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Medikation in der Behandlung der Alkoholsucht – was gibt es Neues?
Jatros
Autor:
Dr. Wolfgang Ferdin
Anton-Proksch-Institut<br> Wien<br> E-Mail: wolfgang.ferdin@api.or.at
30
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13.12.2018
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<p class="article-intro">Prävalenz und Letalität der Alkoholsucht sind in Österreich unverändert hoch. Erfolgreich ist eine Behandlung meist nur dann, wenn sie durch dafür spezialisierte Einrichtungen durchgeführt wird. Die Entscheidung, ob sie stationär oder ambulant erfolgen soll, ist genauso relevant, wie die besten medikamentösen Optionen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans einzusetzen. Die S3-Leitlinie (aller diesbezüglichen Fachgesellschaften des deutschsprachigen Raumes) gibt hier wesentliche Orientierungshilfen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Zahl der Alkoholkranken in Österreich ist seit Jahren konstant hoch, der Anteil der Frauen hat aber zugenommen.</li> <li>Die statistische Lebensverkürzung durch Alkoholsucht beträgt bei Männern 17–18 Jahre, bei Frauen sogar 21–22 Jahre.</li> <li>Psychische Grunderkrankungen sind häufig. Deren integrierte/ gleichzeitige Behandlung ist essenziell für eine erfolgreiche Suchttherapie.</li> <li>In der Alkoholentzugsbehandlung hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen: klare Präferenz von Benzodiazepinen mit langer Halbwertszeit (Diazepam oder Nitrazepam).</li> <li>Naltrexon und Acamprosat sind weiterhin Mittel der Wahl in der medikamentösen Rezidivprophylaxe, Baclofen ist eine Option bei komorbider Angststörung („off-label“), Disulfiram ist nur in ganz bestimmten Spezialindikationen zu erwägen.</li> </ul> </div> <h2>Bedeutung der Alkoholsucht</h2> <p>Übermäßiger Alkoholkonsum und in letzter Konsequenz Alkoholsucht gehören zu den größten Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaft und unser Gesundheitssystem konfrontiert sind. Auf Basis wissenschaftlich ermittelter Datensätze sind geschätzte 350 000 Österreicher alkoholsüchtig, weitere 850 000 haben ein problematisches Konsummuster in einem potenziell gesundheitsschädigenden Ausmaß, das eine hohe Wahrscheinlichkeit mit sich bringt, in einer Sucht zu münden. <br />Diese Zahlen sind seit einigen Jahren konstant, der Anteil der Geschlechter hat sich aber verschoben. Immer mehr Frauen werden alkoholkrank. Sie trinken öfter als Männer im Verborgenen, werden schneller süchtig und zeigen eine höhere Empfindlichkeit gegenüber der schädigenden Wirkung von Alkohol. Dies zeigt sich auch in einem signifikanten Unterschied in der statistischen Reduktion der Lebenserwartung zu Ungunsten der Frauen.</p> <h2>„Burden of disease“</h2> <p>Gerhard Bühringer konnte in einer Publikation im Jahr 2000 zeigen, dass Alkoholsucht statistisch eine Verkürzung der Lebenserwartung um unglaubliche 20 Jahre für Frauen und 17 Jahre für Männer bewirkt. Seine Methode war die Auswertung der amtlichen Todesursachenstatistik Deutschlands. Im Jahr 2013 wurde eine Arbeit von Ulrich John und Hans- Jörg Rumpf publiziert, die im Ergebnis nichts Neues zeigte, aber interessanterweise durch eine gänzlich andere Methode diese erstaunlich hohen Zahlen reproduzierte. Ein randomisiertes Kollektiv in Norddeutschland wurde betrachtet, es wurden diagnostische Interviews durchgeführt und aus ca. 4000 Personen 153 Alkoholkranke ermittelt. 