und die Gruppenzusammenstellung werden nach Cholemkery und Freitag an den Sozial Treff 3 x 5’ angepasst.
Bei erwachsenen Autisten, für die das Konzept des Sozial Treffs geeignet sind, beziehen sich die Defizite bei den kommunikativen Fertigkeiten eher nicht (mehr) auf Blickkontakt, Mimik, Gestik, Körperhaltung, Sprachmelodie (basale Fertigkeiten), sondern eher auf Themenmanagement (Beginn, Aufrechterhaltung, Beendigung von Gesprächen, Kontext, Tabuthemen), Dekodierung (was wird kommuniziert?), Kodierung (wie vermittle ich meine Botschaft, wie passe ich die Nachricht an den Kontext an?) etc. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen mit ASS, obwohl sie eine klare Meinung haben, oft Schwierigkeiten haben, diese zu vertreten.
Small Talk wird von ASS oft als eine Art Fremdsprache empfunden, die sie ausserhalb der Sprechstunde zu wenig üben können. Im Small Talk berichtet der Gesprächsinitiant etwas und gibt das Wort an sein Gegenüber weiter. Das Gegenüber nimmt Bezug auf eine oder mehrere Statements des Initianten und sagt etwas dazu, bevor er das Wort an den Initianten zurückgibt.
Neurotypische Personen leiten zu weiteren Themen über, ohne dass sie es merken. Autismus-Betroffene müssen dies erst lernen. Neurotypische Personen picken sich aus den Angaben des Gegenübers etwas heraus, was ihnen selber gerade gefällt bzw. was sie spontan interessiert, und plaudern weiter.
ASS-Betroffene sind oft verwirrt: Sie verstehen den Kern der Konversation nicht und stocken – gelähmt, unentschieden – oder zählen ihre eigenen Themen auf und vergessen dabei, ihrem Gesprächspartner Empathie zu zeigen.
Ergebnisse fünf Jahre nach der Gründung
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Alle Klienten und Freiwilligen haben sich wieder gemeldet.
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Alle Freiwilligen berichten von den stetigen Fortschritten der Klienten, die sie manchmal auf dem Weg zum Treff sehen und mit denen sie vor Beginn des Treffs zu sprechen beginnen.
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Die vorgeschlagenen Themen werden als «Icebreaker» wahrgenommen: Die Klienten freuen sich, dann sprechen sie aber über ganz andere Themen.
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Es besteht eine klare Geschlechterverteilung: Klienten sind mehrheitlich Männer, Freiwillige mehrheitlich Frauen.
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Die Mehrheit zieht als Termin den Freitagabend vor, sodass es ein «Open End» ins Wochenende geben kann.
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Gemäss den Filmsequenzen, die zum Sozial Treff gedreht wurden, ist klar eine Integration gelungen: Man kann die Zweiertische des Sozial Treffs von den anderen Tischen nicht unterscheiden.
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Die Klienten berichten einerseits, dass sie es manchmal schade finden, Konversationen nach 15 Minuten beenden zu müssen. Sie berichten andererseits aber auch über die emotionale Belastung nach einer solchen Performance.
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Die Freiwilligen sind beeindruckt und fasziniert davon, wie unterschiedlich die Klienten sind. Einige Freiwillige berichten, wie sie von den Emotionen, die sie empfunden haben, übermannt wurden. Den Klienten geht es genauso.
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Einige junge Klienten sprechen gerne über ihre Probleme, besonders mit Freiwilligen, die auch Autismus-Fachleute sind. Durch die sorgfältige Erklärung des Konzeptes, dass Freiwillige beim Small Talk bleiben und keine Therapie betreiben sollen, lässt sich das Problem der Ausnutzung der Freiwilligen vermeiden.
Was noch zu tun wäre
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Es fehlt eine Objektivierung der Daten, ein Prä/post-Messinstrument, das die klinischen Fortschritte bestätigen kann. Es fehlt generell ein wissenschaftliches Projekt, das den Verlauf monitorisiert.
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Die Liste der Lokale, in welchen der Sozial Treff stattfinden kann, ist zu klein: Die Chance, ein Lokal für 12–20 Leute zu finden, die freitags an Zweiertischen um 19.00 Uhr nur etwas trinken möchten, wenn auch nur für eine Stunde, ist in Zürich sehr begrenzt. Es fehlt zudem eine administrative Unterstützung, die das jeweils das Lokal reserviert.
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Unter den Klienten sind auch junge Personen mit Aspergersyndrom (zwischen 20 und 30 Jahren), jedoch ist kaum ein Freiwilliger jünger als 40.
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Der Umgang mit Konflikten ist nicht gelungen: Die Klienten weichen Konfrontationen und Provokationen aus.
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Galimbertis Formel kann man faktisch nicht anwenden: Es läuft alles anders als geplant.
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Die Sequenzen, in denen die Meetings des Sozial Treffs gefilmt wurden, zeigen unauffällige Tischgespräche, d.h. Integration, keine Inklusion. Es sind mehrheitlich schon gut kompetente Personen mit Asperger, die bisher am Sozial Treff teilgenommen haben. Die Autorin will aber nicht nur «Autisten only» nach Gilbert zum Sozial Treff einladen, sondern auch Betroffene mit schwererer Ausprägung inkludieren («Autisten plus»). So ein Treff ist ausserdem auch zwischen Personen mit unterschiedlichen Einschränkungen denkbar (zum Beispiel Klienten mit Demenz oder motorischen Problemen).
Der Schluss
Trotz des grossen Erfolgs und Interesses wurde das Konzept bedauerlicherweise weder nachgeahmt noch weitergeführt. Die Pandemie hat das Ende des Sozial Treffs mit herbeigeführt.
Literatur:
bei der Verfasserin
Danksagung:
Dr. med. Monika Fry, PhD Luca Galimberti
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