14 Jahre später wurden diese 153 Personen mit den anderen verglichen. Dabei kamen sie auf 22 Jahre Lebensverkürzung bei Frauen und 18 Jahre Lebensverkürzung bei Männern. Da nach dem Beginn der Studie bestimmt auch noch Personen in die Alkoholsucht gerutscht sind, ist die tatsächliche Verkürzung der Lebenszeit (und auch der gesunden Lebenszeit!) im Zusammenhang mit Alkoholsucht mindestens so ausgeprägt, wie durch die Studie untermauert wurde. Die Gründe für die erhöhte Letalität sind natürlich vielfältig und sie können direkt oder indirekt mit den Auswirkungen übermäßigen Alkoholkonsums auf den Menschen verbunden sein. Direkte Todesursachen sind nicht nur Intoxikationen („Komasaufen“ stellt diesbezüglich das Hauptproblem bei Jugendlichen dar) und letale Herzrhythmusstörungen oder Leberzirrhose sowie davon abgeleitete Komplikationen, sondern auch Unfälle, Stürze und Suizide unter Alkoholeinfluss sowie Entzugskomplikationen, wie Status epilepticus oder Delirium tremens.</p> <h2>Therapieziele der Suchtbehandlung</h2> <p>Therapieziele sind daher zunächst natürlich die Sicherung des Überlebens, des Weiteren die Behandlung von Folgeund Begleiterkrankungen, der Aufbau alkoholfreier Phasen (befristete oder dauerhafte Abstinenz), eine Verbesserung der psychosozialen Situation, Förderung der Krankheitseinsicht und Motivation zur Veränderung (Ermutigung zur Lebensneugestaltung) sowie die Verbesserung der Lebensqualität. <br />All das wird in spezialisierten Suchtkliniken wie dem Anton-Proksch-Institut in Wien-Kalksburg (Europas größter Suchtklinik) aus einer Hand angeboten. Die zentralen psychotherapeutischen Werkzeuge in der Suchttherapie sind wohl die Ermutigung zur Neugestaltung des Lebens ohne das vorher angewandte „Zaubermittel“ Alkohol. Das Leben von dem Moment an, da Alkohol nicht mehr funktional ein setzbar ist und immer mehr Schaden bewirkt, alternativ dazu attraktiv, freudvoll und schön zu gestalten ist Weg und Ziel des „Orpheus- Programms“, das von Michael Musalek und seiner Arbeitsgruppe im Anton-Proksch-Institut entwickelt wurde.</p> <h2>Die Rolle der Medikation</h2> <p>Da die meisten Menschen, die sich in stationäre Behandlung begeben, psychische Grunderkrankungen aufweisen (ca. 70 % der Frauen und ca. 50 % der Männer), ist die professionelle und erfolgreiche psychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlung dieser psy chischen Komorbiditäten bei Sucht eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Suchtbehandlung. Viele Studien zeigen, dass eine standardisierte Suchtbehandlung ohne gleichzeitige (kombinierte bzw. integrierte) Behandlung der psychischen Grunderkrankungen in einem unnötig hohen Ausmaß erfolglos bzw. erschreckend wenig nachhaltig ist. Die Behandlung psychischer Erkrankungen, wie Depression, Angststörung oder Traumafolgestörung, „ersparen“ aber nicht die Suchtbehandlung, wie mancherorts vermutet wird. Die Sucht ist zwar oft eine sekundäre Erkrankung (nach Schuckit), also auf Basis einer psychischen Grunderkrankung entstanden (siehe Selbstmedikationshypothese nach Khantzian), hat aber eine eigene Krankheitsdynamik. Das Suchtgedächtnis (nach Böning) ist das „neurobiologische Substrat“ der Sucht als eigener Krankheitsentität. <br />Psychopharmaka haben also eine ganz wichtige Rolle in der Behandlung der nicht selten bestehenden psychischen Grunderkrankungen im Rahmen einer umfassenden Suchtbehandlung. In diesem Artikel kann ich diesbezüglich nur auf die Leitlinien der verschiedenen psychischen Erkrankungen hinweisen, weil eine eingehendere Beschäftigung damit den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Ich konzentriere mich daher auf zwei Bereiche: 1. Update der Alkoholentzugsbehandlung, 2. Update der Alkoholrückfallsprophylaktika („Anti-Craving-Mittel“).</p> <h2>Alkoholentzugbehandlung: ambulant oder stationär?</h2> <p>Unter Einbeziehung praktisch aller im Suchtbehandlungsbereich namhaft tätigen Forschungs- und Behandlungsinstitutionen im deutschsprachigen Raum wurde 2016 die sogenannte „S3-Leitlinie/Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ publiziert. Aus dieser Arbeit ist auch die Indikation für eine ambulante versus stationäre Entzugsbehandlung hier im Artikel abgeleitet. <br />Als Indikation für eine stationäre Entzugsbehandlung gilt das Fehlschlagen eines vorhergegangenen ambulanten Entzugsversuchs. Ein Weitermachen würde früher oder später wohl in einer Mischabhängigkeit von Alkohol und Benzodiazepinen münden. Ein weiterer Grund ist das Vorliegen einer Epilepsie, da im Alkoholentzug ein deutlich erhöhtes Anfallsrisiko besteht und ein Status epilepticus ein nicht zu unterschätzendes tödliches Risiko darstellt.<br /> Eine weitere Indikation für eine stationäre Entzugsbehandlung ist eine psychiatrische Begleiterkrankung (inklusive zusätzlicher Süchte, wie Opiat- oder Benzodiazepinsucht), nicht zuletzt die häufigste psychische Komorbidität bei Alkoholsucht, nämlich die Depression, die auch Suizidalität einschließen kann, zumal Alkoholisierung die Schwelle zur Umsetzung von Suizidideen gefährlich senkt! Schwere somatische Begleiterkrankungen und eine große Trinkmenge, die auch ein großes Risiko für starke Entzugssymptomatik darstellt, sprechen ebenfalls für ein stationäres Setting. Die Entwicklung eines Delirium tremens mit seiner erschreckend hohen Letalität und das Auftreten eines epileptischen Anfalls (mit hoher Verletzungsgefahr bei Stürzen) oder gar eines oftmals tödlichen Status epilepticus sollen in erster Linie durch eine geeignete medikamentöse Entzugsbehandlung verhindert werden. Zu guter Letzt empfiehlt die S3-Leitlinie dann eine stationäre Behandlung, wenn im bestehenden sozialen Umfeld nicht zu erwarten ist, dass die Entzugsbehandlung ohne schweren Rückfall in den ersten Tagen erfolgen wird. Wenn das Umfeld eher Ressource als Stressor ist, dann kann bei als einfach erwarteten Entzügen ohne große psychische und körperliche Begleiterkrankungen ein ambulanter Entzugsversuch unternommen werden.</p> <h2>Neurobiologische Grundlagen und Klinik</h2> <p>Es gibt keinen „Alkoholrezeptor“, Alkohol wirkt als sogenannte „dirty drug“ an zahlreichen Stellen auf vielfältige Weise im Gehirn. Dabei sollte für ein besseres Verständnis der komplexen Zusammenhänge zwischen den primären spezifischen molekularen Wirkungen im ZNS und den sekundären neurochemischen Alterationen, insbesondere im mesokortikolimbischen System, unterschieden werden. Primär wirkt Alkohol hemmend auf den exzitatorischen N-Methyl-DAspartat(NMDA)-Glutamat-Rezeptor und fördernd auf den inhibitorischen -Aminobuttersäure- A(GABAA)-Rezeptor. Bereits bei niedrigen Blutkonzentrationen zeigen sich dabei erste psychotrope Effekte. Es ist anzunehmen, dass diese primären Angriffsstellen die subjektive Alkoholwirkung und die Intoxikation vermitteln. Durch den Wegfall dieser Alkoholwirkung, die insgesamt zentral dämpfend ist, kommt es im Entzugssyndrom zu zentraler und vegetativer Erregung mit den bekannten Symptomen Tremor, Schwitzen, Blutdruckerhöhung, Tachykardie, Muskelkrämpfe, Magenbeschwerden, Übelkeit, psychomotorische Unruhe, Schlafstörung, Reizbarkeit, Affektlabilität und Konzentrationsstörung. Als Komplikationen gelten epileptische Anfälle, Deliren und Herzrhythmusstörungen.</p> <h2>Update der akuten Alkoholentzugbehandlung</h2> <p><strong>Paradigmenwechsel: Präferenz für Benzodiazepine mit langer Halbwertszeit</strong><br /> Benzodiazepine sind als GABAA-Rezeptoragonisten unbestritten die 1. Wahl in der Alkoholentzugsbehandlung, weil sie sowohl die Komplikation eines epileptischen Anfalls als auch die eines Delirs am besten verhindern können. Vor ein paar Jahren wurde der Einsatz kurz wirksamer Benzodiazepine aus Sorge vor einer Kumulation und letzthin also vor einer Übersedierung mit Atemlähmung etc. empfohlen. Falk Kiefer, der Leiter der im Suchtbereich maßgeblichen Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit der Universität Heidelberg in Mannheim, betonte 2016 am DGPPN-Kongress in Berlin ebenso die Präferenz für Diazepam als Benzodiazepin mit langer Halbwertszeit wie das Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie von Otto Benkert und Hanns Hippius in der rezenten 11. Auflage (2017). <br />Diesen Paradigmenwechsel in der Auswahl des bestgeeigneten Benzodiazepins können auch wir vom Anton-Proksch- Institut voll unterstützen. Grund dafür ist das bessere Outcome in der Verhinderung der genannten Komplikationen durch den ausgeglicheneren Plasmaspiegel („steady state“) infolge der längeren Halbwertszeit (Tab. 1). Oxazepam, der bisherige Favorit, hat eine Halbwertszeit von 4–15 Stunden. Das bedeutet bei den schnelleren Metabolisierern, dass sie im Bereich der 4 Stunden liegen, und das wiederum erklärt die klinischen Schwankungen zwischen Sedierung und Entzugssymptomatik zwischen den Einnahmezeitpunkten. Die Reduktion von Einnahmezeitpunkten führt bei dieser Substanz auch zu einer deutlich erhöhten Gefahr, (prä-) delirant zu werden oder einen Entzugsanfall zu erleiden, was bei Diazepam viel seltener beobachtet wird. Das wichtigste Argument scheint aber ein pragmatisches zu sein: Wenn ein Alkoholentzug mittels täglicher Visitationen gesteuert wird (stationär), braucht man sich nicht vor einer problematischen Kumulation von Diazepam oder Nitrazepam fürchten. Die Benzodiazepine haben ihren Siegeszug gerade wegen ihrer großen therapeutischen Breite antreten können. Deshalb sehen wir seit Beginn der Benzodiazepinära praktisch keine „erfolgreichen“ Suizide damit (außer im Rahmen von Mischintoxikationen), ganz im Gegensatz zur vorhergegangenen Barbituratära. Außerdem: Für eine problematische Atemlähmung würde theoretisch auch eine massive Überdosierung eines Benzodiazepins mit individueller Halbwertszeit von 4 Stunden genügen. Die Antagonisierung funktioniert genauso gut mittels Flumazenil, egal ob es sich um eine massive Diazepamüberdosierung handelt oder eine massive Oxazepamüberdosierung. Flumazenil haben wir bei unserer großen Patientenzahl in Europas größter Suchtklinik praktisch noch nie einsetzen müssen. Die meisten Todesfälle durch Atemlähmung gibt es übrigens durch Alcover- Sirup (GHB/Gamma-Hydroxy-Buttersäure, „K.o.-Tropfen“, „liquid ecstasy“) mit der unschlagbar kurzen Halbwertszeit von 20 bis 60 Minuten. Für diese Substanz gibt es auch kein Antidot. Laut S3- Leitlinie ist diese Substanz wenig überraschend weder für die Alkoholentzugsbehandlung noch als Rezidivprophylaktikum geeignet. <br />Wegen der hepatischen Metabolisierung von Diazepam kann bei starker Leberfunktionsstörung auf ein nur hepatisch konjugiertes und renal ausgeschiedenes Benzodiazepin zurückgegriffen werden. Wegen der ebenfalls relativ langen Halbwertszeit wäre dabei Nitrazepam der Vorzug zu geben. Eine starke Leberfunktionsstörung ist nicht bei hohen Leberfunktionsparametern, wie GGT, GOT und GPT, gegeben, sondern bei schwerer Leberzirrhose mit Ikterus, bei reduzierter Cholinesterase oder bei Ammoniakerhöhung. Diazepam ist nicht hepatotoxisch, verschlechtert also nicht die Leberwerte, aber es könnte zu einer Kumulation von Diazepam im Blut und damit zu einer Übersedierung kommen. Im staionären Setting mit täglichen Visiten ist diese Problematik zu vernachlässigen. Im ambulanten Setting mit leichten und unkomplizierten Entzügen ist ohnedies vorsichtiger zu dosieren und Oxazepam ist hier eine gute Option. Ein großer Vorteil der Behandlung mit lang wirksamen Benzodiazepinen wie Diazepam und Nitrazepam ist die deutlich bessere und stabilere Befindlichkeit der Behandelten während des Entzuges, die sich vor allem bei psychisch komorbiden Patienten in der Praxis als essenziell erweist. Die Entzugsbehandlung unter Diazepam und Nitrazepam wird besser toleriert als unter Oxazepam, führt zu weniger Abbrüchen und weniger Komplikationen. Bei gleichzeitiger Benzodiazepinabhängigkeit bzw. bei Benzodiazepinmissbrauch in relevantem Ausmaß ist mit Benzodiazepinen mit kurzer Halbwertszeit wie Oxazepam überhaupt ein deutlich schlechterer und oft prolongierter Verlauf der Entzugsbehandlung zu verzeichnen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_tab1.jpg" alt="" width="1418" height="965" /></p> <p><strong>Ein neues Antiepileptikum (fakultativer Einsatz) </strong><br />Da Benzodiazepine als obligatorische First-Line-Behandlung ohnedies gut antiepileptisch wirksam sind, ist eine zusätzliche („add-on“) Gabe von Antiepileptika nur im Falle einer bestehenden Epilepsie oder nach anamnestisch erhebbaren entzugsepileptischen Anfällen, die trotz bestehender medikamentöser Entzugsbehandlung mit Benzodiazepinen aufgetreten sind, zu erwägen. Lange Zeit galten Carbamazepin und Valproinsäure hierfür als klassische Kandidaten. Dadurch, dass mittlerweile Medikamenteninteraktionen mehr Beachtung geschenkt wird, wird die Rolle des CYP-Induktors Carbamazepin mit Medikamentenspiegelerniedrigung vieler Substrate zusehends kritisch betrachtet. Die Nebenwirkungen, wie Schwindel, Nystagmus, Diplopie, Ataxie, Tremor, Absencen und Hyponatriämie, können auch als suboptimal während einer Entzugsbehandlung gewertet werden. Deutlich besser schneidet der aktive Metabolit von Carbamazepin, Oxcarbazepin, ab, bis auf die höhere Inzidenz von Hyponatriämie (im Vergleich zu Carbamazepin), was zumindest im stationären Setting kein großes Problem darstellt. Regelmäßige Elektrolytkontrollen sind dabei dringend indiziert. Bei einer Entzugsbehandlung mit erhöhtem Risiko für epileptische Anfälle ist aber ohnehin ein stationäres Setting zu wählen. Valproinsäure ist ein CYP-Inhibitor und führt bei vielen Substraten zu einer Spiegelerhöhung, manchmal mit delirogener Wirkung. Valproat wird nicht nur hepatisch metabolisiert, sondern ist auch (dosisabhängig) hepatotoxisch, die Hauptnebenwirkung ist Tremor. Für Frauen im gebärfähigen Alter wurde in Großbritannien (NICE-Guideline 2015) der Verzicht auf dieses Medikament in allen Indikationen empfohlen, primär wegen seiner Teratogenität. Gewichtszunahme, Haarausfall und Zystenbildung im Geschlechtstrakt (v. a. PCO) als Nebenwirkungen sprechen ebenfalls dagegen, es unbedingt und ohne Not Frauen zu verordnen, zumal es Alternativen gibt. <br />Seit einiger Zeit scheint in der Neurologie nämlich ein neuer Shootingstar am Epilepsie-Himmel zu funkeln: Levetiracetam. Die Frage war nun, ob dieses Antiepileptikum nicht auch in der Indikation als Add-on in der Alkoholentzugsbehandlung bei besonderem Anfallsrisiko eine relevante Rolle spielen könnte. Levetiracetam kann! Es ist ein gut wirksames Breitbandantiepileptikum, das renal ausgeschieden wird, keine Wechselwirkungen im CYP-System zeigt und wenig bis gar keine relevanten Nebenwirkungen hat.</p> <p><strong>Vitamin B1 (obligatorisch)</strong> <br />Im Gegensatz zur Gabe von Antiepileptika ist eine Supplementierung mit Thiamin (Vitamin B1) zur Prophylaxe einer Korsakow-Wernicke-Enzephalopathie (klinische Trias: Ataxie, Verwirrtheit, Augenmuskelstörungen) obligatorisch für die Alkoholentzugsbehandlung. Wegen Thiamin-Resorptionsproblemen bei atrophischer Gastritis, die bei Alkoholkranken nicht selten besteht, ist eine hohe Dosis bei peroraler Gabe sinnvoll (400– 600 mg Tagesdosis) und auch eine parenterale Gabe ist zu erwägen. Peter Fischer wies (in einem „State of the art“-Artikel mit dem Titel „Alkoholkrankheit und Demenz“, 2015) auf eine Untersuchung hin, wonach Thiaminmangel mindestens so relevant für die Entstehung alkoholbedingter Demenzen sei wie die neurotoxische Alkoholwirkung selbst. Aus diesem Grund wäre auch eine präventive Gabe in kleinerer Dosierung im Anschluss an die höher dosierte Korsakow-Prophylaxe empfehlenswert. Üblicherweise sind Vitamin- B-Komplex-Gaben (B1, B6 und B12) im Gebrauch, und das nicht zu Unrecht. Vitamin B6 wirkt zusätzlich regenerativ bei Polyneuropathie und Vitamin B12 wirkt bei megalozytärer Anämie (MCV-Erhöhung!) durch Ausgleich des entsprechenden Mangels. Abschließend und ergänzend wäre noch zu erwähnen, dass Neuroleptika (Antipsychotika) nicht in der Alkoholentzugsbehandlung verwendet werden, außer bei Auftreten eines Prädelirs oder eines voll entwickelten Delirium tremens. Mittel der Wahl wäre niedrig dosiertes Haloperidol oder niedrig dosiertes Risperidon.</p> <h2>Update der Rezidivprophylaktika (Postakutphase)</h2> <p><strong>Neurobiologische Grundlagen</strong> <br />Neben der bereits erwähnten primär zentral dämpfenden Alkoholwirkung durch Hemmung des exzitatorischen (NMDA) Glutamatrezeptors und der fördernden Wirkung auf den inhibitorischen γ-Aminobuttersäure-A(GABAA)-Rezeptor sind auch sekundäre Alkoholwirkungen auf eine Vielzahl von Neurotransmitter- und Neuropeptidsystemen bekannt („dirty drug“), die Belohnungsgefühle und euphorische Verstärkereffekte mit sich bringen. Eine Aktivierung des Dopaminsystems führt zu erhöhter Belohnungserwartung auf Basis der bisherigen Erfahrungswelt. Schließt diese Erfahrungswelt auch sehr positive Alkoholerfahrungen (-wirkungen) mit ein, kann Craving nach Alkohol entstehen („Incentive salience“-Prozess). Dopaminpeaks machen nicht zufrieden, sondern Lust auf mehr und immer mehr. Wie in der Manie, die auch euphorisch sein kann, lizitiert sich dieses System stets hinauf. Frühere Versuche, mit antidopaminergen Substanzen die Suchtdynamik zu bremsen, zeigten bislang stets ein schlechtes Outcome. Man müsste einen Dopaminblocker wohl nach dem ersten Glas Alkohol einnehmen, sonst führt er bei den meisten Menschen nur zu einer Antriebsverarmung, zu schlechter Befindlichkeit und einem depressionsähnlichen Zustand (Dopaminmangelsyndrom), das den Alkoholsüchtigen erst recht zum Alkoholkonsum verleitet.</p> <p><strong>Naltrexon</strong> <br />Die hedonistischen Alkoholeffekte werden von den bereits erwähnten Endorphinen und Enkephalinen vermittelt. Diese führen an den entsprechenden Opioidrezeptoren zu einem selbstzufriedenen Belohnungsgefühl. Naltrexon (Tab. 2) blockiert zwar diese Opioidrezeptoren, was manche Alkoholkranke als durchaus negativ (bremsend, ermattend, depressiogen) empfinden, andere hingegen nicht. Zusätzlich blockiert es aber auch die von Alkohol induzierte Dopa minausschüttung und führt damit zu einer Unterbrechung des Aufschaukelns dieser oft beobachtbaren niemals zu sättigenden Belohnungserwartung. So stellt man sich die Wirkung bezüglich Trinkmengenreduktion bei der entsprechenden Zielgruppe (problematischer Alkoholkonsum) vor („Cut-down“- Trinken, „harm reduction“). Der gleiche Mechanismus soll auch zur Drosselung von sogenanntem „Reward-Craving“ führen, das vor allem jene berichten, die eher temperamentvoll bzw. zyklothym oder als bipolar diagnostiziert sind. Es darf vermutet werden, dass bei diesen Personen der basale Dopamin- und Endorphinspiegel ohnehin höher ist, wodurch die Reduktion durch Naltrexon nicht negativ ins Gewicht fällt, sondern aus klinischer Sicht sogar psychisch stabilisierende Eigenschaften zu besitzen scheint. Die reduzierte Belohnungserwartung in Bezug auf im Suchtgedächtnis gespeicherte Trigger reduziert bei mindestens 25 % der Betroffenen auch die Rückfallswahrscheinlichkeit und noch deutlich stärker die Schwere von Rückfällen. <br />Aus den Wirkmechanismen lässt sich ableiten, für wen dieses Mittel nicht 1. Wahl ist. Keinesfalls sollte es bei Opiatsubstituierten oder Opiatanalgesierten verwendet werden. Falls es aus Versehen passiert, kommt es zu perakuten Opiatentzügen, die nicht selten eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich machen. Menschen mit jahrzehntelangem Alkoholkonsum in höheren Mengen imponieren oft affektarm, vermutlich aufgrund einer Opiatrezeptor-Downregulation. Eine zusätzliche Opiatrezeptorblockade durch Naltrexon kann sich bei ihnen kontraproduktiv auswirken. Auch bei schwerer Leberfunktionsstörung besteht übrigens eine Indikationseinschränkung von Naltrexon.</p> <p><strong>Acamprosat</strong> <br />Der Wirkmechanismus von Acamprosat (Tab. 2) ist noch immer nicht vollständig verstanden, aber es gibt Hinweise, dass es modulierend (eher antagonistisch) auf das glutamaterge System und hier besonders auf den NMDA-Rezeptor einwirkt. Da das glutamaterge System eher Exzitation vermittelt und Acamprosat eventuell über dessen Blockade seine rückfallsprophylaktische Wirkung entfaltet, die in Studien eindeutig nachgewiesen wurde, soll es besonders gegen das sogenannte „Relief- Craving“ erfolgreich sein. Bei dieser Form des Suchtdruckes ist die Entspannung der gewünschte und gesuchte Effekt durch Alkoholmissbrauch. Gut 20 % zeigen mit Acamprosat eine deutlich reduzierte Rückfallswahrscheinlichkeit. Laut S3-Leitlinie besteht jedenfalls keine besondere Empfehlungslage bei bestimmten psychischen Komorbiditäten, keine beruhigende, keine spannungslösende, aber auch keine depressiogene Wirkung. Hauptnebenwirkungen sind Diarrhö und allgemein gastrointestinale Symptome. <br />Nachteil ist die kurze Halbwertszeit als chemisches Salz, was eine Einnahme dreimal täglich erfordert. Diese Tatsache macht es im Vergleich etwas unattraktiver und führt zu Compliance-Problemen. Wenn Naltrexon nicht vertragen wird oder aufgrund einer schweren Leberfunktionseinschränkung oder eines jahrzehntelangen sehr massiven Alkoholkonsums (s. o.) eine relative Kontraindikation dagegen besteht, wäre aktuell Acamprosat zu etab lieren.</p> <p><strong>Baclofen: erste Wahl oder Finger weg?</strong> <br />Acamprosat war ziemlich zeitgleich mit Naltrexon ab Mitte der 1990er-Jahre Treiber der Idee einer medikamentösen Rezidivprophylaxe durch eine Anti-Craving- Wirkung. Bis dahin gab es nur das „Alkohol- Aversivum“ Disufiram, das durch Hemmung der Acetaldehyddehydrogenase zu einer Kumulation des giftigen Acetaldehyds führt und damit bei Alkoholkonsum die sogenannte Alkohol-Disulfiram-Reaktion auslöst. Dabei kommt es zu Flush- Symptomatik, Kollapszuständen mit Tachykardie, Übelkeit, Erbrechen, Dyspnoe, Bewusstseinsstörungen, schweren Kopfschmerzen, epileptischen Anfällen und auch gehäuft Herzversagen durch Arrhythmien oder Infarkte. Das in Deutschland gar nicht mehr zugelassene Mittel (Todesfälle) hatte in den 1950er- und 1960er-Jahren noch eine Euphorie als „Heilmittel gegen Alkoholismus“ ausgelöst, die sich als unbegründet herausgestellt hatte. Heute wird es nur in sehr eingeschränkter Indikationsstellung und im Rahmen eines speziellen ambulanten Gesamtbehandlungsplanes verordnet. <br />Das Buch „Das Ende meiner Sucht“ des mittlerweile verstorbenen Internisten Olivier Ameisen führte seit seiner Veröffentlichung 2008 zu einer Renaissance des alten antispastischen Medikamentes Baclofen (Tab. 2) und zumindest in Frankreich zu einer Euphorie bezüglich der Entdeckung eines neuen „Heilmittels“ gegen die Alkoholsucht. Ameisen beschreibt darin, wie er ab 1997 durch seine Alkoholsucht arbeitsunfähig geworden war und sich fortan dem Studium und der Therapie seiner Sucht verschrieben hatte. Er habe Studien zu medikamentösen Behandlungen der Sucht recherchiert und sei auf zwei Studien gestoßen, die sein Interesse auch in Richtung Baclofen lenkten. Mit großem Forschereifer und dem innigen Wunsch, möglicherweise sich und andere heilen zu können, habe er schließlich Baclofen in hoher Dosierung als Selbstmedikation genommen und auch gut vertragen. Dass er damit Erfolg hatte, könnte aber auch dem innigen Wunsch geschuldet gewesen sein, als durch die Alkoholsucht gescheiterter Arzt zum Retter der gesamten alkoholkranken Menschheit zu werden. Die Diskrepanz zwischen den euphorischen Internet-Bloggern und dem kühl-reservierten suchtmedizinischen Establishment, das seit Jahren auf das Fehlen von qualitativ hochwertigen Studien hinweist, war und ist immer noch ziemlich groß. In der S3- Leitlinie (deutschsprachiger Raum) findet sich Baclofen noch gar nicht, in Frankreich ist es Standard und oft 1. Wahl. Es besteht ein „Off-label“-Status, über den auch explizit aufgeklärt werden soll, und damit ist es in der Hierarchie mit den beiden anderen Medikamenten in dieser Indikationsstellung wohl (noch?) das Schlusslicht, also ein Mittel der 3. Wahl. <br />Baclofen ist übrigens ein GABAB-Rezeptoragonist, der anders als GABAA-Rezeptoragonisten (Benzodiazepine) nicht zu Toleranzentwicklung und nicht zu Suchtproblematik führt. Von seiner Verwendung als Antispastikum ist bekannt, dass der Einsatz in niedrigen Dosierungen keine zentrale Wirkung hat. Allerdings erkennt man an den beim Aufdosieren limitierenden Nebenwirkungen, nämlich Müdigkeit, Benommenheit, Kopfschmerzen und Schwindel, dass die Substanz bei mittleren und höheren Dosierungen sehr wohl die Blut-Hirn-Schranke zu passieren vermag. Die bisherigen Studien zeigen zum Teil negative Ergebnisse, wenn die verwendeten Dosierungen sehr niedrig sind (< 30 mg/d) oder wenn nicht eine Angststörung als psychische Komorbidität vorliegt. Diese Komponente sollte laut aktueller Studienlage am ehesten zur Entscheidung für einen „off-label use“ von Baclofen in individueller Dosierung knapp bis zum Auftreten der entsprechenden Nebenwirkungen führen. Hier zeigen sich auch tatsächlich relevante Effekte dieses Medikamentes als „game changer“ bei der bisherigen Alkoholsucht entwicklung. Ob es in dieser Indikation einmal 1. Wahl sein wird, werden noch weitere Studien zeigen müssen. Als Mittel der 2. Wahl bei Relief- Craving oder nach jahrzehntelang hoher Trinkmenge und/oder schwerer Leberfunktionsstörung (renale Ausscheidung) kann es jedenfalls jetzt schon gerechtfertigterweise etabliert werden.</p> <p><strong>Bedeutung der Rezidivprophylaktika</strong> <br />Angesichts des großen „burden of disease“ der Alkoholsucht und der schwachen Daten bezüglich nachhaltiger Stabilität nach Alkoholentzugsbehandlungen ohne eine entsprechende Postakutbehandlung in den unterschiedlichsten Settings (sta tionär, tagesklinisch oder ambulant) verwundert es nicht, dass in der S3-Leitlinie den „motivationalen Interventionen“ im Sinne einer kontinuierlichen suchttherapeutischen Nachbetreuung ein sehr hoher Empfehlungsgrad zugeordnet wird. Die Verordnung von Rezidivprophylaktika in der Postakutphase erhielt ebenfalls zu Recht das Prädikat „hoher Empfehlungsgrad“. Jede Unterstützung beim Ablegen der Bürde der Sucht und jede Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, ein besseres, schöneres und gesünderes Leben ohne Alkohol zu ermöglichen, muss uns recht und billig sein. <br />Im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans kann aus meiner Sicht die tägliche Einnahme eines Medikamentes gegen die Sucht erstens eine tägliche Erinnerung daran sein, dass es auch an diesem Tag wieder gilt, den Weg in die Suchtfreiheit weiterzugehen, und zweitens mithilfe des Verumeffekts (belegt in randomisierten, doppelblinden klinischen Studien) und des Placeboeffekts (oft unterschätzter tatsächlicher Effekt) zu einem entscheidenden Verbündeten gegen die Abhängigkeitserkrankung werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_tab2.jpg" alt="" width="1418" height="2400" /></p></p>
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<p>beim Verfasser</p>
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